TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/25 I408 1205091-4

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Veröffentlicht am 25.09.2018
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Entscheidungsdatum

25.09.2018

Norm

ASVG §5 Abs2
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.8
NAG §14a Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs5

Spruch

I408 1205091-4/10E

schriftliche Ausfertigung des am 20.08.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Harald NEUSCHMID als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX alias XXXX geb. XXXX StA. MAROKKO, vertreten durch: RA Mag. Michael-Thomas REICHENVATER gegen den Bescheid des BFA, Regionaldirektion Steiermark (BAG) vom 07.03.2018, Zl. 13-770862506-3120434, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.08.2018 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

Gemäß § 9 BFA-VG wird festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gegen XXXX geb. am XXXX StA Marokko, auf Dauer unzulässig und XXXX eine Aufenthaltsberechtigung plus gemäß §§ 54, 55 und 58 AsylG erteilt wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Mit ho. Erkenntnis vom 12.04.2017 wurde der dritte Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 02.09.2007, abgewiesen und das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 75 Abs 20 AsylG zurückverwiesen.

2. Mit dem darauf ergangenen verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 07.03.2018 erteilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt I.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II.) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Marokko zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gleichzeitig aberkannte sie einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung (Spruchpunkt IV.) und erließ gegen den Beschwerdeführer ein unbefristetes Einreiseverbot. (Spruchpunkt V.)

3. Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer über seine Rechtsvertretung am 26.03.2018 Beschwerde in vollem Umfang und beantragte die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.

4. Mit ho. Beschluss vom 05.04.2018 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

5. Am 20.08.2018 fand im Beisein des Beschwerdeführers und seiner Familie vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, in der das gegenständliche Erkenntnis mündlich verkündet wurde.

6. Mit Schreiben vom 21.08.2018 beantragte die belangte Behörde die schriftliche Ausfertigung dieses Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist marokkanischer Staatsbürger und hält sich nach illegaler Einreise 1996 seit 22 Jahren in Österreich auf. Seine tatsächliche Identität steht seit 1998 fest.

Er lebt mit einer aufenthaltsberechtigten rumänischen Staatsbürgerin, die er 2004 kennengelernt hat und mit der er seit 26.01.2009 über einen gemeinsamen Wohnsitz verfügt, und den beiden Kindern, geboren am 21.02.2010 und 16.08.2017, in einer Lebensgemeinschaft, die auch eine einjährige Haftstrafe von 19.11.2012 bis 13.11.2013 überstanden hat. Der Beschwerdeführer spricht fließend Deutsch und ist zwischenzeitlich in Österreich, wo auch seine Schwester mit ihrer Familie lebt, voll integriert. Der Beschwerdeführer bezieht keine staatliche Unterstützung und lebt wirtschaftlich, wie seine Familie, von der selbständigen Tätigkeit seiner Lebensgefährtin, die einen Second-Hand Laden betreibt. Damit das möglich ist, kümmert er sich überwiegend um die gemeinsamen Kinder, hält so seiner Lebensgefährtin beruflich den Rücken frei und hat sich für seine Kinder und für seine Lebensgefährtin zu einer wichtigen, emotionalen Stütze entwickelt. Eine Beendigung dieses Familienlebens würde vor allem die beiden minderjährigen Kinder treffen und auch die derzeit bestehende wirtschaftliche Basis der Familie gefährden. In weiterer Folge kann der Beschwerdeführer, der berufliche Erfahrungen im Handel aufweist, beruflich im Geschäft seiner Lebensgefährtin mitarbeiten und so eine Anstellung finden.

Der lange Aufenthalt des Beschwerdeführers resultiert im Wesentlichen aus der Stellung von insgesamt 3 Anträgen auf internationalen Schutz, wobei er den ersten unter Vortäuschung einer falschen Identität und Nationalität gestellt hat. Vom 20.02.1999 bis 08.06.2006 war er mit einer Österreicherin verheiratet und kam so zu einem Aufenthaltstitel. Die häusliche Gemeinschaft zwischen den Ehepartnern bestand aber nur bis Anfang Jänner 2000. Diese Aufenthaltsberechtigung verlor er aufgrund zweier strafgerichtlichen Verurteilungen 2004 und 2005 und stellte 2007 aus der Haft heraus seinen dritten Antrag auf internationalen Schutz, der bereits rechtskräftig abgewiesen wurde.

