TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/13 W177 2126885-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.09.2018
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Entscheidungsdatum

13.09.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W177 2126884-1/26E

W177 2126889-1/24E

W177 2126886-1/21E

W177 2126885-1/21E

W177 2126891-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. am XXXX ,

2. XXXX , geb. am XXXX , 3. XXXX , geb. am, XXXX 4. XXXX , geb. am

XXXX und 5. XXXX , geb. am XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, alle vom 12.04.2016, 1.

XXXX , 2. XXXX , 3. XXXX , 4. XXXX , 5. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.02.2018 zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde der XXXX wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Den Beschwerden von XXXX , XXXX , XXXX und XXXX wird stattgegeben und XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 und Abs. 4 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX damit kraft Gesetzes Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die BeschwerdeführerInnen reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellten am 05.09.2015 erstmals im Bundesgebiet Anträge auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung am 07.09.2015 gab die Zweitbeschwerdeführerin zum Fluchtgrund befragt im Wesentlichen an, dass sie ein Friseurgeschäft gehabt hätte und deshalb von den Taliban und Daesh bedroht worden sei. Der Erstbeschwerdeführer gab an, die Taliban hätten in aufgrund seiner Tätigkeit für das kommunistische Regime bedroht.

I.2. In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 18.02.2016 führte die Zweitbeschwerdeführer zu ihren Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass sie in Pule Khumri ein Kosmetikgeschäft betrieben und Drohbriefe von den Taliban erhalten habe. Der Erstbeschwerdeführer gab an, er sei geflüchtet, weil er wegen seiner Tätigkeit für die Regierung bedroht worden sei und weil seine Frau Drohbriefe der Taliban erhalten habe. Der Drittbeschwerdeführer gab an, sie seien geflüchtet, weil seine Eltern von den Taliban bedroht worden seien.

Am 08.04.2018 wurden die Zweitbeschwerdeführerin und der Erstbeschwerdeführer nochmals niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen.

I.3. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 12.04.2016, zugestellt am 19.04.2016, wies die belangte Behörde die Anträge der BeschwerdeführerInnen hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.), erteilte den BeschwerdeführerInnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der BeschwerdeführerInnen gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

I.4. Mit Verfahrensanordnung vom 14.04.2016 wurde den BeschwerdeführerInnen für ein etwaiges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Rechtsberatungsorganisation zur Seite gestellt.

I.5. Gegen die oben dargestellten Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.04.2016, richtet sich die am 26.04.2016 bei der belangten Behörde eingelangte vollumfängliche Beschwerde.

I.6. Am 08.08.2016 langte eine Beschwerdeergänzung am Bundesverwaltungsgericht ein, in der der Erstbeschwerdeführer zur Beweiswürdigung der belangten Behörde Stellung nimmt und zur Verfolgungsgefahr wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und der Berufstätigkeit der Zweitbeschwerdeführerin ausgeführt wird. Weiter wird ausgeführt, dass die BeschwerdeführerInnen über keinerlei familiären Rückhalt im Herkunftsstaat verfügen würden und im Falle einer Rückkehr in eine ausweglose Lage geraten würden. Mit der Beschwerdeergänzung wurden diverse Berichte zur Lage der Hazara in Afghanistan vorgelegt.

I.7. Das Bundesverwaltungsgericht führe zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 27.02.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Zweitbeschwerdeführerin sowie der Erst- und Drittbeschwerdeführer, ihr bevollmächtigter Rechtsvertreter und eine Dolmetscherin für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Zu Person und Identität der BeschwerdeführerInnen

Die BeschwerdeführerInnen tragen die im Spruch angeführten Namen und sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und bekennen sich innerhalb des schiitischen Islams zur ismailitischen Glaubensrichtung. Die Muttersprache der BeschwerdeführerInnen ist Dari.

Die Zweitbeschwerdeführerin und der Erstbeschwerdeführer sind verheiratet. Die Ehe bestand bereits vor der Einreise. Der Drittbis Fünftbeschwerdeführer sind ihre gemeinsamen minderjährigen Kinder. Eine Tochter und ein weiterer Sohn der Zweitbeschwerdeführerin und des Erstbeschwerdeführers leben bei Verwandten in Pakistan.

Die Identität des BeschwerdeführerInnen steht, mit Ausnahme der Staatsangehörigkeit und Volksgruppenzugehörigkeit, mangels Vorlage identitätsbezeugender Dokumente nicht fest.

Die BeschwerdeführerInnen sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

II.1.2. Zu den Lebensumständen der BeschwerdeführerInnen

Die BeschwerdeführerInnen stammen aus der Provinz Baghlan, Distrikt Puli Khumri

Der Erstbeschwerdeführer besuchte im Herkunftsstaat zwölf Jahre lang die Schule. Etwa um das Jahr 1989 war der Erstbeschwerdeführer für zwei bis zweieinhalb Jahre für das afghanische Handelsministerium tätig. Er arbeitete zuletzt in seinem Restaurant im Herkunftsstaat.

Die Zweitbeschwerdeführerin hat im Herkunftsstaat keine Schule besucht und ist Analphabetin. Sie hat im Herkunftsstaat eine einjährige Ausbildung zur Kosmetikerin absolviert und führte dann einen Kosmetiksalon.

Die BeschwerdeführerInnen haben keine Verwandten mehr in Afghanistan.

II.1.3. Zu den Fluchtgründen der BeschwerdeführerInnen

Die Zweitbeschwerdeführerin erhielt Drohbriefe von den Taliban, in denen sie aufgefordert wurde, ihre Arbeit aufzugeben und ihren Kosmetiksalon zu schließen. Ansonsten wurde ihr angedroht, sie werde mitsamt ihrem Salon verbrannt.

Die Zweitbeschwerdeführerin ist von ihrer persönlichen Wertehaltung her überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert. Insbesondere ihre persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Es ist der Zweitbeschwerdeführerin wichtig, einen Beruf auszuüben. Sie ist auf Eigenständigkeit bedacht und lebt nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition. In diesem Geiste erzieht die Zweitbeschwerdeführerin auch ihre Tochter. In der religiösen Erziehung ihrer Kinder ist sie darauf bedacht, dass diese im Erwachsenenalter selbstständig ihre Religion wählen. Die Familie praktiziert den Islam nicht. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde die Zweitbeschwerdeführerin von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen.

Daher droht der Zweitbeschwerdeführerin im Herkunftsstaat Verfolgung wegen der Nichtbeachtung der herrschenden politischen und religiösen Normen. Dass die afghanischen Behörden den Beschwerdeführer vor dieser Verfolgung schützen wollen bzw. können, ist nicht zu erwarten.

Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative steht der Zweitbeschwerdeführerin nicht zur Verfügung.

Dass dem Erstbeschwerdeführer aufgrund seiner Tätigkeit für das Handelsministerium im Jahr 1989 Verfolgung durch die Taliban droht, kann nicht festgestellt werden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass den BeschwerdeführerInnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara sowie als Angehörige der schiitischen Muslime Verfolgung droht.

Dass dem Erstbeschwerdeführer und den Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern im Herkunftsstaat Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung droht, kann nicht festgestellt werden.

Asylausschlussgründe sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

II.1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat

Auch wenn sich die Situation für Frauen in Afghanistan seit dem Ende der Taliban-Herrschaft im Jahr 2001 erheblich verbessert hat, ist eine vollumfängliche Realisierung ihrer Rechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft schwierig.

Frauen sind in Afghanistan massiven Einschränkungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Ihre Bewegungsfreiheit ohne männliche Begleitung ist eingeschränkt. Sie sind einerseits generellen, alle afghanische Frauen betreffenden Gefährdungen ausgesetzt, wie dem Risiko, Opfer einer Vergewaltigung oder eines sonstigen Übergriffs bzw. Verbrechens zu werden. Bei non-konformem Verhalten (das heißt, bei Verstößen gegen die gesellschaftlichen Normen wie beispielsweise Bekleidungsvorschriften) besteht die Gefahr, einer "Bestrafung" ausgesetzt zu sein.

Das EVAW-Gesetz wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt. Das Gesetz kriminalisiert Gewalt gegen Frauen. Die Umsetzung ist aber mangelhaft.

Die Justiz im Land ist stark konservativ-traditionell geprägt und wird von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt. Dies erschwert die Durch- und Umsetzung von Frauenrechten. Das Personenstandsgesetz enthält insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbrecht und die Beschränkung der Bewegungsfreiheit für Frauen diskriminierende Vorschriften.

Zu den Hindernissen für Erwerbsarbeit außerhalb des Heimes zählen insbesondere die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und sonstige Einschränkungen, (sexuelle) Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, wie auch praktische Hürden, z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung sowie mangelnde Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Frauen sind auch etwa mit Verwandten konfrontiert, die verlangen, sie sollen zu Hause bleiben.

Die Herkunftsprovinz der BeschwerdeführerInnen zählt zu den relativ volatilen Provinzen, in denen es vermehrt zu Aktivitäten der Taliban und zu Zusammenstößen von Regierungskräften und den Taliban kommt.

II.2. Beweiswürdigung:

II.2.1. Zu Person und Identität der BeschwerdeführerInnen

Die Feststellungen zur Identität der BeschwerdeführerInnen, ihrer Staatsangehörigkeit und Herkunft, ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit ergeben sich aus den gleichbleibenden und glaubwürdigen Angaben der Erst- bis DrittbeschwerdeführerInnen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in der Beschwerde sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Auch die belangte Behörde ging in ihrem Bescheid bereits von der Glaubwürdigkeit der Diesbezüglichen Angaben der BeschwerdeführerInnen aus.

Aufgrund der im Verfahren unterlassenen Vorlage eines unbedenklichen nationalen Identitätsdokuments bzw. sonstiger Bescheinigungsmittel konnte die weitere Identität der BeschwerdeführerInnen nicht festgestellt werden. Soweit diese namentlich genannt werden, legt das Gericht auf die Feststellung wert, dass dies lediglich der Identifizierung des Beschwerdeführers als Verfahrenspartei dient, nicht jedoch eine Feststellung der Identität im Sinne einer Vorfragebeurteilung iSd § 38 AVG bedeutet.

Die Unbescholtenheit des Viert- und Fünftbeschwerdeführers ergibt sich aus ihrer Strafunmündigkeit. Die Feststellung zur Unbescholtenheit der Erst- bis DrittbeschwerdeführerInnen ergibt sich aus den im jeweiligen Akt einliegenden Strafregisterauszug.

II.2.2. Zu den Lebensumständen der BeschwerdeführerInnen

Die Feststellungen zu den Lebensumständen der BeschwerdeführerInnen ergeben sich aus deren gleichbleibenden und glaubwürdigen Angaben. Beweiswürdigende Ausführungen zur Berufstätigkeit der Zweitbeschwerdeführerin finden sich auch sogleich weiter unten in der Beweiswürdigung zum Fluchtvorbringen.

II.2.3. Zum Fluchtvorbringen der BeschwerdeführerInnen

Die Feststellung zu den Drohungen der Taliban gegen die Zweitbeschwerdeführerin und deren Aufforderung an die Zweitbeschwerdeführerin, ihre Berufstätigkeit in ihrem Kosmentiksalon einzustellen, ergibt sich insbesondere aus den im Kern gleichbleibenden und glaubwürdigen Angaben der Zweitbeschwerdeführerin. Zum von der belangten Behörde aufgegriffenen vermeintlichen Widerspruch, die Zweitbeschwerdeführerin habe in der Erstbefragungam 07.09.2015 angegeben, ein Friseurgeschäft zu betreiben, um in der Einvernahme vor der belangten Behörde vom 18.02.2016 auszusagen, es sei ein Kosmetikladen gewesen und schlussendlich in der ergänzenden Einvernahme von einem Schminkraum zu sprechen, ist zunächst auszuführen, dass die Erstbefragung gemäß § 19 Abs 1 zweiter Satz AsylG insbesondere der Ermittlung der Identität und Reiseroute dient. Sie hat sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen. Naturgemäß werden daher in der Erstbefragung keine umfangreichen Angaben zu den Fluchtgründen gemacht. Dennoch betrachtet das Bundesverwaltungsgericht, insbesondere, weil die Zweitbeschwerdeführerin angegeben hat, dass sie in ihrem Geschäft Frisuren gemacht, Frauen geschminkt, Nägel gemacht und Augenbrauen gezupft hat, die Bezeichnung des Geschäfts als Schminksalon, Friseurgeschäft oder Kosmetikgeschäft nicht als abweichende Angaben, haben all diese Bezeichnungen doch einen Bezug zu den von der Zweitbeschwerdeführerin in ihrem Geschäft angebotenen Leistungen. Von einem beliebigen Auswechseln der Aussage kann daher keine Rede sein. Den eigentlichen Fluchtgrund, nämlich die Bedrohung durch die Taliban aufgrund ihrer Tätigkeit in Geschäft, nannte die Zweitbeschwerdeführerin allerdings schon in der Erstbefragung und hielt ihn im Kern gleichbleibenden durch alle weiteren Einvernahmen durch die belangte Behörde und auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.02.2018 aufrecht.

