TE Bvwg Beschluss 2018/11/30 W151 2167967-2

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Veröffentlicht am 30.11.2018
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Entscheidungsdatum

30.11.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §32 Abs1 Z2

Spruch

W151 2167967-2/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Doris KOHL, MCJ über den Antrag von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.06.2018, XXXX rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens auf internationalen Schutz beschlossen:

A) Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wird abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der nunmehrige Antragsteller, ein afghanischer Staatsangehöriger stellte am 29.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. In seiner Erstbefragung am 30.10.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Antragsteller im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari im Wesentlichen an, sein Name sei XXXX , er sei in XXXX am XXXX geboren und afghanischer Staatsangehöriger. Er gehöre der Volksgruppe der Usbeken an, sei sunnitischen Glaubens, er spreche Usbekisch, Dari und Farsi, sei ledig und Analphabet. Er habe zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen mit seiner Arbeit als Schneidergehilfe. Er sei in Afghanistan geboren, habe seit seinem ersten Lebensjahr in XXXX , Iran gelebt. Seine Familie, sein Vater, seine Mutter und 3 Schwestern und 3 Brüder, lebe weiterhin im Iran.

Als Fluchtgrund gab der Antragsteller an, dass seine Eltern Afghanistan wegen Feindschaften sowie der unsicheren Lage verlassen hätten. Ein Onkel väterlicherseits sei von Feinden getötet worden. Er habe den Iran verlassen, da er kein Bleiberecht gehabt habe und dort illegal aufhältig gewesen sei. Zudem würden Afghanen im Iran schlecht behandelt und benachteiligt werden. Der Antragsteller habe aus diesem Grund auch nicht die Schule besuchen können.

3. Aufgrund des optischen Erscheinungsbildes des Antragstellers und der damit verbundenen Zweifel an dessen Minderjährigkeit wurde eine ärztliche Untersuchung (Handwurzelröntgen) zwecks Bestimmung des tatsächlichen Lebensalters angeordnet. Nach Durchführung des Handwurzelröntgens wurde als Ergebnis " finales Stadium Schmeling 3, GP 30" festgestellt.

4. Am 16.03.2016 wurde die Vollmacht der Caritas vorgelegt.

5. Am 25.07.2017 wurde der Antragsteller vor dem Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Regionaldirektion Steiermark, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi niederschriftlich einvernommen. Darin gab der Antragsteller zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass seine Familie aufgrund des Krieges sowie der Tötung eines Onkels väterlicherseits sowie eines Onkels mütterlicherseits Afghanistan verlassen habe. Er habe den Iran aus familiären und wirtschaftlichen Gründen verlassen.

Abschließend legte der Antragsteller Unterlagen zum Beweis seiner Integration vor.

6. Mit Bescheid vom 01.08.2017 wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz vom 29.10.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG. Ferner wurde gegen den Antragsteller gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Es bestehe zwar ein glaubhaftes Fluchtvorbringen des Antragsteller, jedoch liege keine Verfolgungssituation in Afghanistan vor.

7. Für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wurde dem Antragsteller mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG die ARGE-Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig als Rechtsberater zur Seite gestellt.

8. Der Antragsteller erhob fristgerecht Beschwerde, mit dem der Bescheid gesamtinhaltlich wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und der Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten wurde.

In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Antragsteller keine Rückkehr möglich sei, da ihm aufgrund seines langjährigen Aufenthalts im Iran und im westlichen Ausland von den Taliban bzw. dem IS eine prowestliche oppositionelle politische Gesinnung unterstellt werden würde. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihm somit nicht zur Verfügung.

9. Die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem BVwG am 18.08.2017 vom BFA vorgelegt.

10. Mit Schreiben vom 14.02.2018 wurden dem Antragsteller die aktuellen Länderberichte vom 30.01.2018 zur Kenntnis gebracht.

