TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/26 L512 2120049-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.09.2018
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

26.09.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

L512 2120054-1/37E

L512 2120049-1/28E

L512 2120051-1/16E

L512 2147245-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marlene JUNGWIRT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. der Republik Irak, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Vorarlberg, vom 05.01.2016, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.11.2017 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 wird XXXX der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte bis zum 26.09.2019 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des bekämpften Bescheides werden gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG ersatzlos aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marlene JUNGWIRT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. der Republik Irak, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Vorarlberg, vom 05.01.2016, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.11.2017 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 2005 wird XXXX der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigten bis zum 26.09.2019 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des bekämpften Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG ersatzlos aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

3.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marlene JUNGWIRT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. der Republik Irak, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Vorarlberg, vom 05.01.2016, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.11.2017 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 wird XXXX der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte bis zum 26.09.2019 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des bekämpften Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG ersatzlos aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

4.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marlene JUNGWIRT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. der Republik Irak, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Vorarlberg, vom 25.01.2017, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.11.2017 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 wird XXXX der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte bis zum 26.09.2019 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des bekämpften Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG ersatzlos aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Beschwerdeführer 1-3 (in weiterer Folge entsprechend der Reihenfolge im Spruch als BF1 bis BF3 bezeichnet), Staatsangehörige der Republik Irak, (in weiterer Folge "Irak" genannt), stellten nach illegaler Einreise am 23.10.2015 Anträge auf internationalen Schutz.

Zuvor stellte der Ehemann der BF1 am 10.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte die BF1 am 23.10.2015 Folgendes vor: Sie habe zuletzt in XXXX gewohnt, sei traditionell und standesamtlich verheiratet, sei zuvor schon einmal verheiratet gewesen, ihr Ehepartner sei im XXXX im Irak verstorben. Sie sei Muslimin/Sunnitin und gehöre der arabischen Volksgruppe an. Sie habe keine Ausbildung/sei Analphabetin und habe von 12 Jahre die Grundschule besucht. Zuletzt sei sie eine Hausfrau gewesen. Sie habe legal mit ihren zwei Kindern den Irak von XXXX aus per Flugzeug verlassen.

Zum Fluchtgrund befragt gab die BF1 an, dass sie und ihre Familie Sunniten seien. Da der Irak ein islamischer Staat sei und es dort Krieg zwischen Sunniten und Schiiten geben würde und sie von den Schiiten bedroht wurden, habe sie mit ihren Kindern das Land verlassen. Sie habe Angst um ihre Tochter, dass diese vom IS entführt und möglicherweise zwangsverheiratet wird. Da in ihrem Ort im Irak mehrere Familien verschleppt und umgebracht wurden und auch ihr Bruder vom IS und von den Schiiten verschleppt wurde und sie nicht wissen würden, wo er sei und was mit ihm passiert sei, hätten Sie Angst um ihr Leben. Sie möchten nicht mehr zurück. Sie möchte mit ihren Kindern und Ihrem Mann, der in Österreich schon Asyl hat zusammenleben.

In weiterer Folge wurden die Verfahren der BF1-BF3 zugelassen.

I.2. Vor einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge kurz "BFA") brachte die BF1 am 11.11.2015 im Wesentlichen Folgendes vor:

Sie nehme Beruhigungsmedikamente und sei derzeit wegen einer Entzündung in Behandlung. Sie habe bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht und alle ihre Fluchtgründe genannt. Es sei alles richtig und vollständig protokolliert und rückübersetzt worden.

Zum Ausreisegrund gab die BF1 zusammengefasst an, sie hätten in XXXX gewohnt. Ihr Mann sei ein Geschäftsinhaber und bekannt gewesen. Viele hätten nach Geld gefragt, er habe jedoch nie etwas hergegeben. Im Juni seien die IS Truppen einmarschiert. Diese hätten den Mann der BF erpressen wollen. Dieser habe immer abgelehnt. Die BF1 habe nachdem ihr Mann in der Türkei war bei ihrem Bruder in XXXX gewohnt. Eines nachts sei sie zu Hause gewesen, als sie Schüsse hörte. Milizen hätten ein paar Nachbarn entführt. Sie sei mit ihren Kindern in den zweiten Stock geflüchtet. Sie hätten sich in die Toilette eingesperrt. Am zweiten Tag sei ihr Bruder entführt worden. Sie habe Angst um ihre Kinder gehabt. Sie hätten Zuflucht bei einem Freund ihres Bruders gesucht. Dieser sei Schiit. Sie hätten ca. 10-15 Tage dort gelebt. Sie hätten eine Lebensmittelvergiftung erlitten und seien ins Krankenhaus gebracht worden. Als die BF1 vom Krankenhaus entlassen wurden, habe sie nicht mehr ins Haus ihres Bruders zurückkehren können. Man habe ihr erzählt, dass ihr Bruder verstorben sei. Sie habe sich dann trotzdem 5 Tage im Hause ihres Bruders aufgehalten. Als sich die gesundheitliche Situation des BF2 verschlechtert habe, hätten sie den Irak verlassen. Der erste Mann der BF1 sei von unbekannten Personen erschossen worden. Konkrete Übergriffe oder gezielte Bedrohungen gegen die BF1 habe es nicht gegeben. Ihr Sohn sei im Irak ausreichend behandelt worden.