Der Beschwerdeführer weist 3 Vorstrafen auf:

Mit Urteil des Landesgerichtes Graz vom 03.05.2004, XXXX wurde er wegen Diebstahl und fahrlässiger Körperverletzung (§§ 127, 88 StGB) zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je € 5, --, in Summe €

600, -- verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 23.06.2005, XXXX erfolgte eine Verurteilung zu einer Haftstrafe von 3 1/2 Jahren wegen Drogenhandels (§§ 28 Abs 1 (2.3.4. Fall), Abs. 3 (2. Fall), Abs. 4 /3, 27/1 (1.2. Fall) SMG, § 278/1 (2. Fall) StGB), die er vom 24.11.2004 bis 21.05.2008 zur Gänze verbüßte.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 27.03.2012, XXXX erfolgte eine weitere Verurteilung wegen Drogenhandels (§§ 28a

(1) 4. Fall, 28a (1) 5. Fall, 28 a (2) Z 1, 27 (1) Z 1 1. Fall, 27

(1) Z1 2. Fall SMG), dieses Mal zu einer Haftstrafe von 2 Jahren, die er vom 19.11.2012 bis 13.11.2013 verbüßte.

Während der Beschwerdeführer die erste Haftstrafe noch im vollem Ausmaß verbüßte, wurde er aus der zweiten vorzeitig, nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Strafe, bedingt entlassen.

2. Beweiswürdigung:

Der Sachverhalt ergibt sich aus den umfangreichen Behörden- und Gerichtsakten, die dem erkennenden Richter vorliegen, die in diesem Verfahren vorgelegten Unterlagen, insbesondere die psychologische Stellungnahme von Mag Dr. Roland Bugram vom 28.02.2018, den Einvernahmen des Beschwerdeführers und seiner Lebensgefährtin sowie der Sachverhaltserörterung in der mündlichen Verhandlung am 20.08.2018. Hinzu kommen die erstellten Abfragen aus ZMR, IZR, GVS und dem Strafregister.

Die tatsächliche Identität des Beschwerdeführers steht zwischenzeitlich fest, wurde von ihm bereits 1998 eingestanden und ist zudem über einen marokkanischen Reisepass, der dem Akt in Ablichte vorliegt (AS 414), dokumentiert.

Der Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich seit Juli 1996, seine drei Anträge auf internationalen Schutz, einer davon unter einer vorgetäuschten Identität und Nationalität und seine Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin mit einer damit verbundenen vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers ergeben sich unstrittig aus dem vorliegenden Akteninhalt.

Ebenso sind die drei strafgerichtlichen Verurteilungen, zwei davon wegen Suchtgifthandels, und die beiden Haftaufenthalte von insgesamt 4 1/2 Jahren zweifelsfrei dem Behördenakt zu entnehmen und finden in den eingeholten Abfragen aus Strafregister und ZMR ihren Niederschlag. Das bezieht sich auch auf die Aussage, dass er aus der zweiten Haftstrafe nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Strafe vorzeitig entlassen worden ist.

Die Feststellungen zum Familienleben, der wirtschaftlichen Situation der Familie und die Aussage, dass sich eine Beendigung dieses Familienlebens negativ für die Familie, insbesondere für die beiden Kinder, auswirken würde, gründen sich aus den Aussagen des Beschwerdeführers und seiner Lebensgefährtin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie des dabei gewonnen persönlichen Eindruckes und den dazu vorgelegten Dokumenten. Dabei stützt sich der erkennende Richter vollinhaltlich auf die psychologische Stellungnahme von Mag Dr. Roland Bugram vom 28.02.2018, der die belangte Behörde weder in ihrem Bescheid noch in der mündlichen Verhandlung, an der sie nicht teilgenommen hat, substantiiert entgegengetreten ist.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberichtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen und von amtswegen einen Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie kein Fall der §§ 8 Abs. 3 oder 9 Abs. 2 vorliegt.

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist einem im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von amtswegen eine Aufenthaltsberechtigung plus zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat und Familienlebens im Sinne des Art. 8 MRK geboten ist und der Drittstaatsangehörige das Modul I der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht wird.

Gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat-und Familienlebens im Sinne des Art. 8 MRK insbesondere zu berücksichtigen:

die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthaltes des Fremden rechtswidrig war,

das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

der Grad der Integration, die Bindung zum Heimatsstadt des Fremden,

die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei-und Einwanderungsrechts,

die Frage, ob das Privat-und Familienleben des Fremden in einen Zeitpunkt entstand, indem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthalt Aufenthaltsstatus bewusst waren, und

die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat-und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

Nach Art. 8 Abs. 2 MRK ist der Eingriff in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat-und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechten sowie des Verfassung-und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Entlassung.

Unter dem Privatleben sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind zu verstehen (vgl. EGMR 16.06.2005, Sisojeva ua gg Lettland, Nr. 60654/00, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.

