Kopf
Das Oberlandesgericht Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen hat durch den Senatspräsidenten Dr. Bott (Vorsitz), die Richterin Dr. Kraschowetz-Kandolf und den Richter Dr. Deu sowie die fachkundigen Laienrichter Färber (Arbeitgeber) und Koller (Arbeitnehmer) als weitere Senatsmitglieder in der Sozialrechtssache der klagenden Partei *****, vertreten durch den Verfahrenshilfevertreter Dr.*****, Rechtsanwalt in *****, wider die beklagte Partei *****, Landesstelle *****, im Berufungsverfahren nicht vertreten, wegen Waisenpension, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 9.Mai 2018, 38 Cgs 15/17i-33, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Ein Kostenersatz findet nicht statt.
Die ordentliche Revision ist nicht nach § 502 Abs 1 ZPO zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 29.Juni 1964 geborene Klägerin ist die Tochter des am 29.August 2011 verstorbenen (und bei der Beklagten versichert gewesenen)*****. Sie leidet neben einem behandelbaren Carpaltunnelsyndrom und einem Vertigo insbesondere an einer Schizophrenie; eine regelmäßige Erwerbstätigkeit kann ihr derzeit nicht zugemutet werden.
„Die Arbeitsunfähigkeit ist auf Grund der vorliegenden Befundlage im September 1993 eingetreten.
Am 18. Geburtstag der Klägerin, somit am 29.Juni 1982, war die psychische Erkrankung der Klägerin noch nicht manifest, diese trat nach den vorliegenden Befunden erst ab 1984 auf und war die Klägerin auch, unterbrochen durch mehrere Krankenstände, vom 6.Jänner 1986 bis 30.Juni 1992 in einer Textilfabrik beschäftigt.
Zum 18. Geburtstag am 29.Juni 1982 war der Klägerin folgendes Leistungskalkül möglich:
Leichte Arbeiten und Hebearbeiten ganztägig sowie mittelschwere Arbeiten und Hebearbeiten bis zu einem Drittel eines Arbeitstages im Sitzen, Stehen und Gehen.
Arbeiten an exponierten Stellen schieden aus, Steighilfen konnten verwendet werden.
Die Fingergeschicklichkeit und der Tastsinn waren normal.
Der Klägerin waren Arbeiten entsprechend einem einfachen, geistigen Anforderungsprofil zumutbar.
Die Durchsetzungsfähigkeit und die Kontaktfähigkeit waren durchschnittlich.
Akkord- und Fließbandarbeiten schieden aus, ebenso Nachtschichtarbeit, ansonsten war Schichtarbeit möglich.
Einem forcierten Arbeitstempo war die Klägerin nicht gewachsen.
Es bestand Anweisbarkeit und Anlernbarkeit.“
Die Klägerin hat eine Mittelschule als Kleidermacherin abgeschlossen, war dann einige Jahre ohne Beschäftigung, arbeitete aber von 1986 bis 1992 in einer Textilfabrik in Travnik.
In einem Befund vom 12.Juli 2017 wurde die Diagnose Schizophrenie bestätigt.
„1982 war hingegen die psychische Erkrankung noch nicht erhebbar. …
Es kann möglich sein, dass die Klägerin schon in der Pubertät Beschwerden hatte, diese waren aber offensichtlich nicht so ausgeprägt, dass keinerlei Beschäftigungsmöglichkeit bestand und wurde ja auch in diesen Jahren eine Berufsausbildung abgeschlossen. Am 11.Juni 1982 hat die Klägerin laut Abschlussprüfungszeugnis mit genügendem Erfolg den Beruf des Schneiders und Konfektionärs erlangt. Eine Arbeitsunfähigkeit der Klägerin zum 29.Juni 1982 lag nicht vor.“
Mit Bescheid vom 1.Juni 2016 lehnte die Beklagte einen Antrag der Klägerin vom 23.Februar 2015 auf Gewährung der Waisenpension über das 18. Lebensjahr nach dem Verstorbenen ***** mit der Begründung ab, dass eine Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Bestimmung des § 252 Abs 2 ASVG nicht vorliege.