I.3. Die gegenständlichen Anträge der BF1-BF3 auf internationalen Schutz wurde folglich mit im Spruch genannten Bescheid der belangten Behörde gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I). Gem. § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak nicht zugesprochen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57,55 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV).

I.3.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung verwies die belangte Behörde darauf, dass die BF1 keine persönliche Verfolgung oder Bedrohung für die BF 1-BF 3 vorgebracht habe.

I.3.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak traf die belangte Behörde ausführliche Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.

I.3.3. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorgekommen sei.

Es hätten sich weiters keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57,55 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar. Zudem sei die Abschiebung zulässig, da kein Sachverhalt im Sinne des § 50 Abs 1, 2 und 3 FPG vorliege. Eine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe in Höhe von 14 Tagen, da keine Gründe im Sinne des § 55 Abs 1 a FPG vorliegen würden.

I.3.4. Der Antrag auf internationalen Schutz des Ehemannes der BF1 wurde ebenso negativ entschieden.

I.4. Gegen diesen Bescheid wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung für den BF ein günstigerer Bescheid erlassen worden wäre, erhoben.

I.5. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 24.03.2016 wurden die Rechtssachen der BF1-BF3 der Gerichtsabteilung L507 abgenommen und der Gerichtsabteilung L521 neu zugewiesen.

I.6. Für den 31.08.2016 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Verhandlung. Am 31.08.2016 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache der BF1-BF3 eine mit dem Verfahren des Ehemannes der BF1 verbundene öffentliche mündliche Verhandlung durch. Aufgrund des Vorbringens der BF1 bezüglich BF3 - deren Furcht vor Verfolgung gründet sich auf Eingriffe in ihre sexuelle Selbstbestimmung - wurde die Befragung der BF1 unterbrochen.

I.7. Aufgrund der Unzuständigkeitseinrede der Gerichtsabteilung L521 vom 02.09.2016 wurde die Rechtssache am 05.09.2016 der Gerichtsabteilung L512 neu zugewiesen.

I.8. Am XXXX kam die BF4 in Österreich auf die Welt. Die BF1 hat für die BF4 am 06.10.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. In der Einvernahme am 10.01.2017 gab die BF 1 zusammengefasst an, sie wolle nicht, dass die BF4 das erlebe, was die Familie erlebt habe. Sie wolle, dass sie in einem friedlichen Land lebe. Der Antrag der BF4 auf internationalen Schutz wurde folglich mit im Spruch genannten Bescheid der belangten Behörde gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I). Gem. § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak nicht zugesprochen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57, 55 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV). Gegen diesen Bescheid wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften bei der Einhaltung für den BF ein günstigerer Bescheid erlassen worden wäre, erhoben.

I.9. Für den 23.11.2017 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Verhandlung.

I.9.1. Gleichzeitig mit der Ladung vom 20.10.2017 wurden den Verfahrensparteien aktuelle Länderberichte zur Lage im Irak zur Kenntnis gebracht und die Möglichkeit eingeräumt, sich bis zum Zeitpunkt der anberaumten Verhandlung schriftlich bzw. in der Verhandlung mündlich hierzu zu äußern.

I.9.2. Am 23.11.2017 führte das Bundesverwaltungsgericht in den Rechtsachen der BF1-BF4 eine mit den Verfahren des Ehemannes der BF1 verbundene öffentliche mündliche Verhandlung durch. Im Rahmen der Verhandlung wurde der BF1 die Möglichkeit eingeräumt, zur Integration, dem Fluchtvorbringen und der Rückkehrsituation bezüglich ihrer Person und der BF2-BF4 Stellung zu nehmen. Zudem hatte die BF1 bzw. die gewillkürte Vertretung die Möglichkeit, zu den aktuellen Länderfeststellungen eine Stellungnahme abzugeben, wovon jedoch kein Gebrauch gemacht wurde.

I.10. Im Verfahren der BF 1, des BF2 und dem Ehemann der BF 1 wurden neurologisch-psychiatrische Gutachten erstellt, die den Parteien zur Kenntnisnahme übermittelt wurden. Diesbezügliche Stellungnahmen langten ein. Ebenso wurden aktualisierte Länderfeststellungen den Beschwerdeführern übermittelt. Diesbezügliche Stellungnahmen langten ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1.1. Die Beschwerdeführer:

Bei den BF1-BF4 handelt es sich um irakische Staatsbürger, die der Religionsgemeinschaft der Sunniten angehören und Angehörige der arabischen Volksgruppe sind.

Die BF1 ist eine verheiratete, arbeitsfähige Frau mit einer - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage im Irak. Sie spricht die Sprache Arabisch, war zuvor schon einmal verheiratet. Aus dieser Ehe stammen die BF 2 und die BF3. Die BF1 hat mit ihrem jetzigen Ehemann eine gemeinsame Tochter, die BF4.

Der BF1 leidet aktuell an einer Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion und an chronischen Spannungskopfschmerzen. Sie nimmt Medikamente für die Schilddrüse ein.