Für den Aspekt des Privatlebens spricht zunächst die zeitliche Komponente des im Aufenthalt Staat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt.

Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofgerichtshofes ist bei einem mehr als 10 Jahre dauernden inländischen Aufenthaltes des Fremden regelmäßig von einem überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleiben in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, werden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langen Inlandsaufenthalt noch für vertretbar angesehen (so u.a. VwGH vom 16.11.2016 Ra 2016/18/00 41-9 und VwGH vom 23.02. 2017, Ra 2016/21/03025-10).

Der Beschwerdeführer ist zwischenzeitlich seit 22 Jahren in Österreich aufhältig, mag sein Aufenthalt auch im wesentlich überwiegenden Zeitraum auf Basis von drei abgewiesenen Anträgen auf internationalen Schutz erfolgt sein. Er spricht fließend Deutsch, bezieht seit Jahren keine staatlichen Leistungen aus GVS und lebt mit seiner Familie in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen. Er hat sich zwischenzeitlich voll integriert.

Ohne die vom Beschwerdeführer begangenen und mit massiven Freiheitsstrafen geahndeten Straftaten nach dem Suchtmittelgesetz zu verharmlosen, so ist in diesem Zusammenhang doch das Augenmerk darauf zu richten, dass die letzte Verurteilung über 6 Jahre zurückliegt, er bereits nach einem Jahr, nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Haftstrafe von 2 Jahren, vorzeitig entlassen worden ist und es seither keinerlei Anhaltspunkte für eine neuerliche Straffälligkeit gegeben hat. Vielmehr hat sich der Beschwerdeführer in dieser Zeit bemüht, seiner Familie emotionalen Halt zu geben und zur Entlastung seiner selbständig abreitenden Lebensgefährtin, sich verstärkt um die Kinder gekümmert, sodass in Summe von einer positiven Zukunftsprognose auszugehen ist.

Bei der Interessensabwägung zwischen Aufenthaltsdauer, Integration, Familienleben und strafgerichtlichen Verurteilungen hat sich das BVwG von folgenden Erwägungen leiten lassen:

Dabei ist auf die jüngste Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu verweisen (EGMR Urteil vom 16.04.2013, Udeh gg. Schweiz, Nr. 12020/09), wonach eine Ausweisung in einem zum Beschwerdeführer ähnlich gelagerten Fall, eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellt. Im genannte Urteil handelte es sich nämlich um einen Staatsbürger von Nigeria, der unter falscher Identität 2001 in die Schweiz eingereist, zuvor in Österreich wegen Drogenhandels strafrechtlich verurteilt und auch sein Asylantrag abgewiesen worden war. 2003 heiratete er eine Schweizer Staatsangehörige, mit der er gemeinsame Zwillingstöchter hat (2003 geboren); mittlerweile war er geschieden und hat mit einer anderen Schweizerin ein weiteres Kind. Der Beschwerdeführer wurde 2006 in Deutschland erneut wegen Drogenhandels zu 3 Jahren und sechs Monaten Haftstrafe verurteilt, jedoch bereits 2008 entlassen und ist wieder in die Schweiz zurückgekehrt. 2009 wurde gegen den Beschwerdeführer eine Ausweisungsanordnung erlassen. Laut EGMR liegt es aber im höherrangigen Interesse der Kinder, bei beiden Elternteilen aufzuwachsen, daher ist eine Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz für den Beschwerdeführer die einzige Möglichkeit, um einen regelmäßigen Kontakt zu seinen Zwillingstöchtern aufrechthalten zu können. Unter Beachtung seiner familiären Beziehung zu seinen Kindern, seiner Straflosigkeit nach Begehung der schweren Straftat im Jahr 2006 und somit einer positiven Zukunftsprognose stellt der EGMR im Falle der Ausweisung des BF eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest.