12. Am 06.06.2018 langte eine Meldung des LPD Graz wegen des Verdachts auf § 27 Abs. 2 SMG beim BVwG ein.

13. Die Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vom 01.08.2017 wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.02.2018 mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.06.2018, XXXX abgewiesen. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass der nunmehrige Antragsteller im Herkunftsstaat keiner individuellen gegen ihn gerichteten Verfolgung ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer solchen ausgesetzt wäre. Der Antragsteller, der ab seinem ersten Lebensjahr im Ian lebte, konnte nicht ansatzweise einen persönlichen Fluchtgrund im Bezug auf sein eigentliches Heimtland Afghanistan vorbringen. Eine Rückkehr des Antragstellers in die Stadt Kabul wurde vom Bundesverwaltungsgericht für zumutbar erachtet, da der 19-jährige Antragsteller mobil, gesund sowie anpassungs- und arbeitsfähig sei. Eine Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers würde zudem keinen unzulässigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellen.

14. Das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes wurde dem Antragsteller mit Wirksamkeit vom 05.07.2018 zugestellt und rechtskräftig.

15. Mit Eingabe des bevollmächtigten Rechtsvertreters des Wiederaufnahmewerbers vom 13.09.2018 wurde der im Spruch genannte, auf § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG gestützte Antrag auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.06.2018 abgeschlossenen Verfahrens gestellt.

Zur Begründung wurde ausgeführt, das Bundesverwaltungsgerichtes habe aufgrund der Annahme, es liege eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul vor, dem Antragsteller den Status des subsidiär Schutzberechtigten verweigert. Das Bundesverwaltungsgericht habe seine Entscheidung dabei auf Länderberichte der Staatendokumentation gestützt.

Am 30.08.2018 seien vom UNHCR die sog. "Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan" (im Folgenden: UNHCR-Richtlinien) veröffentlicht worden, aus denen sich ergebe, dass Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative nicht in Betracht komme.

Aufgrund der bereits zum Entscheidungszeitpunkt bestehenden Sicherheitslage in Afghanistan, hätte das Bundesverwaltungsgericht bei vorliegen ensprechender Richtlinien dem Antragsteller den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen.

Zur Rechtzeitigkeit wurde ausgeführt, dass der Rechtsvertretung des Wiederaufnahmewerbers die Veröffentlichung am UNHCR-Richtlinien am 31.08.2018 bekannt geworden und der Antrag somit innerhalb der zweiwöchigen Frist erfolgt sei.

Abschließend wurde beantragt, das Verfahren zu XXXX wiederaufzunehmen sowie eine einstweilige Anordnung auf Gewährung eines vorübergehenden Aufenthalts nach dem Unionsrecht zu erlassen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung demnach dem jeweils nach der geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.

1.2. Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist. Fuchs hält in Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 32 VwGVG, Anm. 13, fest, dass der Systematik des VwGVG folgend anzunehmen ist, dass sämtliche Entscheidungen über Wiederaufnahmeanträge - als selbstständige Entscheidungen - in Beschlussform zu erfolgen haben.

Zu A) Abweisung des Wiederaufnahmeantrages:

2.1. § 32 VwGVG lautet wie folgt:

"Wiederaufnahme des Verfahrens

§ 32. (1) Dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes abgeschlossenen Verfahrens ist stattzugeben, wenn

1. das Erkenntnis durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist oder

2. neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anders lautendes Erkenntnis herbeigeführt hätten, oder

3. das Erkenntnis von Vorfragen (§ 38 AVG) abhängig war und nachträglich über eine solche Vorfrage von der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. vom zuständigen Gericht in wesentlichen Punkten anders entschieden wurde oder

4. nachträglich ein Bescheid oder eine gerichtliche Entscheidung bekannt wird, der bzw. die einer Aufhebung oder Abänderung auf Antrag einer Partei nicht unterliegt und die im Verfahren des Verwaltungsgerichtes die Einwendung der entschiedenen Sache begründet hätte.

(2) Der Antrag auf Wiederaufnahme ist binnen zwei Wochen beim Verwaltungsgericht einzubringen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, wenn dies jedoch nach der Verkündung des mündlichen Erkenntnisses und vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung geschehen ist, erst mit diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Erkenntnisses kann der Antrag auf Wiederaufnahme nicht mehr gestellt werden. Die Umstände, aus welchen sich die Einhaltung der gesetzlichen Frist ergibt, sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen.

(3) Unter den Voraussetzungen des Abs. 1 kann die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Erkenntnisses kann die Wiederaufnahme auch von Amts wegen nur mehr aus den Gründen des Abs. 1 Z 1 stattfinden.

..."