Der BF2 leidet an einer kombinierten Entwicklungsstörung mit Epilepsie von tonischen Erregungstyp.

Der Ehemann der BF1 befindet sich in Österreich. Sein Verfahren bezüglich seines Antrages auf internationalen Schutz wurde mit heutigen Tag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten negativ entschieden.

II.1.2. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

Politische Lage

Im März 2003 kam es zum Einmarsch von Truppen einer Koalition, die von den USA angeführt wurde (BBC 12.7.2017). Als Grund hierfür wurden Massenvernichtungswaffen angegeben, deren Existenz jedoch nie bestätigt werden konnte. Nach dem im März 2003 erfolgten Sturz von Saddam Hussein, einem Angehörigen der sunnitischen Minderheit, wurden die Regierungen von Vertretern der schiitischen Mehrheitsbevölkerung geführt (BPB 9.11.2015). Mit 2003 begann der Aufstieg von [vorwiegend] irantreuen bzw. dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien/Milizen, denen die amerikanischen Invasoren erlaubten, aus dem iranischen Exil in ihre Heimat zurückzukehren (SWP 8.2016; vgl. Hiltermann 26.4.2017). Es konnte nach der Entmachtung Husseins weder eine umfassende Demokratisierung noch eine Stabilisierung erreicht werden, da die Strukturen des neuen politischen Systems das Land entlang ethnisch-konfessioneller Linien fragmentierten (BPB 9.11.2015). Die von der US-Besatzung beschlossene Auflösung der irakischen Armee sowie das Verbot der Baath-Partei ließen viele Sunniten, darunter erfahrene Militärs, radikalen islamistischen Gruppen zuströmen (Spiegel 18.4.2015). Die sunnitische Minderheit fühlte sich zunehmend diskriminiert und radikale Anführer konnten immer mehr Anhänger gewinnen (AI 28.5.2008). Zudem hatte die Demontage der irakischen Armee und irakischen Sicherheitskräfte durch die US-geführte Koalition ein Sicherheitsvakuum hinterlassen, das die schiitischen Milizen zu füllen versuchten, wodurch es zu einem sunnitischen Aufstand kam (Hiltermann 26.4.2017). Die US-Regierung (sowohl die Bush-, als auch die Obama-Regierung) arbeitete zum Teil mit diesen Kräften (Badr-Miliz) zusammen, und verschloss vor den Gewaltexzessen der schiitischen Milizen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung die Augen (Reuters 14.12.2015). Während die Revolte der Sunniten gegen die US-Präsenz seit 2003 eher eine nationalistisch als eine religiös geprägte Bewegung war, entwickelte die Revolte zunehmend einen dominanten radikal-sunnitisch-islamistischen Zug. Der in der Folge entstehende konfessionelle Bürgerkrieg (ca. 2005 bis 2007) führte zu einer Änderung der US-Politik im Irak, die wiederum die Niederlage von Al-Qaida im Irak (AQI) herbeiführte. Doch dadurch, dass das Problem der Ausgrenzung der Sunniten weiter bestehen blieb, kam es zu weiteren Protesten in den sunnitischen Gebieten in den Jahren 2013 und 2014, daraufhin zu einer gewaltsamen Antwort von Seiten des Staates und danach zur Übernahme sunnitischer Gebiete durch eine noch radikalere Version von Al-Qaida - durch die Organisation "Islamischer Staat" [IS, auch ISIS oder ISIL, vormals ISI, arabisch Daesh] (Hiltermann 26.4.2017). Diese konnte in große Teile der sunnitischen Gebiete im Westen des Irak, in kurdische Gebiete im Norden des Irak und in Teile Syriens vordringen (ACCORD 12.2016). Als die nach der Entmachtung Saddam Husseins neu aufgestellte Armee vorübergehend "kollabierte", mobilisierten schiitische Führer in Notwehr ihre Gefolgschaft, wodurch die schiitischen Milizen (allen voran die Badr Organisation, Asaib Ahl al-Haq und Kataeb Hezbollah, mit Unterstützung des Irans) verstärkt auf den Plan traten und sich nordwärts in die sunnitischen Gebiete bewegten (Hiltermann 26.4.2017).

Das politische Geschehen ist trotz großer Erfolge bei der Rückeroberung von IS weiterhin vom Kampf gegen den IS geprägt (ÖB 12.2016). Seit Ende 2015 wird der IS mit einem Bündnis auf Zeit aus irakischem Militär, kurdischen Peschmerga, schiitischen Milizen und Luftschlägen der internationalen US-geführten Anti-IS-Koalition bekämpft (AA 7.2.2017).