Dagegen richtet sich das als Klage aufzufassende Schreiben der von ihrem Bruder als Sachwalter vertretenen Klägerin mit der Begründung, dass sie nicht fähig sei, für sich selbst zu sorgen.
Die Beklagte bestreitet mit dem Vorbringen, dass die Klägerin bereits am 29.Juni 1982 das 18. Lebensjahr vollendet habe und Beschwerden erstmals 1984, das heißt im 20. Lebensjahr, aufgetreten seien. Wenn im Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit die Kindeseigenschaft im Sinne des § 252 Abs 1 Z 1 ASGG nicht mehr gegeben gewesen sei, so könne diese auch nicht mehr nach § 252 Abs 2 Z 2 (seit 1.6.2012: Z 3) ASVG aufleben.
Das Erstgericht trifft die eingangs zusammenfasst wiedergegebenen Feststellungen, die hinsichtlich der wortwörtlich und kursiv dargestellten Passagen im Rechtsmittelverfahren noch strittig sind und gelangt davon ausgehend zu einer Klagsabweisung.
Rechtlich führt es aus, dass die Klägerin das 18. Lebensjahr am 29.Juni 1982 vollendet habe und für den Anspruch auf Waisenpension § 252 Abs 2 ASVG anzuwenden sei. Demnach bestehe die Kindeseigenschaft auch nach der Vollendung des 18. Lebensjahres weiter, wenn und solange das Kind seit der Vollendung des 18. Lebensjahres oder seit dem Ablauf des in Z 1 oder Z 2 genannten Zeitraums infolge Krankheit oder Gebrechen erwerbsunfähig sei (Z 3).
Eine Erwerbsunfähigkeit habe zum 18. Geburtstag nicht vorgelegen, sie sei erst später eingetreten. Damit sei die Kindeseigenschaft nach Vollendung des 18. Lebensjahres nicht mehr gegeben gewesen, sodass die Klägerin auch keinen Anspruch auf Waisenpension mehr habe.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung aufgrund falscher Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, sie dahingehend abzuändern, dass der Klägerin eine Waisenpension in der gesetzlichen Höhe ab dem 23.Februar 2015 zugesprochen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Beklagte beantragt, dem Rechtsmittel keine Folge zu geben, ohne eine Berufungsbeantwortung zu erstatten.
Die Berufung erweist sich als nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Bevor auf den Inhalt der Berufung eingegangen wird, ist anzumerken, dass im Tagsatzungsprotokoll vom 18.Oktober 2017 (ON 14) auf Seite 3 (= AS 125) festgehalten wurde, „dass der Sachwalter ***** nach Erörterung der Sach- und Rechtslage die Klage zurückzieht.“ Sodann ist die Kenntnisnahme von der Klagszurückziehung protokolliert.
Der Sachwalter der Klägerin, der zu diesem Zeitpunkt anwaltlich nicht vertreten war, stellte daraufhin, eingelangt am 8.Jänner 2018, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit dem Vorbringen, dass er die Sprache nicht verstanden habe und rechtlich unwissend sei. Zudem habe er ein geschädigtes Gehör, die Übersetzung des beigezogenen Übersetzers habe er nicht gehört und „die gestellten Fragen nicht verstanden.“ Als er gefragt worden sei, ob er die Klage zurückziehen möchte, habe er nicht verstanden, dass dies das Ende des Verfahrens bedeute und damit ein Verzicht auf Rechte, die - wie er glaube - seiner Schwester zustünden, einhergehe (ON 17).
Das Erstgericht nahm dieses Schreiben zum Anlass, die durch einen Sachwalter vertretene Klägerin zur Antragstellung hinsichtlich der Beigabe eines Verfahrenshilfevertreters anzuleiten und bewilligte sodann die Verfahrenshilfe für die erste Instanz und das gesamte Rechtsmittelverfahren (ON 22).
Der beigegebene Verfahrenshilfevertreter stellte sodann am 28.Februar 2018 (neuerlich) einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und auf Nichtigerklärung einer Prozesshandlung und übernahm die Argumentation des Sachwalters (ON 24).