2.2. Voraussetzung für die Wiederaufnahme des Verfahrens ist, dass die das seinerzeitige Verfahren abschließende Entscheidung mit einem ordentlichen Rechtsmittel nicht mehr anfechtbar, also formell rechtskräftig ist. Die Zulässigkeit und auch die Erhebung von Rechtsmitteln bei den Höchstgerichten hindern, selbst wenn der Beschwerde oder der Revision aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde, nicht den Eintritt der formellen Rechtskraft (VwGH 16.09.1980, 1079/79; 23.02.2012, 2010/07/0067; 28.02.2012, 2012/05/0026).

Das gegenständliche Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.06.2018 wurde am 05.07.2018 zugestellt und danach rechtskräftig.

2.3. Der Einschreiter stellte am 13.09.2018 den vorliegenden, auf § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG gestützten Antrag auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.06.2018, XXXX , rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens.

Ausgehend von der (dem Akteninhalt nach nachvollziehbaren) Einlassung des Antragstellers, wonach sein rechtsfreundlicher Vertreter erst am 31.08.2018 von der Veröffentlichung der UNHCR-Richtlinien in der Fassung vom 30.08.2018 Kenntnis erlangt habe, ist die in § 32 Abs. 2 VwGVG geforderte Frist von zwei Wochen ab Kenntniserlangung des Wiederaufnahmegrundes erfüllt, weshalb der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens als rechtzeitig eingebracht anzusehen ist.

2.4. In der Regierungsvorlage zum Verwaltungsgerichtsbarkeits-Ausführungsgesetz 2013 (2009 der Beilagen, XXIV. GP) wurde festgehalten, dass die Bestimmungen über die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im VwGVG weitgehend den Bestimmungen der §§ 69 bis 72 AVG mit den entsprechenden Anpassungen aufgrund der Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz entsprechen. Durch den Ausschluss der Anwendung des IV. Teiles des AVG ist das AVG in diesem Bereich für unanwendbar erklärt worden, wobei aufgrund der inhaltlichen Übereinstimmung und ähnlichen Formulierung der Bestimmung des § 32 Abs. 1 bis 3 VwGVG mit § 69 AVG die bisher ergangenen höchstgerichtlichen Entscheidungen sinngemäß anzuwenden sind bzw. die bisherigen Judikaturlinien zu § 69 AVG herangezogen werden können.

In diesem Sinne sprach der Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 28.06.2016, Ra 2015/10/0136, aus, dass die Wiederaufnahmegründe des § 32 Abs. 1 VwGVG denjenigen des § 69 Abs. 1 AVG nachgebildet sind und daher auf das bisherige Verständnis dieser Wiederaufnahmegründe zurückgegriffen werden kann.

2.5. Der gegenständliche Antrag zielt darauf ab, das mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.06.2018 rechtskräftig abgeschlossene Verfahren aufgrund neuer Tatsachen bzw. Beweismittel iSd § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG wiederaufzunehmen.

Nach ständiger - auf § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG übertragbarer - Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 69 Abs. 1 Z 2 AVG nur auf solche Tatsachen d.h. Geschehnisse im Seinsbereich (vgl. VwGH 15.12.1994, 93/09/0434; 04.09.2003, 2000/17/0024) oder Beweismittel, d.h. Mittel zur Herbeiführung eines Urteils über Tatsachen (vgl. VwGH 16.11.2004, 2000/17/0022; 24.04.2007, 2005/11/0127), gestützt werden, die erst nach Abschluss eines Verfahrens hervorgekommen sind und deshalb von der Partei ohne ihr Verschulden nicht geltend gemacht werden konnten.

Es muss sich also um Tatsachen und Beweismittel handeln, die beim Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens schon vorhanden waren, deren Verwertung der Partei aber ohne ihr Verschulden erst nachträglich möglich wurde ("nova reperta"), nicht aber um erst nach Abschluss des seinerzeitigen Verfahrens neu entstandene Tatsachen und Beweismittel ("nova producta" bzw. "nova causa superveniens").