Nach dem Referendum über die Lossagung Irakisch-Kurdistans vom Irak am 25.9.2017 erklärte der Kurdenführer Mas?ud Barzani am Tag darauf (noch vor der offiziellen Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses), dass die Mehrheit der Kurden, die ihre Stimme abgaben, die Unabhängigkeit unterstützen würden. Die Beteiligung lag in etwa bei 72 Prozent (Al-Jazeera 27.9.2017). Wahlberechtigt waren ca. fünf Millionen Einwohner, darunter mehrheitlich Kurden verschiedenen Glaubens, aber auch Christen und die meist sunnitischen Araber und Turkmenen der Region (Tagesspiegel 25.9.2017). Nach vorläufigen Zahlen von Barzanis KDP (Kurdische Demokratische Partei) stimmten beim Referendum knapp 92 Prozent für die Unabhängigkeit. Trotz internationaler Kritik und Warnungen hatte die kurdische Autonomieregierung die Bürger am Montag abstimmen lassen (Standard 27.9.2017). Die Zentralregierung hält das Referendum für verfassungswidrig. Auch die Türkei und der Iran sind strikt gegen einen unabhängigen Kurdenstaat. Bereits kurz nach der Abstimmung hatten die türkische und die irakische Armee ein gemeinsames Militärmanöver begonnen. Laut dem irakischen Generalstabschef Uthman al-Ghanami finde die Übung in der Gegend des Grenzübergangs Habur statt, des Übergangs zwischen der Türkei und der Kurdenregion im Nordirak. Die türkische Armee hatte das Manöver bereits eine Woche zuvor begonnen (Standard 27.9.2017). Die Türkei reagierte auch mit der Ankündigung von wirtschaftlichen Sanktionen. Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Folgetag des Referendums, dass die "irakischen Kurden hungern würden, wenn sein Land keine Lastwagen mehr in die Region ließe." Er drohte darüber zudem mit einem Stopp des kurdischen Ölexports und einer militärischen Intervention im Nordirak nach dem Vorbild des türkischen Einmarschs in Syrien. Das Referendum nannte er "null und nichtig" (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Der Nachbarstaat Iran schloss als Reaktion auf das Referendum nach dem Luftraum laut offiziellen Angaben auch die Landgrenze zu den Kurdengebieten. Allerdings gab es unterschiedliche Berichte darüber, ob ein Grenzübergang weiterhin geöffnet blieb. Parlamentspräsident Ali Larijani kündigte am Dienstag zudem an, dass das Parlament "alles, was zu einer Desintegration der Region führen könnte", nicht anerkennen werde. Medienangaben zufolge gab es wegen des Referendums am Montag spontane Straßenfeiern in mehreren kurdischen Städten im Iran (Standard 26.9.2017). Der Iran und die von ihm finanzierten schiitischen Milizen im Irak. sehen die Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden als Bedrohung einer iranisch dominierten Neuordnung der Region, die über den Irak und Syrien bis in den Libanon reicht. Dazu braucht die iranische Führung einen Irak in seinen jetzigen Grenzen und mit seinen Ölquellen in Kirkuk. Iranische Militärs und Revolutionsgardisten mahnten zunächst in eher blumigen Worten, inzwischen melden sie das Recht auf militärische Aktionen auf kurdischem Territorium an, sollte Erbil die Unabhängigkeit vorantreiben. Sie wittern hinter dem Referendum auch eine amerikanisch-israelische Strategie zur Unterminierung iranischer Interessen. Was in diesem Fall nur zur Hälfte stimmt. Israel ist in der Tat der einzige Staat im Nahen Osten, der das Referendum befürwortet, Kurden und Israelis haben eine lange Geschichte gegenseitiger Unterstützung (Zeit 24.9.2017). Die Türkei und der Iran befürchten darüber hinaus Auswirkungen auf die Autonomiebestrebungen ihrer eigenen kurdischen Minderheiten. Die USA als wichtiger Verbündeter der Kurden hatten sich ebenfalls gegen das Referendum ausgesprochen, weil sie den Kampf gegen den IS gefährdet sehen (Standard 26.9.2017).

Die irakische Regierung beantwortete den Aufruf Barzanis, mit den Kurden nun in Verhandlungen zu treten, ebenfalls mit einer Drohung. Premierminister Haider al-Abadi forderte die Kurden auf, binnen drei Tagen die Kontrolle der Flughäfen im Norden des Landes an die Zentralregierung zu übergeben. Sollte dies nicht geschehen, werde die irakische Regierung den Luftraum sperren und keine Flüge mehr aus oder in den Nordirak zulassen. Inlandsflüge seien davon jedoch nicht betroffen und internationale Flüge in und aus der Kurdenregion könnten [nach derzeitigem Stand] über Bagdad stattfinden (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Darüber hinaus stimmte das irakische Parlament bereits am Montag dafür, die irakische Armee in jene Gebiete zu schicken, in denen das Referendum abgehalten wurde, die jedoch laut irakischer Verfassung von 2005 als "umstrittenen" gelten - insbesondere Kirkuk und Umgebung, wo die Kurden die völlige Kontrolle übernahmen, nachdem 2014 die irakische Armee vor dem "Islamischen Staat" (IS) geflohen war (Harrer 26.9.2017).

Bild kann nicht dargestellt werden

(Al-Jazeera 27.9.2017)

Der Armeeeinsatz in den umstrittenen Gebieten, insbesondere in Kirkuk und Umgebung, führte zum Zusammenbruch der irakisch-kurdischen Peschmerga unter dem gemeinsamen Druck von Irak und Iran kurz nach dem Referendum über die Unabhängigkeit der Kurden am 25. September 2017 und könnte den Nordirak letztlich eher destabilisieren. Die Peshmerga zogen sich am 16. und 17. Oktober 2017 aus den umkämpften Gebieten im Nordirak im Wesentlichen zurück (siehe hiezu die untenstehende Karte). Details dazu siehe Punkte

1.1. und 2.4.