In der Tagsatzung vom 9.Mai 2018 (ON 30) vernahm das Erstgericht den Sachwalter, der erklärte, dass er am 18.Oktober 2007 (gemeint 2017) geglaubt habe, dass er einen Anwalt bekomme und weiter vorgehen könne. Er sei gefragt worden, ob er eine Berufung einbringen werde; er habe vorgehabt, einen Rechtsanwalt aus Bosnien zu beauftragen (PS 2, AS 40 unten).
Daraufhin fasste das Erstgericht in einer eigens anberaumten Streitverhandlung vom 9.Mai 2018 den Beschluss auf Wiedereinsetzung in den Stand des Verfahrens vor der Tagsatzung vom 18.Oktober 2017 und hielt weiters fest, dass „die Zurückziehung der Klage“ „beseitigt“ werde.
Die Zurücknahme der Klage geschieht durch eine bei der mündlichen Verhandlung abgegebene Erklärung, ihre prozessuale Gültigkeit kann nur nach den Regeln des Prozessrechts beurteilt, ihre prozessuale Wirksamkeit nur nach den für Prozesshandlungen geltenden Regeln bekämpft werden (RIS-Justiz RS0039757). Eine Zustimmung durch den Gegner ist nach den Sonderbestimmungen des ASGG nicht erforderlich, was dazu führt, dass ein Antrag soweit als zurückgezogen gilt, als der darüber ergangene Bescheid durch die Klage außer Kraft getreten ist (§ 72 Z 2 lit b ASGG).
Eine Klagszurücknahme bewirkt die Beendigung des Prozesses. Ein nachträglicher Widerruf einer entsprechenden Erklärung ist nicht vorgesehen.
Das Erstgericht hat zwar, von der Beklagten unbekämpft, der Klägerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand „des Verfahrens vor der Tagsatzung vom 18.Oktober 2017“ bewilligt, doch bestand dafür keine gesetzliche Grundlage, weil die Wiedereinsetzung gemäß § 146 ZPO einen Rechtsbehelf darstellt, der dazu dient, die negativen Rechtsfolgen einer versäumten Parteihandlung zu beseitigen (§ 146 Abs 1 ZPO). Eine versäumte Parteihandlung liegt aber nicht vor und wurde auch nicht behauptet.
Gemäß § 153 ZPO ist ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung, wodurch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt wird, nicht zulässig. Dieser Rechtsmittelausschluss gilt aber nicht, wenn die Wiedereinsetzung ohne gesetzliche Grundlage bewilligt wurde (RIS-Justiz RS0081564). Eine ohne gesetzliche Grundlage bewilligte Wiedereinsetzung ist zudem unbeachtlich (8 Ob 102/03p).
Damit ist die entsprechende Beschlussfassung durch das Erstgericht nicht zu berücksichtigen. Da ein Widerruf der Klagsrücknahme im gegenständlichen Fall nicht möglich ist, wäre das Prozessrechtsverhältnis durch den Zugang der Erklärung in der mündlichen Streitverhandlung „ipso jure“ erloschen, was zur Folge hätte, dass das anschließende Verfahren und die nunmehr bekämpfte Entscheidung nichtig wären (RIS-Justiz RS0039721).
Wenngleich das Erstgericht seinen Beschluss nicht begründet hat, ist es offensichtlich den Angaben des Sachwalters gefolgt. Diesen kann entnommen werden, dass er aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten davon ausgegangen ist, dass der Prozess nicht beendet wird und er Berufung einlegen kann. Daraus folgert aber, dass er gegenüber dem Dolmetsch keineswegs seinen Willen zur Klagsrückziehung kundgetan haben kann und insoweit ein Missverständnis vorliegt.
Da eine Prozessrechtserklärung in dieser Richtung demnach nicht vorgelegen hat, kann die „Beseitigung“ der Klagszurückziehung durch das Erstgericht nur dahingehend verstanden werden, dass hiedurch das (unrichtige) Protokoll berichtigt werden sollte.