Neu entstandene Tatsachen, also Änderungen des Sachverhalts nach Abschluss des Verfahrens, erübrigen eine Wiederaufnahme des Verfahrens, weil in diesem Fall einem Antrag auf der Basis des geänderten Sachverhalts die Rechtskraft des bereits erlassenen Bescheides nicht entgegensteht. Bei Sachverhaltsänderungen, die nach der Entscheidung über einen Asylantrag eingetreten sind, ist kein Antrag auf Wiederaufnahme, sondern ein neuer Antrag (auf internationalen Schutz) zu stellen (vgl. dazu VwGH 19.02.1992, 90/12/0224 ua; 25.10.1994, 93/08/0123; 25.11.1994, 94/19/0145; 18.12.1996, 95/20/0672; 07.04.2000, 96/19/2240; 20.06.2001, 95/08/0036; 17.02.2006, 2006/18/0031).

2.6. Vorauszuschicken ist, dass dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.06.2018 u.a. das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 02.03.2017 (inkl. Kurzinformation vom 30.01.2018) sowie die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016 (deutsche Fassung) zugrunde gelegt wurden.

Der Wiederaufnahmewerber bringt in seinem Wiederaufnahmeantrag zusammengefasst vor, aus den aktuellen UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 ergebe sich, dass die Stadt Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative nicht in Betracht komme, was eine anderslautende, den Anträgen des Wiederaufnahmewerbers stattgebende Entscheidung herbeigeführt hätte.

Dem kann im Ergebnis aus folgenden Erwägungen nicht gefolgt werden:

Dem Antragsteller ist zunächst insoweit Recht zu geben, als er vorbringt, dass die Tatsachen (z.B. über die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan und die bestehenden Risikoprofile), auf denen die am 30.08.2018 herausgegebenen UNHCR-Richtlinien basieren, bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes bestanden haben. Dies ergibt sich daraus, dass die Richtlinien - sofern nicht anders angegeben - auf den dem UNHCR am 31.05.2018 bekannten Informationen beruhen (vgl. FN 2 auf S. 5 der Richtlinien).

In den Richtlinien vom 30.08.2018 äußert UNHCR angesichts der gegenwärtigen Sicherheitslage sowie der menschenrechtlichen und humanitären Situation in Kabul die Auffassung, dass eine interne Flucht- und Neuansiedlungsalternative in dieser Stadt allgemein nicht zur Verfügung stehe (arg. S. 114: "UNHCR considers that given the current security, human rights and humanitarian situation in Kabul, an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA) is generally not available in the city.").

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den UNHCR-Richtlinien besondere Beachtung zu schenken (s. VwGH 22.11.2016, Ra 2016/20/0259, mwN; 08.08.2017, Ra 2017/19/0118; zur "Indizwirkung" vgl. VwGH 10.12.2014, Ra 2014/18/0103 bis 0106, mwN). Diese Rechtsprechung geht auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes zurück, in der dieser erkannte, dass Empfehlungen internationaler Organisationen zweifelsohne Gewicht zukommt, wenn es um die Beurteilung der allgemeinen Verhältnisse vor Ort geht. Sie ersparen jedoch nicht eine nähere Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt (vgl. VwGH 13.11.2001, 2000/01/0453).

Unbeschadet dessen verkennt der Antragsteller jedoch, dass die Richtlinien des UNHCR im gegebenen Zusammenhang weder "neue Tatsachen" noch ein "neues Beweismittel" iSd § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG darstellen.

Im Wiederaufnahmeantrag wird diesbezüglich unter Bezugnahme auf Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (ua. VwGH 23.02.2016, 2015/01/0116) argumentiert, die neuen UNHCR-Richtlinien stellen ein neues Beweismittel dar, welches jene Tatsachen in Zweifel zieht, auf welche sich das BVwG im hinblick auf die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative tragend gestützt hat. Den neuen Richtinien seien zu entnehmen, dass bereits zum Zeitpunkt des ergangenen Erkenntnisses Umstände in Kabul vorgelegen hätten, die eine zumutbare IFA auschgeschlossen hätten. Wären entsprechende Richtlinien bereits zu diesem Zeitpunkt vorgelegen, hätte das Gericht zum Schluss kommen pssen, dass dem Antragsteller mangels einer IFA der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzusprechen gewesen wäre.