Erstmals benannte der EGMR im Urteil Üner in Erweiterung der BOULTIF-Kriterien das Kindeswohl als eigenständiges Kriterium der Interessensabwägung. In diesem Urteil wurde das Kindeswohl (als untergeordnetes Element) sowie das sehr stark ausgeprägte Privat- und Familienleben des Vaters (noch) von den ebenfalls sehr gewichtigen öffentlichen Interessen an einem Aufenthaltsverbot überwogen. Im Urteil Rodrigues da Silva und Hoogkamer überwog das explizit genannte Kindeswohl die öffentlichen Interessen an einer Ausweisung. [...] Aus diesen Urteilen ist erkennbar, dass der EGMR in zunehmender Intensität die Bedeutung der Beziehung zwischen Kindern und dem Elternteil, welches die wichtigste Bezugsperson für diese ist, für das Kindeswohl anerkannt hat. Mit den Urteilen Nunez und Udeh hat der EGMR nunmehr hervorgehoben, dass es für das Kindeswohl von großer Bedeutung ist, mit beiden Elternteilen aufzuwachsen. Gleichzeitig wurde das Recht des Beschwerdeführers auf ein gemeinsames Leben (mit der Kernfamilie) als eines der grundlegenden Aspekte des Rechtes auf Achtung des Familienlebens hervorgehoben. In einer Gesamtbetrachtung, in der das Kindeswohl zu berücksichtigen ist, tritt jedoch die Frage, ob das Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist (bzw. das Kind zu einem Zeitpunkt geboren wurde), in dem der Aufenthalt eines Elternteils unsicher war, in den Hintergrund (Chmielewski, Kindeswohl als Kriterium der Interessensabwägung, MIGRALEX, 03/2013, 71).

Wenn man den vorliegenden Fall mit dem Fall UDEH vergleicht, so fällt auf, dass der Zeitraum zwischen der Enthaftung und der Entscheidung im Fall UDEH geringer war als im vorliegenden Fall (bis zu dem EGMR-Urteil vier Jahre, im vorliegenden Fall fünf Jahre und auch im Fall UDEH die Strafe eine deutlich höhere war, als jene des Beschwerdeführers (42 statt 24 Monate).

Erst jüngst hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 13.09.2016, Zahl RsC-304/14, CS hinsichtlich des Aufenthaltsrechts strafrechtlich verurteilter drittstaatsangehöriger Familienangehöriger minderjährige Unionsbürger, die tatsächlich für ein Kleinkind sorgen, ausgeführt, dass solche nur unter außergewöhnlichen Umständen, nämlich, wenn eine tatsächliche und gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt (was im vorliegenden Fall wohl zu verneinen ist), aus dem Mitgliedsstaat ausgewiesen werden dürfen (siehe auch EuGH vom 13.09.2016, RsC-165/14).

Im gegenständlichen Fall steht aufgrund der psychologische Stellungnahme von Mag Dr. Roland Bugram fest, dass ein (fortbestehender) Kontakt zwischen Vater und den beiden Kindern für deren Entwicklung besonders wichtig ist.

Zusammenfassend war daher im Rahmen einer Interessensabwägung zu befinden, dass im vorliegenden Fall aufgrund der langen Aufenthaltsdauer, des vorliegenden Familienlebens in Österreich und seiner zwischenzeitlich völligen Integration in Österreich, dem persönlichen Interesse des Beschwerdeführers an einem weiteren Verbleib in Österreich gegenüber den öffentlichen Interessen an der Rückkehrentscheidung, insbesondere im Hinblick auf die erheblichen Verurteilungen, der Vorzug zu geben waren.

Da die maßgeblichen Umstände in ihrem Wesen nicht bloß vorübergehend sind, war die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und der verfahrensgegenständliche Bescheid, der im Zuge der Rückkehrentscheidung auch ein Einreisverbot umfasste, zu beheben.

Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 ist gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung aufgrund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wurde.

Wie bereits zitiert ist nach § 55 Abs. 1 AsylG eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist gemäß Abs. 2 eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.

Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist gemäß § 14a Abs. 4 NAG erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Deutsch-Integrationskurs besucht und einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über den erfolgreichen Abschluss des Deutsch-Integrationskurses vorlegt (Z 1), einen allgemein anerkannten Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß § 14 Abs. 2 Z 1 NAG vorlegt (Z 2), über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 des Universitätsgesetzes 2002, BGBl. I 120, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht (Z 3) oder einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte" gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt (Z 4).

Der Beschwerdeführer spricht nicht nur ausgezeichnet Deutsch, sondern war auch aufgrund seiner Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin im Besitz eines Aufenthaltstitels.

Es war dem Beschwerdeführer somit gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat dem Beschwerdeführer den Aufenthaltstitel gemäß § 58 Abs. 7 AsylG 2005 auszufolgen.

Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Antrag auf schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses,
Aufenthaltsberechtigung plus, Behebung der Entscheidung, Diebstahl,
Einreiseverbot, ersatzlose Behebung, Haftstrafe, Integration,
Interessenabwägung, Körperverletzung, mündliche Verhandlung,
mündliche Verkündung, öffentliche Interessen, Privat- und
Familienleben, private Interessen, Rückkehrentscheidung,
Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig, strafrechtliche
Verurteilung, Suchtgifthandel, Suchtmitteldelikt, Zukunftsprognose

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:I408.1205091.4.01

Zuletzt aktualisiert am

04.02.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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