TE OGH 2019/1/24 6Ob240/18i

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Veröffentlicht am 24.01.2019
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers K***** A*****, vertreten durch Dr. Saskia Albiez, Rechtsanwältin in Wien, als Verfahrenshelferin, diese vertreten durch Dr. Christoph Neuhuber, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Antragsgegnerin F***** D*****, vertreten durch Mag. Elisabeth Schwendt, Rechtsanwältin in Wien, als Verfahrenshelferin, wegen Rückführung der Minderjährigen S***** A*****, geboren am ***** 2017, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 7. November 2018, GZ 42 R 351/18f-51, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Der Antrag auf Zuspruch der Kosten der Revisionsrekursbeantwortung wird abgewiesen.

Text

Begründung:

Gegenstand des Verfahrens ist der Antrag des gemeinsam mit der Mutter obsorgeberechtigten Vaters vom 19. 7. 2018 auf Rückführung eines Kleinkindes in die Russische Föderation (Tschetschenische Republik). Mutter, Vater und Kind lebten bis Anfang Mai 2018 in getrennten Haushalten in Grosny, Tschetschenien. Das Kind hielt sich an wöchentlich zwei bis vier Tagen beim Vater auf. Anfang Mai verließ die Mutter mit ihrer damals einjährigen Tochter Tschetschenien, ohne den Vater davon in Kenntnis zu setzen, und beantragte in Österreich sowohl für sich als auch ihre Tochter Asyl.

Das Erstgericht wies den Antrag ab. Das Rückführungshindernis des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ sei erfüllt, weil die vom Vater begehrte Rückführung nach Tschetschenien aufgrund der Sicherheitslage im Nordkaukasus mit einer Gefährdung der körperlichen und seelischen Integrität der Minderjährigen verbunden wäre. Die Rückführung hätte eine Trennung von der Mutter, die in Österreich Asyl beantragt habe und nicht in die Russische Föderation zurückkehren werde, zur Folge und würde die Minderjährige in eine nicht zumutbare Lage bringen.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs Folge und ordnete die Rückführung der Minderjährigen an. Die der Website des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres entnommenen Ausführungen des Erstgerichts zur Sicherheitslage in der Russischen Föderation seien Reisewarnungen und Verhaltensempfehlungen, die primär nicht ortsansässige Personen betreffen. Das Erstgericht habe die Notwendigkeit einer Ausreise der Mutter mit der Minderjährigen als nicht nachvollziehbar erachtet. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Gerichte und Behörden in Tschetschenien völlig einseitig agieren würden. Das in der Rekursbeantwortung erstattete Vorbringen, der Tochter drohe bei einer Rückkehr nach Tschetschenien dasselbe Schicksal wie der Mutter, nämlich ua Zwangsheirat und (sexuelle) Gewalt, und der Vater habe die Mutter via SMS mit dem Umbringen bedroht, sei nicht stichhaltig. Selbst wenn diese Behauptungen zutreffen würden, handle es sich dabei um keine unmittelbare Gefährdung des Kindes. Die bloße Weigerung der Mutter, nach Tschetschenien zurückzukehren, stelle kein Rückführungshindernis dar. Eine Begleitung der Tochter durch die Mutter sei nicht erforderlich, weil die Tochter vor ihrer Verbringung wöchentlich zwei bis vier Tage beim Vater verbracht habe und diesen gut kenne.

In ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs führt die Mutter aus, es fehle Rechtsprechung dazu, ob ein Rückführungshindernis vorliege, solange ein Asylverfahren des Kindes und seiner Mutter anhängig sei, und ob ein anhängiges Asylverfahren einen berechtigten Grund darstelle, die vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit auszuschließen. Eine Rückführung in jenen Staat, in welchem dem Kind und der Mutter Verfolgung drohe, hätte den Verlust des Rechts auf Asyl zur Folge. Das Rekursverfahren sei mangelhaft, weil das Rekursgericht die Verfahrensergänzung unterlassen habe; die Aufnahme der beantragten Beweise hätte ergeben, dass dem Kind durch die Trennung von der Mutter ein psychischer Schaden drohe und eine Rückkehr zum Vater dem Kindeswohl widerspreche. Die Rückführung sei wegen der prekären Sicherheitslage in Tschetschenien, die alle Personen und nicht nur Touristen betreffe, unzumutbar. Eine Rückkehr der Mutter komme nicht in Betracht, weil ihr Bruder ihr drohe, sie umzubringen; in einem derartigen Fall begründe die Trennung des Kindes von der Mutter ein Rückführungshindernis.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist nicht zulässig.