Im Kommentar von Hengstschläger/Leeb (AVG § 69 Stand 01.04.2009, Rdb Rz 33) wird ausgeführt, dass Gutachten von Sachverständigen, die erst nach Eintritt der Rechtskraft des Bescheides eingeholt wurden, nicht neu hervorgekommen, sondern neu entstanden sind und damit auch nicht als neue Beweismittel Grund für eine Wiederaufnahme des Verfahrens sein können (VwGH 10.05.1996, 94/02/0449; 21.04.1999, 99/03/0097; 02.07.2007, 2006/12/0043). Nur wenn ein Sachverständiger Tatsachen, die zur Zeit der Sachverhaltsverwirklichung bereits bestanden, erst nach Rechtskraft des Bescheides "feststellt" oder wenn ihm solche Daten erst später zur Kenntnis kommen, können diese bzw. die daraus resultierenden neuen Befundergebnisse, die sich auf die zuvor bestandenen Tatsachen beziehen, bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen als neue Tatsachen einen Grund für eine Wiederaufnahme darstellen (VwGH 18.01.1989, 88/03/0188; 04.08.2004, 2002/08/0074; 25.07.2007, 2006/11/0147). Einen Wiederaufnahmegrund können aber nur neue Befundergebnisse bzw. neue konkrete sachverständige Tatsachenfeststellungen in einem Gutachten bilden und nicht auch ein Irrtum des Sachverständigen (VwGH 07.09.2005, 2003/08/0093; 16.10.2007, 2004/18/0376), d.h. geänderte sachverständige Schlussfolgerungen aus eben den festgestellten Tatsachen.

Zwar handelt es sich bei den UNHCR-Richtlinien nicht im engeren Sinn um ein Sachverständigengutachten iSd AVG, sondern um eine Hilfestellung für Entscheidungsträger bei der Beurteilung des internationalen Schutzbedarfs von Asylwerbern. Dennoch sind Rechtsprechung und Lehre zum Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes nach Ansicht des erkennenden Gerichtes zumindest insoweit auf den vorliegenden Fall übertragbar, als die hier in Rede stehende Einschätzung des UNHCR zur Relevanz und Zumutbarkeit einer internen Flucht- und Neuansiedlungsalternative in der Stadt Kabul eben keine "neue (sachverständige) Tatsachenfeststellung", sondern vielmehr eine geänderte Schlussfolgerung des UNHCR auf Basis der bereits zum Entscheidungszeitpunkt bestandenen und dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.06.2018 zugrunde gelegten Tatsachen (insbesondere betreffend die Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul) darstellt und insoweit als (unverbindliche) Empfehlung oder als eine Art "Rechtsgutachten" angesehen werden kann.

Die geänderte Schlussfolgerung des UNHCR zur Relevanz und Zumutbarkeit einer internen Flucht- und Neuansiedlungsalternative in Kabul in seinen Richtlinien vom 30.08.2018 vermag auch deshalb weder "neue Tatsachen" noch ein "neues Beweismittel" zu begründen, weil die Beurteilung der Möglichkeit und Zumutbarkeit der Verweisung auf eine innerstaatliche Fluchtalternative rechtlicher Natur ist, mag diese auch anhand konkreter einzelfallbezogener Sachverhaltsfeststellungen erfolgen.

Wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt festgestellt hat, unterscheidet § 11 AsylG 2005 nach seinem klaren Wortlaut zwei getrennte und selbständig zu prüfende Voraussetzungen der innerstaatlichen Fluchtalternative. Zum einen ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, gegeben ist. Demgemäß verbietet sich die Annahme, der Schutz eines Asylwerbers sei innerstaatlich zumindest in einem Teilgebiet gewährleistet, jedenfalls dann, wenn in dieser Region Verhältnisse herrschen, die Art. 3 MRK widersprechen. Zum anderen setzt die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative voraus, dass dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann. Die Zumutbarkeit des Aufenthalts ist daher von der Frage der Schutzgewährung in diesem Gebiet zu trennen. Selbst wenn in dem betreffenden Gebiet also keine Verhältnisse herrschen, die Art. 3 MRK widersprechen (oder auf Grund derer andere Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz erfüllt wären), wäre eine innerstaatliche Fluchtalternative bei Unzumutbarkeit des Aufenthaltes in diesem Gebiet zu verneinen (vgl. etwa VwGH 05.04.2018, Ra 2018/19/0154).