Zum von der belangten Behörde aufgegriffenen vermeintlichen Widerspruch, die Zweitbeschwerdeführerin habe zunächst angegeben, jeden Tag Drohbriefe erhalten zu haben, um ihr Vorbringen dann abzuschwächen, es habe sich um lediglich fünf Drohbriefe gehandelt, ist auszuführen, dass das Bundesverwaltungsgericht darin aufgrund der zeitlichen Nähe der beiden Aussagen keinen Widerspruch sieht, sondern dass die Zweitbeschwerdeführerin durch die Wendung "jeden Tag" viel mehr die Regelmäßigkeit des Eintreffens von Drohbriefen hervorstreichen wollte. Insbesondere konkretisiert und korrigiert sie das Vorbringen auf Rückfrage der Behörde sofort dahingehend, dass es sich um fünf Drohbriefe gehandelt habe. Eine der Rechnung der belangten Behörde in ihrer Beweiswürdigung entsprechende Behauptung, sie habe pro Jahr mindestens 365 Drohbriefe erhalten, ergibt sich daraus definitiv nicht. Viel mehr hat die Zweitbeschwerdeführerin durchgehend angegeben, dass sie etwa fünf Drohbriefe erhalten habe.

Die Ausführungen der belangten Behörde dazu, die Zweitbeschwerdeführerin habe den Inhalt der Drohbriefe nur vage widergegeben finden im Protokoll der Einvernahme keine Deckung, hat die Zweitbeschwerdeführerin doch beschrieben, dass sie darin aufgefordert wurde, sie solle ihr Geschäft auflösen, ansonsten werde sie mit ihrem Geschäft verbrannt. Welche weiteren Angaben zum Inhalt die belangte Behörde noch erwartet hätte, erschließt sich dem Bundesverwaltungsgericht nicht.

Zu den Widersprüchen zwischen den Aussagen der Zweitbeschwerdeführerin und jenen des Erstbeschwerdeführers ist auszuführen, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin widerholt und übereinstimmend sinngemäß angegeben haben, dass sie sich nicht in die Arbeit des jeweils anderen einmischen und insbesondere, dass die Zweitbeschwerdeführerin sich allein um ihr Geschäft gekümmert hat und sich der Erstbeschwerdeführer nicht in ihre Angelegenheiten eingemischt hat (siehe z.B. Einvernahmeprotokoll des Erstbeschwerdeführers vom 08.04.2016, S. 4, Einvernahmeprotokoll der Zweitbeschwerdeführerin vom 08.04.2016, S. 5). Damit übereinstimmend erläutert auch der Erstbeschwerdeführer in der Beschwerdeergänzung vom 02.08.2016 nochmals, dass er fast nichts über die Berufstätigkeit seiner Frau und ihr Geschäft wisse und erklärt auch, dass er falsche Angaben zur Berufstätigkeit seiner Frau gemacht hätte, weil er sich in dieser schwierigen Situation gezwungen gesehen habe, irgendwelche Angaben zu erstatten. Dass der Erstbeschwerdeführer in der ergänzenden Einvernahme vom 08.04.2016 unter Druck gesetzt wurde, Fragen zur Berufstätigkeit seiner Frau zu beantworten, obwohl er keine Antwort wusste, findet im Einvernahmeprotokoll vom 08.04.2016 Bestätigung, wo der einvernehmende Referent den Erstbeschwerdeführer darauf, dass er die Distanz zwischen Wohnort und Geschäft nicht wisse, wortwörtlich fragt: "Verweigern Sie die Mitarbeit?" (S. 6). Daher erscheint die Erklärung, die der Beschwerdeführer für die Widersprüche gibt, als durchaus plausibel. Nichtsdestotrotz soll auf einige der von der belangten Behörde in ihrer Beweiswürdigung erwähnten (vermeintlichen) Widersprüche eingegangen werden, insbesondere, nämlich auf jene, die mit einer Unwissenheit des Erstbeschwerdeführers über die Details der Geschäftstätigkeiten seiner Frau nicht erklärt werden können:

Der Widerspruch, den die belangte Behörde in den Beschreibungen des ersten Drohbriefes der Taliban durch den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sehen will, erscheint konstruiert: So geben beide übereinstimmend an, dass es sich um ein zwei Mal gefaltetes, mit blauer Schrift beschriebenes Blatt Papier handelte, das in einem Kuvert unter der Tür des Geschäfts durchgeschoben worden sei. Zum vermeintlichen Widerspruch im Format ist zunächst auszuführen, dass die Zweitbeschwerdeführerin auf die Frage, wie groß das Papier gewesen sei, antwortet: "Es war ein A4 Zettel [...]" (Einvernahmeprotokoll vom 18.02.2016, S. 8). Der Erstbeschwerdeführer wurde dagegen gefragt, worauf diese Drohungen geschrieben worden seien, worauf er antwortete: "Auf die Hälfte von einem A4 Blatt Papier" (Einvernahmeprotokoll vom 18.02.2016, S. 11), woraus sich in Zusammenschau mit der Frage wohl ergibt, dass der Beschwerdeführer zweifellos meinte, dass es sich um ein Blatt im A4-Format handelt, das nur zur Hälfte beschrieben war, hätte der Beschwerdeführer doch ansonsten gesagt, es hätte sich um ein Blatt im A5 Format gehandelt, statt sich einer derartig umständlichen Formulierung zu bedienen.

Auch die vermeintlichen Widersprüche zum weiteren Verfahren mit den Drohbriefen durch die Zweitbeschwerdeführerin findet in den protokollierten Aussagen keine Deckung, gaben doch beide übereinstimmend an, die Zweitbeschwerdeführerin habe lediglich den ersten Drohbrief nachhause genommen, um ihn sich vom Gatten vorlesen zu lassen, da sie selbst Analphabetin sei. Die anderen Drohbriefe habe sie im Geschäft zerrissen und verbrannt (Einvernahmeprotokoll vom 18.02.2016, S. 8-9). Damit übereinstimmend gibt der Erstbeschwerdeführer an, sie hätten die Briefe zerrissen und verbrannt und konkretisiert auf Nachfrage dahingehend: "Meine Frau hat diese Briefe beseitigt." (Einvernahmeprotokoll vom 18.02.2016, S. 11).