1. Dem HKÜ liegt das Ziel zugrunde, die sofortige Rückgabe des widerrechtlich verbrachten Kindes in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen (RIS-Justiz RS0109515 [T2, T11]) und das gestörte Sorgeverhältnis so rasch wie möglich wiederherzustellen (RIS-Justiz RS0074540).

2.1. Nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist die zuständige Behörde – ungeachtet der grundsätzlichen Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe des Kindes (Art 12 Abs 1) – dann nicht verpflichtet, die Rückgabe anzuordnen, wenn (unter anderem) die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist nach der Rechtsprechung eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken (RIS-Justiz RS0074568 [T1, T12]).

2.2. Die Person, die sich der Rückgabe widersetzt, trifft die volle Behauptungslast und Beweislast für das Vorliegen von Rückführungshindernissen. Selbst die Frage, ob das Kindeswohl der Rückführung entgegensteht, ist nicht von Amts wegen, sondern nur über Vorbringen der Person, die sich der Rückführung widersetzt, zu prüfen (RIS-Justiz RS0074561 [T1]). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen die nationalen Gerichte im Rahmen der Überprüfung eines Rückstellungsantrags nur plausibles Vorbringen zu einer schwerwiegenden Gefährdung entsprechend würdigen (RIS-Justiz RS0074561 [T7] = 6 Ob 123/16f). Der bloße Hinweis auf die allgemeine politische oder rechtliche Situation im Herkunftsstaat vermag die Behauptungs- und Beweislast für das Vorliegen einer konkreten Gefährdung des Kindeswohls im Fall der Rückkehr nicht zu ersetzen (RIS-Justiz RS0074561 [T8, T9]; 6 Ob 123/16fUngarn/Roma; 6 Ob 15/18aTürkei).

2.3. Dem Übereinkommen liegt der Gedanke zugrunde, dass die Rückführung des Kindes dessen Wohl dient, weil es das wirkliche Opfer der Entführung ist und Kindesentführungen durch dieses Übereinkommen eben verhindert werden sollen (RIS-Justiz RS0106456 [nur T4]). Das konkrete Kindeswohl hat jedoch den Vorzug vor dem vom Übereinkommen angestrebten Ziel, Kindesentführungen zu verhindern (RIS-Justiz RS0106455), und zwar auch dann, wenn gerade der Entführer, der die hauptsächliche Bezugsperson eines noch kleinen Kindes ist, jene Situation herbeigeführt hat, die die Rückgabe zu einer schwerwiegenden Gefahr für das Kindeswohl werden lässt (RIS-Justiz RS0106456 [T1] = 6 Ob 294/99z; 4 Ob 2288/96s). Dass eine Weigerung der Mutter, das Kind bei seiner Rückführung zum antragstellenden Vater zu begleiten, eine schwerwiegende Gefahr für das Kind begründen könnte, vermag eine Rückführung jedoch dann nicht zu verhindern, wenn es der Mutter nach den im Einzelfall gegebenen Umständen zumutbar ist, mit dem Kind gemeinsam in den Herkunftsstaat zurückzukehren (RIS-Justiz RS0074568 [T4]).

2.4. Ob das Kindeswohl iSd Art 13 Abs 1 lit b des HKÜ bei einer Rückgabe gefährdet ist, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Diese Frage bedarf regelmäßig nur dann einer Beurteilung durch den Obersten Gerichtshof, wenn die Vorinstanzen bei ihren Entscheidungen in unvertretbarer Weise von den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgewichen sind (RIS-Justiz RS0112662 [T1, T5]; RS0074568 [T2]).