Dass es sich sowohl bei der Frage, ob im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan in Kabul die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK besteht, als auch bei der Frage der Zumutbarkeit einer in Betracht kommenden innerstaatlichen Fluchtalternative jeweils um eine rechtliche Beurteilung handelt, welche freilich in den Feststellungen Deckung finden muss, hat der Verwaltungsgerichtshof bereits klargestellt (vgl. etwa VwGH 27.06.2017, Ra 2016/18/0277; 21.03.2018, Ra 2017/18/0372; 02.08.2018, Ra 2017/19/0229).

Die von Seiten des UNHCR geäußerte Auffassung, wonach angesichts der gegenwärtigen Sicherheitslage sowie der menschenrechtlichen und humanitären Situation in Kabul eine interne Flucht- und Neuansiedlungsalternative in dieser Stadt allgemein nicht zur Verfügung stehe, stellt daher streng genommen eine - dem BFA und letztlich dem Bundesverwaltungsgericht - obliegende rechtliche Beurteilung dar, der im Einzelfall mit näherer Begründung auf Basis konkreter Feststellungen gefolgt oder auch nicht gefolgt werden könnte.

Das Bundesverwaltungsgericht ist somit aus den dargelegten Erwägungen der Ansicht, dass die vom Wiederaufnahmewerber ins Treffen geführte - in den Richtlinien vom 30.08.2018 enthaltene - Einschätzung des UNHCR zur Relevanz und Zumutbarkeit einer internen Flucht- und Neuansiedlungsalternative in der Stadt Kabul keinen Wiederaufnahmegrund iSd § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG darstellt.

Im Übrigen besteht die Möglichkeit, Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes, in denen eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul im Lichte der zum jeweiligen Entscheidungszeitpunkt verfügbaren Länderinformationen und der persönlichen Umstände des Asylwerbers in rechtlicher Hinsicht als möglich und zumutbar erachtet wird, im Wege außerordentlicher Rechtsmittel zu bekämpfen. Von dieser Möglichkeit hat der Antragsteller nicht Gebrauch gemacht. Weiters besteht bei Sachverhaltsänderungen, die nach der Entscheidung über einen Antrag eingetreten sind, die Möglichkeit einen neuen Antrag zu stellen (vgl. dazu VwGH 19.02.1992, 90/12/0224 ua; 25.10.1994, 93/08/0123; 25.11.1994, 94/19/0145; 18.12.1996, 95/20/0672; 07.04.2000, 96/19/2240; 20.06.2001, 95/08/0036; 17.02.2006, 2006/18/0031).

2.7. Aus den dargelegten Erwägungen sind die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG nicht erfüllt, weshalb der gegenständliche Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens spruchgemäß abzuweisen ist. Aus denselben Gründen bleibt auch für eine amtswegige Wiederaufnahme des Verfahrens kein Raum.

3.1. Angesichts dieses Ergebnisses erübrigt sich ein gesonderter Abspruch über den unter einem gestellten Antrag auf Erlassung einer (unionsrechtlichen) einstweiligen Anordnung auf Gewährung eines vorübergehenden Aufenthaltsrechts bzw. Hintanhaltung der Abschiebung.

3.3. Zum Entfall der mündlichen Verhandlung

Da die Sachlage aufgrund der Aktenlage als erklärt erscheint, konnte eine mündliche Erörterung der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG unterbleiben. Im vorliegenden Fall liegen keine widersprechenden prozessrelevanten Behauptungen vor, die es erforderlich machen würden, dass sich das Gericht im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien verschafft. Vielmehr ist die hier zu beantwortende Frage, ob ein Wiederaufnahmegrund iSd § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG vorliegt, rechtlicher Natur. Ein Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde vom Antragsteller auch nicht gestellt. Dem Entfall der Verhandlung stehen im Ergebnis weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegen (vgl. VwGH 07.08.2017, Ra 2016/08/0140).

B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die hier anzuwendenden Regelungen erweisen sich als klar und eindeutig (vgl. zur Unzulässigkeit der Revision bei eindeutiger Rechtslage trotz fehlender Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes etwa VwGH 28.05.2014, Ro 2014/07/0053). Im Übrigen ergeht die vorliegende Entscheidung in Anlehnung an die zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den maßgeblichen Bestimmungen des § 69 AVG bzw. § 32 VwGVG.

Schlagworte

Voraussetzungen, Wiederaufnahme, Wiederaufnahmeantrag,
Wiederaufnahmegrund

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W151.2167967.2.00

Zuletzt aktualisiert am

04.02.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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