Staatsform & Parteien

Der Irak ist formal-konstitutionell eine republikanische, demokratische, föderal organisierte und parlamentarische Republik. So sieht es die gültige Verfassung von 2005 vor. Sitz von Regierung und Parlament ist Bagdad. Staatspräsident ist seit dem 24.07.2014 der Kurde Fuad Massum, Angehöriger der irakisch-kurdischen Partei Patriotic Union of Kurdistan - PUK. Ein Teil des föderalen Staates ist auch das kurdische Autonomiegebiet, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Diese Föderale Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung, sowie gesonderte Militäreinheiten, die Peschmerga (LIP 6.2015). Im Irak gibt es eine Vielzahl von Parteien (zu einer Anerkennung genügen laut Parteiengesetz 500 Unterschriften).

Wahlen & Premierminister

Die nationalen Wahlen, die im April 2014 stattfanden, hatte zwar abermals der zuvor amtierende Premierminister Nouri al-Maliki gewonnen, da es jedoch auf Grund seines autoritären und pro-schiitischen Regierungsstils massive Widerstände gegen ihn gab, trat er im August 2014 auf kurdischen, internationalen, aber auch auf innerparteilichen Druck hin zurück (GIZ 6.2015). Maliki wird unter anderem vorgeworfen, mit seiner sunnitenfeindlichen Politik (Ausgrenzung von sunnitischen Politikern, Niederschlagung sunnitischer Demonstrationen, etc.) deutlich zur Entstehung radikaler sunnitischer Gruppen, wie dem IS, beigetragen zu haben (Qantara 17.8.2015; vgl. auch Abschnitt "Sicherheitslage"). Infolge dessen wurde die schiitisch dominierte Regierung des Premierministers Nuri al-Maliki von einer nationalen Einheitsregierung mit Beteiligung von Sunniten und Kurden unter dem gemäßigteren Premierminister Haidar al-Abadi abgelöst (HRW 29.1.2015). Abadi ist ebenfalls Schiite und ein Parteikollege Malikis in der Da'wa-Partei. Er ist mit dem Versprechen angetreten, das ethno-religiöse Spektrum der irakischen Bevölkerung wieder stärker abzudecken (GIZ 6.2015), und zunächst konnten durch seine Ernennung zum irakischen Premierminister tatsächlich einige gesellschaftliche Gräben geschmälert werden. Von einer tatsächlichen Versöhnung zwischen den ethnischen und religiösen Gruppierungen ist jedoch nichts zu bemerken (ÖB 12.2016). Die Besetzung aller politischen Führungspositionen, so auch der Kabinettsposten, folgt seit Jahren einem Kalkül ethnisch/religiöser Balance. Die sunnitischen Regierungs- und Parlamentsmitglieder stehen unter Druck, da ihre Kooperation in Bagdad bislang kaum dazu beitrug, ihre Klientel zu schützen (ÖB 12.2016). Das irakische Parlament wählte den moderaten sunnitischen Politiker Salim al-Jabouri zum Parlamentspräsidenten (Al Arabiya 15.7.2014).

Abadis Reformen waren nur oberflächlicher Natur oder harren noch ihrer Umsetzung. Unterstützt werden die Reformpläne der Regierung bislang immerhin durch die höchste geistliche Autorität der Schiiten, Großajatollah Al-Sistani (AA 7.2.2017). Insgesamt ist die Zentralregierung aber schwach, Premierminister Abadi kann gegen die internen Rivalitäten der schiitischen Parteien nicht viel ausrichten. Er ist von zahlreichen Herausforderern umgeben: Dem Ex-Premierminister Nouri al-Maliki, dem Oppositionsführer und populärer Priester Muqtada al-Sadr, sowie den anderen Anführern schiitischer Milizen (Stansfield 26.4.2017).

Das irakische Parlament hat am 29.01.2017 die neuen Minister für Verteidigung und Inneres bestätigt. Der Armeegeneral Erfan al-Hiyali von der sunnitischen Minderheit im Land wird künftig das Verteidigungsministerium führen. Kasim al-Aradschi von der schiitischen Badr-Organisation leitet das Ressort Inneres. Ministerpräsident Haider al-Abadi lobte die Entscheidung des Parlaments als "guten Fortschritt zu einer entscheidenden Zeit". Beide Posten waren monatelang unbesetzt (ORF, 30.01.2017).