3. Die Trennung eines Kleinkindes von dem sie hauptsächlich betreuenden Elternteil begründet in der Regel eine Gefährdung des Kindeswohls (vgl etwa zur dtRsp Hausmann, Int u Europ FamR2 Art 13 HKÜ Rz 217 mwN). Im konkreten Fall ergibt sich aus der aktenkundigen familiären Situation, dass die Mutter bereits in Tschetschenien, jedenfalls aber seit Mai 2018 die Hauptbezugsperson des nicht einmal zweijährigen Kindes war und ist. Eine Rückführung kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn es auch der Mutter möglich und zumutbar ist, gemeinsam mit ihrer Tochter in den Herkunftsstaat zurückzukehren.

4.1. Der mit „Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“ überschriebene Art 33 der Genfer Flüchtlingskonvention sieht in Abs 1 Folgendes vor: „Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise in ein Gebiet ausweisen oder zurückweisen, wo sein Leben oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, seiner Religion, seiner Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Überzeugung bedroht wäre“ (Refoulement-Verbot). Art 33 Abs 2 leg cit sieht eine Ausnahme vor, wenn der Flüchtling aus gewichtigen Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Gemeinschaft dieses Landes bedeutet, weil er wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurde.

4.2. In diesem Sinne kann die rechtliche Unzulässigkeit der Rückführung und damit auch die Unzumutbarkeit der Rückkehr in das Heimatland daraus resultieren, dass im Verwaltungsverfahren auf der Grundlage der aktuellen Situation im Heimatstaat die Flüchtlingseigenschaft anerkannt wurde (vgl auch Obergericht Bern 5. 5. 2010, APH-10 81). In diesem Zusammenhang ist auf die zu § 2 Abs 1 UVG ergangene Rechtsprechung zu verweisen, wonach der diesbezüglichen Feststellung im Verwaltungsverfahren stärkste Indizwirkung zukommt (vgl RIS-Justiz RS0110397).

4.3. Im vorliegenden Fall liegt jedoch noch keine Entscheidung im Asylverfahren vor. Die bloße Anhängigkeit eines Asylverfahrens begründet kein Rückführungshindernis, läge es doch andernfalls in der Hand eines Elternteils, allein durch Beantragung von Asyl einseitig die Rückführung zu verhindern. Die etwaige Unzumutbarkeit der Rückführung in das Heimatland wegen Vorliegens von Fluchtgründen ist diesfalls vielmehr im Rückführungsverfahren anhand des Vorbringens der Partei und der vorgelegten Bescheinigungsmittel selbstständig zu prüfen und zu entscheiden (vgl RIS-Justiz RS0109294).

4.4. Ein konkretes Vorbringen zu den Fluchtgründen hat die nunmehr anwaltlich vertretene, behauptungs- und beweispflichtige Revisionsrekurswerberin jedoch nicht erstattet. Ihre diesbezüglichen Angaben zur Notwendigkeit, das russische Staatsgebiet zu verlassen, hat das Erstgericht im Rahmen der Beweiswürdigung als nicht nachvollziehbar bezeichnet. Ebenso hat das Erstgericht die von der Kindesmutter erstattete Strafanzeige gegen den Kindesvater als nicht stichhaltig eingestuft. Das Rekursgericht hat diese Einschätzung mit eingehender Begründung gebilligt.

4.5. Diese dem Tatsachenbereich zuzuordnende Würdigung der Verfahrensergebnisse ist vom Obersten Gerichtshof nicht zu überprüfen. Die rechtliche Beurteilung des Rekursgerichts, die Rückführung dürfe nicht schon daran scheitern, dass sich die Mutter ohne triftigen Grund weigert, gemeinsam mit dem Kind zurückzukehren, ist nicht korrekturbedürftig.

5. Der Revisionsrekurs war daher spruchgemäß zurückzuweisen.

6. Kosten für die Beantwortung des Revisionsrekurses waren nicht zuzusprechen, zumal diese vor Freistellung der Beantwortung erfolgte.

Textnummer

E123870

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2019:0060OB00240.18I.0124.000

Im RIS seit

01.02.2019

Zuletzt aktualisiert am

14.07.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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