Zu den vermeintlichen Widersprüchen zwischen den Aussagen der Zweitbeschwerdeführerin und jenen des Drittbeschwerdeführers ist zunächst auszuführen, dass die belangte Behörde es verabsäumt hat zu erläutern, welche konkreten Widersprüche bestehen und sich im die Zweitbeschwerdeführerin betreffenden Bescheid im Wesentlichen darauf beschränkt, die Aussage des Drittbeschwerdeführers widerzugeben. Anzumerken ist auch, dass der Drittbeschwerdeführer im Ausreisezeitpunkt ein Kind von etwa 13 Jahren war und der Erstbeschwerdeführer (Einvernahmeprotokoll vom 18.02.2016, S. 11) auch angibt, dass die Kinder von den Drohbriefen nicht informiert worden seien. Auch der Drittbeschwerdeführer gibt an, er habe dies nur "hinter der Tür" mitbekommen (Einvernahmeprotokoll vom 18.02.2016, S. 5) was mit Blick auf das Alter der Kinder absolut logisch und nachvollziehbar erscheint und insbesondere erklärt, dass der Drittbeschwerdeführer nicht viel mehr über die Situation weiß, als dass eine Bedrohung durch die Taliban besteht. Die Angaben zu den Berufen der Eltern und insbesondere zum Geschäft der Mutter stimmen allerdings mit den Aussagen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin überein.

Zusammengefasst ergibt sich aus sämtlichen Einvernahmen der Zweitbeschwerdeführerin und auch jenen des Erstbeschwerdeführers und aus deren Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.02.2018, dass ein zur Bedrohung der Zweitbeschwerdeführerin durch die Taliban im Kern gleichbleibende Angaben gemacht wurden, die durchaus detailreich und lebensnah ein glaubwürdiges auf die Zweitbeschwerdeführerin bezogenes Bedrohungsszenario durch die Taliban schildern.

Gestützt wird das Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin zur Bedrohung durch die Taliban auch durch das vorliegende Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Stand 30.01.2018, aus dem sich eine Präsenz der Taliban in der Herkunftsprovinz der BeschwerdeführerInnen ergibt (siehe, Kapitel 3.4. Baghlan, S. 62 f., das unten noch zitiert wird), sowie dass regierungsfeindliche Elemente (darunter insbesondere die Taliban) ihren Einfluss durch Bedrohungen, Entführungen und gezielten Tötungen zu verstärken suchen (Kapitel 3. Sicherheitslage, S. 47).

Auch der persönliche Eindruck, den das Bundesverwaltungsgericht in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 27.02.2018 von den beiden gewinnen konnte, spricht dafür, dass das Vorbringen zu den Drohungen gegen die Zweitbeschwerdeführerin durch die Taliban glaubwürdig ist, mag es auch im Detail zu unbedeutenden Abweichungen in den Aussagen der BeschwerdeführerInnen gekommen sein.

Die Feststellungen zur persönlichen Werthaltung der Zweitbeschwerdeführerin ergeben sich insbesondere aus ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.02.2018, wo die Zweitbeschwerdeführerin durch ihre spontanen und emotional überzeugend wirkenden Antworten den persönlichen Eindruck vermitteln konnte, dass sie am "westlichen" Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Auch dass die Zweitbeschwerdeführerin trotz ihres Wissens um die Gefahr, die dies bedeutet, (Verhandlungs-Protokoll, S. 9: "Es wird grundsätzlich nicht gut gesehen, wenn Frauen dort arbeiten. Ich habe das aber trotzdem gemacht, ich habe einen Beruf gehabt, den ich ausüben wollte.") schon im Herkunftsstaat versucht hat, ihre persönliche Werthaltung insbesondere durch ihre Berufstätigkeit auch auszuleben, zeugt von ihrer tiefen inneren Überzeugung von dieser persönlichen Werthaltung. Diese tiefe Überzeugung drückte die Zweitbeschwerdeführerin auch bereits in ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 18.02.2016 aus, als sie angab, sie sei gezwungen gewesen, zu arbeiten, weil sie sich selbst gesagt habe, sie müsse arbeiten, obwohl dies aufgrund der finanziellen Lage der Familie im Herkunftsstaat nicht zwingend erforderlich war. Dass es nunmehr in Österreich zu einer weiteren Verfestigung dieser inneren Überzeugung gekommen ist, hat sich in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 27.02.2018 deutlich aus den Angaben der Zweitbeschwerdeführerin und dem persönlichen Eindruck, den sie dabei vermittelt hat, ergeben.

Das Bundesverwaltungsgericht musste daher zu dem Schluss kommen, dass es sich bei der Zweitbeschwerdeführerin um eine moderne Frau handelt, die das streng konservativ-afghanische Frauenbild und die konservativ-afghanische Tradition bereits in Afghanistan abgelehnt hat und demgegenüber stark westliche Werte verinnerlicht hat und - aus Überzeugung und in Abkehr zu der konservativ-afghanischen Tradition - auch danach lebt. Die Zweitbeschwerdeführerin hat in der Beschwerdeverhandlung verdeutlicht, dass sie ihr Äußeres und ihre Lebensführung an das Leben westlicher Frauen anpassen will und dass sie sich vor - in Afghanistan für Frauen üblichen - traditionellen Einschränkungen und gesellschaftlichen Vorgaben fürchtet. Auch das äußere Erscheinungsbild der Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG war ein dahingehendes Indiz.

Sie hat glaubhaft dargelegt, vom Willen getragen zu sein, den Alltag selbständig und ohne Hilfe ihres Ehegatten zu bestreiten und sich in Österreich entsprechend weiterzubilden und beruflich Fuß zu fassen.

Es steht die nach außen hin auch erkennbare persönliche Wertehaltung zu der in der afghanischen Gesellschaft vorherrschenden konservativ-restriktiven Wertehaltung hinsichtlich der Rolle und Stellung von Frauen im eindeutigen Widerspruch. Die persönliche und nach außen offen dargelegte Wertehaltung der Zweitbeschwerdeführerin an ein würdiges Leben als Frau steht zu der in Afghanistan weiterhin vorherrschenden Situation für Frauen im völligen Gegensatz. In einer Gesamtschau der Angaben der Zweitbeschwerdeführerin im gesamten Verlauf des Verfahrens und aus den dargelegten Erwägungen erscheint das Vorbringen der Beschwerdefühererin zu ihrer Furcht vor Verfolgung in Afghanistan insgesamt als glaubhaft. Es ist daher davon auszugehen, dass der Beschwerdefühererin im Fall der Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus asylrelevanten Gründen drohen würde und die staatlichen Einrichtungen Afghanistans nicht in der Lage sein würden, der Beschwerdefühererin vor dieser Verfolgung im ausreichenden Maß Schutz zu bieten.