Am 12.5.2018 wurden im Irak neuerlich Parlamentswahlen abgehalten. Die Wahlbeteilung lag bei 44,5 Prozent - die niedrigste Beteiligung seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 (Die Presse 13.5.2018). Als Sieger geht das Wahlbündnis Sa'irun des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs hervor, das nicht mehr vom ersten Platz zu verdrängen ist und 54 Sitze erreichte. Auf zweitem Platz liegt mit 47 Sitzen das Fatah Bündnis des Milizenführers Hadi al-Ameri, der eng mit den iranischen Revolutionsgarden verbunden ist (Die Presse 13.5.2018). Die Nasr Allianz des amtierenden Ministerpräsidenten Haider al-Abadi kommt mit 42 Sitzen nur auf den dritten Platz (NZZ 15.5.2018). Die Sitzverteilung stellt sich wie Folgt dar:

Bild kann nicht dargestellt werden

Anschuldigungen von Wahlbetrug in der zwischen Kurden und irakischer Zentralregierung umstrittenen Stadt Kirkuk verzögern die Veröffentlichung der Endergebnisse (The Washington Post 17.5.2018). Laut Wahlkommission belagerten Bewaffnete am Mittwoch, den 16.5.2018, etliche Wahllokale in der Stadt und hielten Mitarbeiter der Wahlkommission in Geiselhaft (Reuters 16.5.2018). Der Gouverneur von Kirkuk sowie der Leiter der Exekutivorgane, Generalmajor Maan al-Saadi, bestritten dies und erklärten, dass die Lage stabil sei und es sich um friedliche und unbewaffnete Proteste um die Wahllokale herumhandle (The Washington Post 17.5.2018; Reuters 16.5.2018).

Eine neue Regierung wurde bislang noch nicht gebildet, da keiner der Wahlblöcke eine Mehrheit erreichte und deshalb Koalitionsverhandlungen geführt werden müssen.

Schiitische Milizen, Rolle des Ex-Premierminister Maliki und Einfluss des Iran

Der noch amtierende Ministerpräsident Abadi hat mit dem Iran-freundlichen Ex-Premierminister Maliki (nunmehr Vize-Premierminister und Vorsitzender der State of Law Coalition, sowie Da'wa-Parteiführer) einen starken Widersacher innerhalb seiner Partei. Ein Problem Abadis ist auch die Macht der schiitischen Milizen - einerseits unverzichtbar für Abadi im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (Standard 5.11.2015), gleichzeitig wird deren Einsatz aber von der sunnitischen Bevölkerung als das "Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub" gesehen. Das Vertrauen der sunnitischen Bevölkerung in die schiitisch dominierte Zentralregierung bleibt weiterhin minimal. Der Einsatz dieser Milizen im Kampf gegen den IS wird von Sunniten meist abgelehnt, sie fürchten ein ruchloses Vorgehen der Milizen und dulden daher oft die sunnitischen Extremisten in ihren Gebieten. Berichte zu Übergriffen der schiitischen Milizen konterkarieren die Versuche von Premierminister Haidar al-Abadi, den arabischen Sunniten wieder Vertrauen in den irakischen Staat einzuflößen (ÖB 12.2016). Bezüglich der schiitischen Milizen spielt auch der schiitisch dominierte Iran eine große Rolle, der insgesamt einen großen Einfluss auf den Irak ausübt. An den Schalthebeln der Macht in Bagdad werden selbst hochrangige irakische Kabinettsmitglieder von der iranischen Führung abgesegnet oder "hinauskomplementiert". Dadurch kommt es auch dazu, dass Gesetze verabschiedet werden, wie z. B. jenes vom November 2016, das die schiitischen Milizen effektiv zu einem permanenten Fixum der irakischen Sicherheitskräfte macht (NYTimes 15.7.2017), und sie im Rahmen der Dachorganisation PMF (auch PMU, Popular Mobilisation Forces/Units, Volksmobilisierung, arabisch Al-Hashd al-Shaabi) der irakischen Armee gleichstellt (Harrer 9.12.2016). Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt. Dem Iran geht es dabei nicht nur um die weitere Ausbreitung der Kontrolle über irakisches Gebiet, sondern auch darum, einen Korridor zu den Stellvertreterkräften in Syrien und im Libanon zu bilden. Was im März 2017 passierte, nämlich, dass Iran-gestützte schiitische Milizen zum ersten Mal den gesamten Weg westwärts bis zur syrisch-irakischen Grenze vorstoßen konnten, quer durch irakisches, vorwiegend sunnitisches Gebiet, veranschaulicht dieses Vorhaben (ICG 31.5.2017; vgl. NY Times 15.7.2017). Der ehemalige Premierminister Maliki, der sich bereits zu seiner Amtszeit stark in Richtung Iran gelehnt hatte, und der nach Ende seiner Amtszeit weiterhin massiv von der Zusammenarbeit mit dem Iran profitierte, spielt heute auf politischer Ebene in Bezug auf die PMF eine zentrale Rolle. Unter anderem aufgrund der Schwäche des Irakischen Staates, der Dominanz des Irans, sowie ganz besonders aufgrund der Hilfe, die der reguläre irakische Sicherheitsapparat für das Zurückschlagen des IS benötigt(e), blieb Abadi keine andere Wahl, als den PMF-Milizen zu noch weiterem Einfluss zu verhelfen - in Fortsetzung der bezüglich der Milizen vorangetriebenen Legitimierungspolitik Malikis. Die PMF sind somit einerseits eine vom Staat mittlerweile legitimierte und der Armee gleichgestellte Dachorganisation von - fast ausschließlich - schiitischen Milizen, gleichzeitig werden sie aber von nicht-staatlichen Anführern befehligt (Carnegie 28.4.2017). Maliki versucht, an die Spitze der irakischen Politik zurückzukehren, und hat als Verbündete dabei den Iran und "seine" neue Hausmacht, die schiitischen Milizen (Harrer 13.2.2017). Gegen dieses Vorhaben regt sich insbesondere auch im Süden verstärkter Widerstand: Die Anhänger der Sadr-Bewegung [Muqtada al-Sadr: Führer der Sadr-Bewegung, einer politischen Partei, sowie Führer der Saraya al-Salam] wollen mittels Demonstrationen die Hoffnung Malikis auf eine Rückkehr verhindern. Ein innerschiitischer Konflikt zwischen Sadristen und Maliki-Anhängern ist spürbar, auch wenn diesbezügliche militärische Auseinandersetzungen unwahrscheinlich sind (Al Monitor 26.1.2017). Zu solchen Auseinandersetzungen war es zwischen diesen beiden Lagern im Jahr 2008 in Basra gekommen (BBC 12.7.2017).