Zusammenfassend liegt damit eine Klagsrückziehung, die einer inhaltlichen Entscheidung entgegenstünde - ungeachtet der Unwirksamkeit der Bewilligung der Wiedereinsetzung - nicht vor, weshalb über das Rechtsmittel meritorisch entschieden werden kann.
Die Klägerin stützt ihre Beweisrüge, mit der sie sämtliche kursiv wiedergegebenen Passagen, die ihre gegebene Arbeitsfähigkeit zum Zeitpunkt ihres 18. Geburtstags wiedergeben, bekämpft, darauf, dass sich aus der Aussage ihres Bruders und Sachwalters ergebe, dass sie im Alter von 13 bis 14 Jahren oft ohnmächtig gewesen sei, wofür eine unklare Ursache bestanden habe. Der Sachwalter könne ihre Arbeitsfähigkeit und ihren Krankenstand daher wesentlich besser „unter Beweis stellen“ als dies der Sachverständige könne. Es sei daher anstelle der bekämpften Feststellung die Feststellung zu treffen, dass die Klägerin vor ihrem 18. Geburtstag zum 29.Juni 1982 nicht arbeitsfähig gewesen sei.
Dieser Ansicht vermag sich das Berufungsgericht jedoch nicht anzuschließen. Tatsächlich hat der Bruder der Klägerin die behaupteten Angaben in der Tagsatzung vom 9. Mai 2018 gemacht und zudem ausgeführt, dass die erste Behandlung im Krankenhaus 1984 erfolgt sei (ON 30, PS 4 = AS 42 oben), jedoch lediglich angegeben, dass diese ab dem 11. Lebensjahr oft bewusstlos gewesen sei und zum 18. Lebensjahr verlangsamt. Diesen Angaben kann aber eine regelrechte Arbeitsunfähigkeit der Klägerin zu ihrem 18. Geburtstag nicht entnommen werden.
Der Sachverständige hat die Aussage des Sachwalters auch berücksichtigt und darauf verwiesen, dass Hinweise auf ein Anfallsleiden zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorliegen und die Klägerin am 11.Juni 1982 ein Abschlussprüfungszeugnis mit genügendem Erfolg erlangen konnte. Diese Ausführungen erscheinen durchaus nachvollziehbar; die Rechtsmittelausführungen vermögen daher keinen Zweifel an der Richtigkeit der erstgerichtlichen Feststellungen zu erwecken.
Lediglich der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass der Sachwalter der Klägerin in seinem von ihm selbst vorgelegten Schreiben an die Beklagte vom 16.2.2016 (Beilage ./B) ausführt, dass die Klägerin ein vollkommen gesundes Kind gewesen und erstmals im Februar 1984 erkrankt sei.
Zudem entspricht es ständiger Judikatur, dass ein Sachverständigengutachten niemals durch Zeugen entkräftet werden kann (RIS-Justiz RS0040598). Dieser Grundsatz gilt auch für die Parteienvernehmung (SVSlg 59.497).
Das Berufungsgericht legt daher die erstgerichtlichen Feststellungen als richtig und vollständig seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde.
Damit scheitert aber auch die Rechtsrüge der Klägerin, weil mit ihr inhaltlich die Richtigkeit der rechtlichen Beurteilung gar nicht bestritten sondern neuerlich von einer Arbeitsunfähigkeit zum Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres ausgegangen wird. Damit negiert die Rechtsrüge den festgestellten Sachverhalt und ist nicht gesetzmäßig ausgeführt.
Der Berufung musste daher insgesamt ein Erfolg versagt bleiben.
Der Kostenausspruch stützt sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG, wobei für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit schon wegen der fehlenden tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten (Rechtsfragen waren überhaupt nicht zu lösen) keine Anhaltspunkte vorliegen.
Damit war auch gemäß § 500 Abs 2 Z 3 ZPO auszusprechen, dass die ordentliche Revision nicht nach § 502 Abs 1 ZPO zulässig ist.
Oberlandesgericht Graz, Abteilung 6
Textnummer
EG00157European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OLG0639:2018:0060RS00053.18P.1127.000Im RIS seit
07.02.2019Zuletzt aktualisiert am
07.02.2019