Die Feststellung, dass der Zweitbeschwerdeführerin aufgrund dieser persönlichen Werthaltung Verfolgungsgefahr droht, ergibt sich insbesondere aus Informationen zum Herkunftsstaat. Im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand: 30.01.2018 (Kapitel 17, S. 176 ff.) heißt es zur Lage der Frauen in Afghanistan im Wortlaut:

"17. Frauen

Jahrzehntelanger Kampf gegen patriarchale und frauenfeindliche Normen, führte zu einer Sensibilisierung in Bezug auf Frauen und ihrer Rechte. Allmählich entwickelt sich die Rolle von Frauen in politischen und wirtschaftlichen Bereichen (AF 7.12.2016). Die Situation der Frauen hat sich seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert; die vollumfängliche Realisierung ihrer Rechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft bleibt schwierig. Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016).

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (Max Planck Institut 27.1.2004). Ein Meilenstein in dieser Hinsicht war die Errichtung des afghanischen Ministeriums für Frauenangelegenheiten (MoWA) im Jahr 2001 (BFA Staatendokumentation 3.2014).

Bildung

Afghanistan ist eine Erfolgsgeschichte in der Verbesserung des Zugangs zu Bildung - auch für Mädchen (Education for Development 7.7.2015). Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.2014).

Artikel 43 der afghanischen Verfassung besagt, dass alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung haben. Laut Artikel 4 des afghanischen Bildungsgesetzes ist mittlere (elementare) Bildung in Afghanistan verpflichtend. Artikel 43 der afghanischen Verfassung besagt, dass alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung haben (SIGAR 4.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004).

Seit dem Jahr 2000 hat sich die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Schule besuchen von 2,5 Jahren auf 9,3 Jahre erhöht (AF 2015). Das afghanische Bildungsministerium errichtete gemeinsam mit USAID und anderen Gebern, mehr als 16.000 Schulen; rekrutierte und bildete mehr als 154.000 Lehrerinnen und Lehrer aus, und erhöhte die Zahl der Schuleinschreibungen um mehr als 60%. Das Bildungsministerium gibt die Zahl der Schüler/innen mit ca. 9 Millionen an, davon sind etwa 40% Mädchen. Frauen und Mädchen gehen öfter zu Schule wenn sie keine langen Distanzen zurücklegen müssen. USAID hat 84.000 afghanische Mädchen dabei unterstützt Schulen innerhalb ihrer Gemeinden besuchen zu können, damit sich nicht durch teilweise gefährliche Gegenden pendeln müssen (USAID 19.12.2016).

Laut dem afghanischen Statistikbüro, gab es landesweit 15.645 Schulen, 9.184.494 Schüler/innen, davon waren 362.906 weiblich. Diese Zahlen beinhalten alle Schultypen, dazu zählen Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren, etc. Die Zahl der Schülerinnen hat sich im Zeitraum 2015-2016 zum Vergleichszeitraum 2014 - 2015 um 2,2% erhöht. Die Gesamtzahl der Lehrer/innen betrug 199.509, davon waren

63.911 Frauen (CSO 2016).

Frauenuniversität in Kabul

Seit dem Jahr 2008 hat sich die Studierendenzahl in Afghanistan um 50% erhöht. Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (The Economist 13.8.2016; vgl. auch:

MORAA 31.5.2016).

Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (Khaama Press 18.10.2015; vgl. auch:

University Herold 18.10.2015); im ersten Lehrgang waren 28 Student/innen eingeschrieben, wovon 10 Männer waren (University Herold 18.10.2015).

Berufstätigkeit

Für viele Frauen ist es noch immer sehr schwierig, außerhalb des Bildungs- und Gesundheitssektors Berufe zu ergreifen. Einflussreiche Positionen werden abhängig von Beziehungen und Vermögen vergeben (AA 9.2016). Oft scheitern Frauen schon an den schwierigen Transportmöglichkeiten und eingeschränkter Bewegungsfreiheit ohne männliche Begleitung (AA 9.2016; vgl. auch: USDOS 13.4.2016).

Bemerkenswert ist die Steigerung jener Afghan/innen, die der Meinung sind, Frauen sollen sich bilden und außerhalb des Heimes arbeiten dürfen. Bei einer Befragung gaben 81% der Befragten an, Männer und Frauen sollten gleiche Bildungschancen haben (The Diplomat 9.12.2016; vgl. auch: AF 7.12.2016).

Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig verbessert und betrug im Jahr 2016 19%. Rund 64% der Afghan/innen befürworteten Frauen außerhalb ihres Heimes arbeiten zu dürfen. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen: Einschränkungen, Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UN Women 2016). Die Alpahbetisierungsrate bei Frauen in Afghanistan liegt durchschnittlich bei 17%, in manchen Provinzen sogar unter 2% (UN Women 2016; vgl. auch: UNESCO Institute for statistics o.D.). In der Altersklasse der 15 - 24 jährigen betrug die Alphabetisierungsrate im Jahr 2015 bei Frauen 46,11%, bei den über 65-jährigen 4,33% (UNESCO Institute for statistics o.D.).

Viele Frauen haben sich in bedeutenden Positionen in den verschiedenen Bereichen von nationaler Wichtigkeit entwickelt, dazu zählen Politik, Wirtschaft und die Zivilgesellschaft. Der Raum für weibliche Führungskräfte bleibt eingeschränkt, von Gebern abhängig und ist hauptsächlich in den Städten vertreten. Frauen sind im Privatsektor unterrepräsentiert und haben keine aktive Rolle in der Wirtschaftsproduktion. Unsicherheit, Belästigung, Immobilität, religiöser Extremismus und Korruption sind verbreitet. Begriffe wie zum Beispiel Geschlechtergleichstellung werden weiterhin missverstanden. Frauen in Führungspositionen werden als symbolisch betrachtet, werden politisch mangelhaft unterstützt, haben schwach ausgebildete Entscheidungs- und Durchsetzungskompetenzen und mangelnden Zugang zu personellen und finanziellen Mitteln (USIP 9.2015). Frauen sind im Arbeitsleben mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert, etwa Verwandte, die verlangen sie sollen zu Hause bleiben; oder Einstellungsverfahren, die Männer bevorzugten. Jene die arbeiteten, berichteten von sexueller Belästigung, fehlenden Transport- und Kinderbetreuungsmöglichkeiten; Benachteiligungen bei Lohnauszahlungen existieren im Privatsektor. Journalistinnen, Sozialarbeiterinnen und Polizistinnen berichteten von, Drohungen und Misshandlungen (USDOS 13.4.2016).