Die Sadr-Bewegung ist aber auch gegenüber Abadis Regierung kritisch eingestellt. Muqtada al-Sadr stilisiert sich als irakischer Nationalist, der gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik ankämpft, der jedoch andererseits Abadis Reformen zum Teil sogar blockiert, wie z.B. Abadis Versuch, eine Technokratenregierung aufzustellen. Darüber hinaus führt die Sadr-Bewegung regierungskritische Demonstrationen durch, die - trotz Aufrufs Sadrs, friedlich zu protestieren - außer Kontrolle geraten können und zuletzt im Februar 2017 in Bagdad zur wiederholten Erstürmung der Grünen Zone führten. Die Proteste der Sadr-Bewegung spielen Maliki in die Hände und schwächen Abadi zusätzlich, der in der Schusslinie zwischen Sadr und Maliki steht (Harrer 13.2.2017). In Hinblick auf die Parlamentswahl im Jahr 2018 und einen möglichen Erfolg des pro-iranischen Maliki, näherte sich Premierminister Abadi einer Koalition einflussreicher schiitischer religiöser und politischer Führer (darunter auch besagter Muqtada al-Sadr) an, mit dem Ziel Maliki zu isolieren (IFK 9.6.2017).

Der gemeinsame Gegner IS schweißte 2014 das Land und teilweise auch die Bevölkerung etwas zusammen, doch die Bruchlinien bleiben insbesondere mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS akut: Nicht nur zwischen Schiiten und Sunniten oder innerhalb der schiitischen Kräfte, sondern auch zwischen der KRI (Kurdische Region im Irak) und der Zentralregierung, innerhalb der kurdischen Gruppierungen sowie zwischen de facto allen Mehrheitsbevölkerungen und Religionen und den Minderheiten in ihrem Bereich. Mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS gehen auch ein verstärkter Terrorismus, neue humanitäre Herausforderungen und wiederaufflammende Spannungen einher. Eine ethnisch-religiöse Aussöhnung hat nicht stattgefunden. Die Gefahr eines weiteren Zerfalls des Staates, samt bewaffneten Auseinandersetzungen ist nach wie vor nicht gebannt (ÖB 12.2016). Insbesondere ist auch unklar, ob die vom IS zurückeroberten sunnitischen Gebiete auf eine Weise verwaltet werden, die nicht erneuten Unfrieden und eine erneute Rebellion (unter dem Banner des IS oder einer anderen Organisation) provozieren wird (OA/EASO 2.2017). Die Islamisten genießen im Irak in der Bevölkerung nach wie vor Unterstützung, da sie sich als Beschützer der sunnitischen Gemeinschaft präsentieren. Der IS ist ja ursprünglich vorrangig eine irakische Organisation mit starken lokalen Wurzeln (Stansfield 26.4.2017), und selbst das Zurückschlagen des IS in Mossul vermag es nicht, die schiitisch-sunnitischen Spannungen zu lösen, die das Ergebnis einer mangelnden politischen Übereinkunft sind (USCIRF 26.4.2017). Die Gewalt, der die Sunniten seit der US-geführten Invasion im Irak von Seiten Iran-gestützter Regierungen und Milizen ausgesetzt waren [und sind], hat in der sunnitisch-arabischen Bevölkerung ein tiefgreifendes und gefährliches Gefühl der Viktimisierung bewirkt, das Rekrutierungsbemühungen von Jihadisten in die Hände spielt (ICG 22.3.2017). Die Rolle der internationalen Koalition gegen den IS ist zwiespältig. Während diese sich selbst als unparteiischen Akteur sehen mag (abgesehen vom Kampf gegen den IS), sehen das die irakischen Akteure anders, die die Koalition alleine schon auf Grund der Wahl ihrer Verbündeten als völlig parteiisch ansehen (ICG 31.5.2017).