Frauen machen 30% der Medienmitarbeiter/innen aus. Teilweise leiten Frauen landesweit Radiostationen - manche Radiostationen setzten sich ausschließlich mit Frauenangelegenheiten auseinander. Nichtsdestotrotz, finden Reporterinnen es schwierig ihren Job auszuüben. Unsicherheit, fehlende Ausbildung und unsichere Arbeitsbedingungen schränken die Teilhabe von Frauen in den Medien weiterhin ein (USDOS 13.4.2016).

Frauen im öffentlichen Dienst

Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vgl. auch: USDOS 13.4.2016). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Die von Präsident Ghani bewirkten Wahlreformen sehen zudem Frauenquoten von 25% der Sitze für Provinz- und Distriktratswahlen vor; zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Independent Election Commission) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung hat derzeit vier Ministerinnen (von insgesamt 25 Ministern) (AA 9.2016). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UN Women 2016). Frauen in hochrangigen Regierungspositionen waren weiterhin Opfer von Drohungen und Gewalt (USDOS 13.4.2016).

Das Netzwerk von Frauenrechtsaktivistinnen "Afghan Women's Network" berichtet von Behinderungen der Arbeit seiner Mitglieder bis hin zu Bedrohungen und Übergriffen, teilweise von sehr konservativen und religiösen Kreisen (AA 9.2016).

Frauen in den afghanischen Sicherheitskräften

Polizei und Militär sind Bereiche, in denen die Arbeit von Frauen besonders die traditionellen Geschlechterrollen Afghanistans herausfordert. Der Fall des Taliban-Regimes brachte, wenn auch geringer als zu Beginn erwartet, wesentliche Änderungen für Frauen mit sich. So begannen Frauen etwa wieder zu arbeiten (BFA Staatendokumentation 26.3.2014). Im Jahr 2016 haben mehr Frauen denn je die Militärschule und die Polizeiakademie absolviert (AF 7.12.2016). Das Innenministerium bemüht sich um die Einstellung von mehr Polizistinnen, allerdings wird gerade im Sicherheitssektor immer wieder über Gewalt gegen Frauen berichtet. Die afghanische Regierung hat sich bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen ehrgeizige Ziele gesetzt und plant u.a. in der ersten Jahreshälfte 2016 ein Anti-Diskriminierungspaket für Frauen im öffentlichen Sektor zu verabschieden. Dieses ist allerdings bisher noch nicht geschehen (AA 9.2016). 2.834 Polizistinnen sind derzeit bei der Polizei, dies beinhaltete auch jene die in Ausbildung sind (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: Sputnik News 14.6.2016). Laut Verteidigungsministerium werden derzeit 400 Frauen in unterschiedlichen Bereichen des Verteidigungsministeriums ausgebildet: 30 sind in der nationalen Militärakademie, 62 in der Offiziersakademie der ANA, 143 in der Malalai Militärschule und 109 Rekrutinnen absolvieren ein Training in der Türkei (Tolonews 28.1.2017).

Im Allgemeinen verbessert sich die Situation der Frauen innerhalb der Sicherheitskräfte, bleibt aber weiterhin fragil. Der Schutz von Frauenrechten hat in größeren städtischen Gegenden, wie Kabul, Mazar-e Sharif und in der Provinz Herat, moderate Fortschritte gemacht; viele ländliche Gegenden sind extrem konservativ und sind aktiv gegen Initiativen, die den Status der Frau innerhalb der Gesellschaft verändern könnte (USDOD 6.2016).

Auch wenn die Regierung Fortschritte machte, indem sie zusätzliche Polizistinnen rekrutierte, erschweren kulturelle Normen und Diskriminierung die Rekrutierung und den Verbleib in der Polizei (USDOS 13.4.2016).

Teilnahmeprogramme für Frauen in den Sicherheitskräften

Initiiert wurde ein umfassendes Programm zur Popularisierung des Polizeidienstes für Frauen (SIGAR 30.7.2016; vgl. auch: Sputnik News 5.12.2016). Dies Programm fördert in verschiedenster Weise Möglichkeiten zur Steigerung der Frauenrate innerhalb der ANDSF (SIGAR 30.7.2016). Das afghanische Innenministerium gewährte im Vorjahr 5.000 Stellen für Frauen bei der Polizei, diese Stellen sind fast alle noch immer vakant (Sputnik News 5.12.2016; vgl. auch:

SIGAR 30.7.2016). Eines der größten Probleme ist, dass sowohl junge Mädchen als auch Ehefrauen in ihren Familien nichts selbständig entscheiden dürften (Sputnik News 5.12.2016). Die afghanische Nationalpolizei schuf zusätzlich neue Posten für Frauen - womit sich deren Zahl auf 5.969 erhöhte; 5.024 dieser Posten sind innerhalb der afghanischen Nationalpolizei, 175 in Gefängnissen und Haftanstalten, sowie 770 zivile Positionen (SIGAR 30.7.2016). Im Juni 2016 verlautbarten die Behörden in Kabul, bis März 2017 die Polizei mit 10.000 neuen Stellen für weibliche Polizeikräfte aufzustocken. Die Behörden möchten der steigenden Gewalt gegen Frauen in Afghanistan entgegentreten und effektiver gegen die Terrorbedrohung und den Drogenhandel im Land vorgehen (Sputnik News 14.6.2016).

Seit fast einem Jahrzehnt schaffen afghanische Behörden massiv Arbeitsstellen für Frauen bei der Polizei und versuchen alljährlich den Frauenanteil zu erhöhen. Das dient vor allem dazu, den Afghaninnen Schutz zu gewähren. Wenn Verdächtigte und mutmaßliche Verbrecher Frauen seien, werden Polizistinnen bevorzugt. Allerdings haben Beamtinnen wegen ihres Polizeidienstes öfter Probleme mit ihren konservativen Verwandten (Sputnik News 14.6.2016). Im Arbeitskontext sind Frauen von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen: so sind z. B. Polizistinnen massiven Belästigungen und auch Gewalttaten durch Arbeitskollegen oder im direkten Umfeld ausgesetzt (AA 9.2016; vgl. auch: Sputnik News 14.6.2016).

Strafverfolgung und Unterstützung

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 9.2016). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten, und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 9.2016; vgl. USDOS 13.4.2016). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen und nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016)

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 9.2016). Gleichzeitig führt aber eine erhöhte Sensibilisierung auf Seiten der afghanischen Polizei und Justiz zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen, hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016; vgl. auch: USDOS 13.4.2016). In der patriarchalischen Gesellschaft Afghanistans trauen sich Frauen selbst oftmals nicht, an Polizisten zu wenden (Sputnik News 14.6.2016).

Anlässlich des dritten "Symposium on Afghan Women's Empowerment" im Mai 2016 in Kabul bekräftigte die afghanische Regierung auf höchster Ebene den Willen zur weiteren Umsetzung. Inwieweit sich dies in das System an sich und bis in die Provinzen fortsetzt, ist zumindest fraglich (AA 9.2016).

Das EVAW-Gesetz wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: AA 9.2016; UN Women 2016); und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt. Dennoch ist eine Verabschiedung des EVAW-Gesetzes durch beide Parlamentskammern noch ausständig und birgt die Gefahr, dass die Inhalte verwässert werden (AA 9.2016). Das Gesetz kriminalisiert Gewalt gegen Frauen, inklusive Vergewaltigung, Körperverletzung, Zwangsverheiratung bzw. Kinderheirat, Erniedrigung, Einschüchterung und Entzug des Erbes, jedoch war die Umsetzung eingeschränkt. Im Falle von Vergewaltigung sieht das Gesetz eine Haftstrafe von 16-20 Jahren vor. Sollte die Vergewaltigung mit dem Tod eines Opfers enden, sieht das Gesetz die Todesstrafe für den Täter vor. Der Straftatbestand der Vergewaltigung beinhaltet nicht Vergewaltigung in der Ehe. Das Gesetz wurde nicht weitgehend verstanden und manche öffentliche und religiöse Gemeinschaften erachteten das Gesetz als unislamisch. Der politische Wille das Gesetz umzusetzen und seine tatsächliche Anwendung ist begrenzt (USDOS 13.4.2016). Außerhalb der Städte wird das EVAW-Gesetz weiterhin nur unzureichend umgesetzt (AA 9.2016). Laut Angaben von Human Rights Watch, verabsäumte die Regierung Verbesserungen des EVAW-Gesetzes durchzusetzen. Die Regierung verabsäumt ebenso die Verurteilung sogenannter Moral-Verbrechen zu stoppen, bei denen Frauen, die häuslicher Gewalt und Zwangsehen entfliehen, zu Haftstrafen verurteilt werden (HRW 27.1.2016). Die Regierung registrierte 5.406 Fälle von Gewalt an Frauen, 3.715 davon wurden unter dem EVAW-Gesetz eingebracht (USDOS 13.4.2016). Einem UNAMA-Bericht zufolge, werden 65% der Fälle, die unter dem EVAW-Gesetz eingebracht werden (tätlicher Angriff und andere schwerwiegende Misshandlungen) durch Mediation gelöst, während 5% strafrechtlich verfolgt werden (HRW 27.1.2016).

Die erste EVAW-Einheit (Law on the Elimination of Violence Against Women) wurde im Jahre 2010 durch die afghanische Generalstaatsanwaltschaft initiiert und hat ihren Sitz in Kabul (USDOS 13.4.2016). Die Generalstaatsanwaltschaft erhöhte weiterhin die Anzahl der EVAW-Einheiten. Mit Stand September 2015 existieren sie mittlerweile in 20 Provinzen. In anderen Provinzen wurde Staatsanwälten durch die Generalstaatsanwaltschaft Fälle zur Behandlung zugeteilt. Im März hielt das Büro der Generalstaatsanwaltschaft das erste nationale Treffen von EVAW-Staatsanwälten ab, um die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen EVAW-Einheiten in den Provinzen zu fördern und gemeinsame Probleme zu identifizieren (USDOS 13.4.2016). Ein im April veröffentlichter Bericht der UNAMA zu Erfahrungen von 110 rechtssuchenden Frauen im Justizsystem; zeigte, dass sich die Effektivität der Einheiten stark unterschied, diese aber dennoch Frauen, die Gewalt erlebt hatten, ermutigten ihre Fälle zu verfolgen (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: UNAMA 4.2015).

Der UN-Sonderberichterstatter zu Gewalt an Frauen berichtet von Frauen in Afghanistan, die das formelle Justizsystem als unzugänglich und korrupt bezeichnen; speziell dann wenn es um Angelegenheiten geht, die die Rechte von Frauen betreffen - sie bevorzugen daher die Mediation (USDOS 13.4.2016).

Die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission - AIHRC), veröffentlichte einen Bericht, der 92 Ehrenmorde auflistete (Berichtszeitraum: März 2014 - März 2015), was eine Reduzierung von 13% gegenüber dem Vorjahr andeutete. Diesem Bericht zufolge wurden auch 67% der Täterbei Vergewaltigung oder Ehrenmord verhaftet; 60% wurden verurteilt und bestraft (USDOS 13.4.2016).

Wenn Justizbehörden das EVAW-Gesetz beachten, war es Frauen in manchen Fällen möglich angemessene Hilfe zu erhalten. Staatsanwält/innen und Richter/innen in abgelegenen Provinzen ist das EVAW-Gesetz oft unbekannt, andere werden durch die Gemeinschaft unter Druck gesetzt um Täter freizulassen. Berichten zufolge, geben Männer, die der Vergewaltigung bezichtigt werden, oft an, das Opfer hätte dem Geschlechtsverkehr zugestimmt, was zu "Zina"-Anklagen gegen die Opfer führt (USDOS 13.4.2016).

Im Juni 2015 hat die afghanische Regierung den Nationalen Aktionsplan für die Umsetzung der VN-SR-Resolution 1325 auf den Weg gebracht (AA 9.2016; vgl. auch: HRW 12.1.2017). Dennoch war bis November 2016 kein finales Budget für den Umsetzungsplan aufgestellt worden (HRW 12.1.2017).

Gewalt an Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord (AA 9.2016). In den ersten acht Monaten des Jahres 2016 dokumentierte die AIHRC 2.621 Fälle häuslicher Gewalt - in etwa dieselbe Zahl wie im Jahr 2015; obwohl angenommen wird, die eigentliche Zahl sei viel höher (HRW 12.1.2017). Die AIHRC berichtet von mehr als 4.250 Fällen von Gewalt an Frauen, die in den ersten neun Monaten des afghanischen Jahres (beginnend März 2015) gemeldet wurden (USDOS 13.4.2016). Diese Fälle beinhalten unterschiedliche Formen von Gewalt: physische, psychische, verbale, sexuelle und wirtschaftliche. In den ersten sechs Monaten des Berichtszeitraumes wurden 190 Frauen und Mädchen getötet; in 51 Fällen wurde der Täter verhaftet (Khaama Press 23.3.2016).

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Darüber hinaus kommt immer wieder vor, dass Frauen inhaftiert werden, wenn sie z.B. eine Straftat zur Anzeige bringen, von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, Vergewaltigung werden oder von zu Hause weglaufen (kein Straftatbestand, aber oft als Versuch der zina gewertet) (AA 9.2016).

Ehrenmorde

Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 2.7.2014). Mädchen unter 18 Jahren sind auch weiterhin dem Risiko eines Ehrenmordes ausgesetzt, wenn eine außereheliche sexuelle Beziehung angenommen wird, wenn sie vor Zwangsverheiratung davonlaufen oder Opfer eines sexuellen Übergriffs werden. Die AIHRC gab bekannt, zwischen März 2014 und März 2015 92 Ehrenmorde registriert zu haben (USDOS 13.4.2016).

Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist Misstrauen in das juristische System durch einen Großteil der afghanischen Bevölkerung (Khaama Press 23.3.2016).

Legales Heiratsalter:

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (Girls not brides 2016). Ein Mädchen, welches jünger als 16 Jahre ist, kann mit der Zustimmung eines Vormunds oder eines zuständigen Gerichtes heiraten. Die Vermählung von Mädchen unter 15 Jahren ist auch weiterhin üblich (USDOS 13.4.2016). Die UN und HRW schätzen die Zahl der Zwangsehen auf 70% (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: AA 9.2016).

In Fällen von Gewalt oder unmenschlicher traditioneller Praktiken laufen Frauen oft von zu Hause weg, oder verbrennen sich sogar selbst (USDOS 13.4.2016). Darüber hinaus kommt immer wieder vor, dass Frauen inhaftiert werden, wenn sie z.B. eine Straftat zur Anzeige bringen, von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, Vergewaltigung werden oder von zu Hause weglaufen (AA 9.2016).

Frauenhäuser

USDOS zählt 28 formelle Frauenhäuser- um einige Frauen vor Gewalt durch die Familien zu schützen, nahmen die Behörden diese in Schutzhaft. Die Behörden wandten die Schutzhaft auch dann an, wenn es keinen Platz in Frauenhäusern gab (USDOS 13.4.2016).

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre. Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden (AA 9.2016).

Die Schwierigkeit für eine nachhaltige Lösung für Frauen, war der soziale Vorbehalt gegen Frauenhäuser, nämlich der Glaube, das "Weglaufen von zu Hause" sei eine ernsthafte Zuwiderhandlung gegen gesellschaftliche Sitten. Frauen, die vergewaltigt wurden, wurden von der Gesellschaft als Ehebrecherinnen angesehen (USDOS 13.4.2016).

Berichten zufolge, würde das MoWA, aber auch NGOs, versuchen Ehen für Frauen zu arrangieren, die nicht zu ihren Familien zurückkehren konnten (USDOS 13.4.2016).

Medizinische Versorgung - Gynäkologie

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22 % (überwiegend in den Städten und gebildetere Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 9.2016). [...]"

Die Feststellung zur Schutzunfähigkeit bzw. Schutzunwilligkeit wird vom Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 30.01.2018 (S. 143 ff.) belegt und ergibt sich auch aus den bereits oben zitierten Passagen zur Lage der Frauen in Afghanistan (Kapitel 17, Unterkapitel Strafverfolgung und Unterstützung, S. 181 ff.), denen zufolge die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt ist und überwiegend von männlichen Richtern und traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird und staatliche Akteure aller drei Gewalten häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen und nicht gewillt sind, Frauenrechte zu schützen. Aus diesen Informationen ergibt sich auch, dass der Zweitbeschwerdeführerin eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zur Verfügung steht, weil sich die Problematik der Durchsetzung von Frauenrechten den vorliegenden Informationen zufolge auf das gesamte Staatsgebiet Afghanistans bezieht.

Zum Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers, er sei aufgrund seiner Tätigkeit für die Regierung bedroht worden, ist den beweiswürdigenden Ausführungen der belangten Behörde zu folgen, die das diesbezügliche Vorbringen des Erstbeschwerdeführers aufgrund der detailarmen Schilderung als vage und nicht glaubwürdig qualifiziert. Der Erstbeschwerdeführer gibt befragt zu dieser Bedrohung tatsächlich lediglich an, er habe davon von seinem Gehilfen im Restaurant erfahren und beide wüssten nicht, um wen es sich bei den Personen handle, die nach dem Erstbeschwerdeführer gefragt hätten. Das Beschwerdevorbringen erscheint auch insofern unplausibel, als der Beschwerdeführer lange vor der Herrschaft der Taliban (die wohlgemerkt im Jahr 2001 endete) für die Regierung gearbeitet hat und offenbar - nachdem er gegenteiliges nicht erwähnt hat - während der Herrschaft der Taliban unbehelligt blieb, um dann plötzlich mehr als zwei Jahrzehnte später wegen einer Tätigkeit für die Regierung bedroht zu werden. Das Vorbringen erscheint damit nicht lebensnah und unglaubwürdig.

Zur Feststellung, dass den BeschwerdeführerInnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und ihrer Eigenschaft als Angehörige der schiitischen Muslime keine Verfolgung droht, sei insbesondere auf die herangezogenen Länderberichte verwiesen. Aus diesen ergibt sich zwar, dass schiitische Angehörige der Volksgruppe der Hazara Diskriminierungen ausgesetzt sind und dass es zu Angriffen, Entführungen etc. kommt. Diesen Vorfällen kommt jedoch eine asylrelevant hohe Intensität nicht zu, wie rechtlich noch genauer auszuführen sein wird. Im Wortlaut heißt es im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Stand: 30.01.2018, (Kapitel 16 über Ethnische Minderheiten, S. 170 ff.) zur Lage der Hazara:

"16. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2016 mehr als 33.3 Millionen Menschen (CIA 12.11.2016). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (Staatendokumentation des BFA 7.2016).

Schätzungen zufolge, sind: 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen (GIZ 1.2017).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet."

(Staatendokumentation des BFA 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 13.4.2016).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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