Quellen:

-

AI - Amnesty International (28.5.2008): Jahresbericht 2008, , http://www.amnesty.de/jahresbericht/2008/irak, Zugriff 9.8.2017

-

Al Arabiya (15.7.2014): Iraq parliament elects Salim Jabouri as speaker,

http://english.alarabiya.net/en/News/middle-east/2014/07/15/Iraq-parliament-elects-Salim-al-Juburi-as-speaker-TV.html, Zugriff am 9.5.2016

-

Al Monitor (26.1.2017): Can public outcry in southern Iraq end Maliki's political ambitions?,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/01/southern-iraq-muqtada-maliki-abadi-reform-shiite-protest.html, Zugriff 2.8.2017

-

Al-Monitor (21.7.2017): If Iran has its way, Abadi won't see a second term in Iraq,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/07/iran-iraq-prime-minister-abadi-khamenei-pmu-shiite-militias.html, Zugriff 9.8.2017

-

Al-Monitor (24.8.2017): Iraq's Hakim moves out of Iran's shadow, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/ammar-hakim-supreme-islamic-council-iraq-iran.html, Zugriff 28.8.2017

-

BBC (12.7.2017): Iraq profile - timeline, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-14546763, Zugriff 4.8.2017

-

BPB - Bundeszentrale für politische Bildung (9.11.2015):

Innerstaatliche Konflikte Irak, http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54603/irak, Zugriff 9.8.2017

-

Carnegie - Middle East Center (28.4.2017): The Popular Mobilization Forces and Iraq's Future, http://carnegie-mec.org/2017/04/28/popular-mobilization-forces-and-iraq-s-future-pub-68810, Zugriff 21.7.2017

-

Spiegel (18.4.2015): Secret Files Reveal the Structure of Islamic State,

http://www.spiegel.de/international/world/islamic-state-files-show-structure-of-islamist-terror-group-a-1029274.html, Zugriff 9.8.2017

-

Euronews (27.4.2017): Jesiden und Kurden schlagen Alarm: Angst vor weiteren Luftschlägen der Türkei in Sinjar, http://de.euronews.com/2017/04/27/jesiden-und-kurden-schlagen-alarm-angst-vor-weiteren-luftschlaegen-der-tuerkei, Zugriff 10.8.2017

-

FAZ - Frankfurter Allgemeine (12.7.2017): Nicht das Ende des Terrors,

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/is-kommentar-nicht-das-ende-des-terrors-15101948.html, Zugriff 31.7.2017

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit(6.2015): Irak - Geschichte und Staat, http://liportal.giz.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 17.12..2015

-

Harrer, Gudrun - in Der Standard (28.11.2016): Irakische Milizen:

Zerstörung der Armee,

http://derstandard.at/2000048292489/Irakische-Milizen-Zerstoerung-der-Armee, Zugriff 21.8.2017

-

Harrer, Gudrun - in Der Standard (9.12.2016): Mossul: Zähes Ringen mit dem "Islamischen Staat",

http://derstandard.at/2000048999294/Mossul-Zaehes-Ringen-mit-dem-Islamischen-Staat, Zugriff 9.8.2016

-

Harrer, Gudrun - in Der Standard (13.2.2017): Schiiten gegen Schiiten im Irak,

http://derstandard.at/2000052505984/Schiiten-gegen-Schiiten-im-Irak, Zugriff 9.8.2017

-

Harrer, Gudrun - in Der Standard (10.8.2017): Der schwierige Weg Mossuls in den Frieden,

http://www.derstandard.at/2000062481137/Der-schwierige-Weg-Mossuls-in-den-Frieden, Zugriff 10.8.2017

-

Hiltermann, Joost - Program Director Middle East & North at the International Crisis Group (26.4.2017): EASO COI Meeting Report Iraq, Practical Cooperation Meeting 25.- 26. April, Brussels, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/IRQ_Meeting_Report.pdf, Zugriff 24.7.2017

-

HRW - Human Rights Watch (16.2.2017): Iraq: Looting, Destruction by Forces Fighting ISIS,

https://www.hrw.org/news/2017/02/16/iraq-looting-destruction-forces-fighting-isis, Zugriff 9.8.2017

-

HRW - Human Rights Watch (29.1.2015): World Report 2015,

http://www.ecoi.net/local_link/295451/416499_en.html, Zugriff 9.8.2017

-

ICG - International Crisis Group (22.3.2017): Counter-terrorism Pitfalls: What the U.S. Fight against ISIS and al-Qaeda Should Avoid,

https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq/003-counter-terrorism-pitfalls-what-us-fight-against-isis-and-al-qaeda-should-avoid, Zugriff 18.7.2017

-

ICG - International Crisis Group (31.5.2017): Reconciling Iraq's Hard Realities,

https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq/iraq-reconciling-hard-realities, Zugriff 1.8.2017

-

IFK - Analysezentrum (9.6.2017): Fact Sheet Irak, Nummer 62, per Email

-

LIP - Das Länderinformationsportal (6.2015): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 8.8.2017

-

MEE - Middle East Eye (12.2.2017): Inter-Shia tension mounts in Baghdad after clashes,

http://www.middleeasteye.net/news/inter-shia-tension-mounts-baghdad-after-clashes-1268563748, Zugriff 13.2.2017

-

NYTimes - New York Times (15.7.2017): Iran Dominates in Iraq After U.S. 'Handed the Country Over', https://www.nytimes.com/2017/07/15/world/middleeast/iran-iraq-iranian-power.html, Zugriff 21.7.2017

-

OA/EASO - Oxford Analytica for the European Asylum Support Office (2.2017): Country Intelligence Report: Iraq, per Email am 25.4.2017

-

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten