TE Bvwg Erkenntnis 2018/7/11 L521 2134102-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.07.2018
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Entscheidungsdatum

11.07.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

L521 2134102-1/41E

Schriftliche Ausfertigung des am 22.05.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Maga. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.08.2016, Zl. 1074418510-150708286, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 22.05.2018 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57 und § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z. 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 20.06.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen EASt am 22.06.2015 gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXX in XXXX geboren und habe dort zuletzt auch im Bezirk XXXX gelebt, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, Moslem der sunnitischen Glaubensrichtung und verheiratet. Im Irak würde sich nach wie vor seine Familie aufhalten, bestehend aus seiner Ehefrau, den vier gemeinsamen Töchtern und seinen vier Schwestern sowie zwei überlebenden Brüdern.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, den Irak am 15.05.2015 legal von XXXX ausgehend im Luftweg in die Türkei verlassen zu haben. Nach einem etwa einmonatigen Aufenthalt in Istanbul sei er schlepperunterstützt auf dem Landweg mit einem Lastkraftwagen nach Österreich verbracht worden.

Zu den Gründen seiner Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, er sei sunnitischer Moslem und fürchte sich von schiitischen Milizen, da er mit dem Tod und der Entführung seiner Kinder bedroht worden sei.

2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 08.06.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Vorarlberg, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich vor der zur Entscheidung berufenen Organwalterin einvernommen.

Eingangs bestätigte der Beschwerdeführer, bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben getätigt zu haben und die arabische Sprache zu verstehen. Zur Person und seinen Lebensumständen befragt gab der Beschwerdeführer an, er bekenne sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung, habe im Irak neun Jahre die Schule besucht und als selbständiger Bäcker gearbeitet. Ferner habe er mit einem Partner einen Eissalon betrieben. Seine Familie halte sich in XXXX auf, eine Schwester würde allerdings in Deutschland leben.

Den Irak habe er am 15.05.2015 legal verlassen, da er bedroht worden sei. Zu Beginn des Monats März 2015 hätten ihn Milizen aufgesucht und von ihm verlangt, als Spion zu arbeiten. Er habe daraufhin abgelehnt. Zwei oder drei weitere Male wäre dasselbe Verlangen an ihn gerichtet worden, wobei er immer abgelehnt habe. Danach sei der Islamische Staat gekommen und habe gesehen, dass der Beschwerdeführer von Milizen aufgesucht werde. Der Islamische Staat habe den Eindruck gewonnen, dass der Beschwerdeführer Informationen über betende Personen an die Milizen weitergeben würde. Am 06.04.2015 gegen 22.00 Uhr sei er von der Arbeit nachhause gekommen und es wäre eine Bombe in seinen Garten geworfen worden. Die Verfolger hätten gewusst, dass er gerade nach Hause kommen würde. Seine Tochter sei durch zersplitternde Fensterscheiben verletzt worden. Nachdem die Polizei den Vorfall aufgenommen habe, habe er sich zur Ausreise entschlossen.

Nach Details nachgefragt legte der Beschwerdeführer dar, die Tage bis zur Ausreise bei einem Freund in XXXX zugebracht zu haben. Seine Familie habe er zu den Schwiegereltern gebracht. Die gezielte Bedrohung richte sich zwar gegen ihn, jedoch sei die Familie deshalb von der Bedrohung mitumfasst. Seine Familie müsse deshalb zu Hause versteckt leben und die Kinder könnten keine Schule besuchen. Er selbst sei vom Islamischen Staat und den Milizen mehrfach bedroht wurden. Die Milizen hätten ihn einmal bedroht, am 15.03.2015 und ihm zwei Wochen Zeit eingeräumt. Der Islamische Staat habe ihn danach bedroht, wann genau wisse er nicht mehr. Außerdem sei er zuvor bereits vom Islamischen Staat telefonisch bedroht worden. Die Nummer habe er jedoch nicht geändert.

3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.08.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde nach der Wiedergabe der Einvernahme des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person aus, es werde nicht als glaubhaft erachtet, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat von schiitischen Milizen oder vom Islamischen Staat bedroht worden sei. Im Fall einer Rückkehr habe der Beschwerdeführer keine von staatlichen Organen ausgehende Verfolgung zu befürchten. Eine Rückkehr in den Irak sei dem Beschwerdeführer zumutbar und möglich, da er über familiäre Anknüpfungspunkt verfüge und nicht festgestellt werde könne, dass ihm im Fall einer Rückkehr die Existenzgrundlage entzogen wäre.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Dem Beschwerdeführer sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da er im Irak über genügend Anknüpfungspunkte verfüge und keine reale Gefahr einer Verletzung in elementaren Rechte sowie keine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohe. Dem Beschwerdeführer sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen.

4. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.08.2016 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

5. Gegen den dem Beschwerdeführer am 16.08.2018 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege seiner gewillkürten rechtsfreundlichen Vertreterin fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen sowie die Rückkehrentscheidung aufzuheben bzw. dahingehend abzuändern, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklärt und dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt wird bzw. festzustellen, dass die Abschiebung in den Irak unzulässig sei. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.

In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach Wiederholung seiner bereits vorgebrachten Ausreisegründe im Wesentlichen vor, die Beweiswürdigung des belangten Bundesamts erweise sich als unschlüssig. Der Beschwerdeführer falle unter die besonders gefährdete Gruppe der Kollaborateure. Das Bundesamt habe die angefochtene Entscheidung auf unvollständige Länderberichte gestützt und insbesondere Ermittlungen zur Rekrutierung von Spitzeln durch Milizen in XXXX durchgeführt. Die Bäckerei des Beschwerdeführers habe sich für solche Spitzeldienste gut geeignet.

Ferner habe der im Verfahren erster Instanz beigezogene Dolmetscher das Vorbringen des Beschwerdeführers abschnittsweise unrichtig übersetzt, was dem Beschwerdeführer auch bei der Rückübersetzung nicht aufgefallen sei. Tatsächlich habe der Islamischen Staat den Beschwerdeführer nicht aufgefordert, für diesen zu kämpfen. Der Beschwerdeführer habe auch niemals angegeben, Christ zu sein.

6. Die Beschwerdevorlage langte am 05.09.2016 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

7. Mit Schriftsatz vom 04.04.2017 brachte der Beschwerdeführer ein Unterstützungsschreiben in Vorlage.

8. Von der für den 10.04.2017 anberaumten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht entschuldigte sich der Beschwerdeführer am 06.04.2017 und brachte eine Bestätigung des Landeskrankenhauses in Bludenz in Vorlage, wonach er dort aufgrund einer Herzerkrankung stationär aufgenommen worden sei. Die Verhandlung wurde in der Folge abberaumt,

9. Mit E-Mail vom 19.04.2017 sowie mit Schriftsatz vom 16.05.2017 brachte der Beschwerdeführer zahlreiche Unterlagen zu seinem Gesundheitszustand in Vorlage.

10. Am 18.07.2017 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und eines gerichtlich beeideten Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand aktueller Länderdokumentationsunterlagen sowie der Position des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zur Rückkehr in den Irak vom 16.11.2016 erörtert. Dem Beschwerdeführer wurden die erörterten länderkundlichen Berichte ausgehändigt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme eingeräumt. Er brachte im Gefolge der Verhandlung einen weiteren Datenträge mit Videoaufnahmen zum Beweis seines Vorbringens Urkunden in arabischer Sprache, Lichtbilder sowie einen Arztbrief in Vorlage.

11. Eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zu den ihm ausgefolgten Länderdokumentationsunterlagen wurde am 08.08.2017 eingebracht.

12. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.09.2017 wurde XXXX, Facharzt für Innere Medizin, zum Sachverständigen bestellt und mit der Erstellung von Befund und Gutachten zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beauftragt. Das Gutachten langte am 31.10.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

13. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte dem Beschwerdeführer zu Handen dessen rechtsfreundlicher Vertretung mit Note vom 10.11.2017 das Gutachten des XXXX sowie aktualisierte Informationen zur Lage im Herkunftsstaat zur Abgabe einer Stellungnahme.

Am 28.11.2017 langte ein Fristerstreckungsantrag beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde infolgedessen die begehrte Fristerstreckung bis zum 19.12.2017 bewilligt. In seiner Stellungnahme vom 19.12.2017 tritt der Beschwerdeführer dem Gutachten des XXXX nicht entgegen, begehrt jedoch die Einholung eines länderkundlichen Sachverständigengutachtens zur Frage ausreichender Behandlungsmöglichkeiten und des tatsächlichen Zugangs zu Medikamenten in XXXX.

14. Das Bundesverwaltungsgericht richtete am 27.12.2017 eine dahingehende Anfrage an die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Die diesbezügliche Anfragebeantwortung langte am 14.02.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde dem Beschwerdeführer mit Note vom selben Tag zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt.

15. Am 28.02.2018 langte neuerlich ein Fristerstreckungsantrag des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde infolgedessen die begehrte Fristerstreckung bis zum 14.03.2017 bewilligt. In seiner Stellungnahme vom 09.03.2018 geht der Beschwerdeführer auf die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nicht ein, berichtet allerding von Verfolgungshandlungen gegen Familienmitglieder in XXXX im Februar 2018. Seine Tochter XXXX habe am 092.02.2018 bei einem benachbarten Lebensmittelverkäufer ein Säckchen Chips kaufen wollen. Dabei sei sie von zwei Männern angesprochen worden, die sich nach dem Beschwerdeführer erkundigt hätten. Der Verkäufer habe die Männer jedoch vertreiben können. In der Folge sei die Familie des Beschwerdeführers nach XXXX geflüchtet und am 16.02.2018 in die Türkei ausgereist.

16. Mit Schriftsatz vom 20.03.2018 brachte der Beschwerdeführer eine Bestätigung betreffend die Absolvierung eines Deutschkurses in Vorlage.

17. Am 22.05.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht die mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und eines Dolmetschers für die arabische Sprache fortgesetzt und der Beschwerdeführer zu den vorgebrachten Neuerungen sowie zur Lage im Fall einer Rückkehr in den Irak befragt. Der Beschwerdeführer brachte außerdem Urkunden zu seiner Integration in Österreich sowie eine ärztliche Überweisung wegen erhöhter Leberwerte in Vorlage.

Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurde das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen mündlich verkündet und seitens des Beschwerdeführers die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses beantragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX, ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Er wurde am XXXX in XXXX geboren und lebte zuletzt in XXXX im Bezirk XXXX in einer Mietwohnung. Der Beschwerdeführer ist Moslem und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung, er ist verheiratet und hat vier Töchter.

Der Beschwerdeführer besuchte in XXXX die Grundschule und anschließend eine weiterführende Schule im Gesamtausmaß von neun Jahren von 1976 bis 1985. Im Anschluss an den Schulbesuch arbeitete er in der elterlichen Bäckerei. In den Jahren 1988 bis 1994 leistete der Beschwerdeführer seinen Wehrdienst ab und trat danach wiederum als Bäcker in die elterliche Bäckerei ein und betrieb diese bis zur Ausreise. Beginnend mit dem Jahr 2008 betrieb der Beschwerdeführer außerdem gemeinsam mit einem Geschäftspartner einen Eissalon.

Die Eltern des Beschwerdeführers sind verstorben, ebenso wie drei Brüder. Ein Bruder des Beschwerdeführers und drei Schwestern leben in der Provinz XXXX in der Stadt XXXX. Die Schwestern des Beschwerdeführers sind allesamt verheiratet und führen den Haushalt, sein Bruder ist Pensionist. Nach der Ausreise hatte der Beschwerdeführer mit seinen Geschwistern in nur geringem Ausmaß Kontakt. Eine weitere Schwester des Beschwerdeführers lebt in der Bundesrepublik Deutschland.

Die Ehegattin des Beschwerdeführers - die gleichzeitig dessen Cousine ist - lebte bis zum 16.02.2018 mit den gemeinsamen Kindern in XXXX bei ihren Eltern im Bezirk XXXX in XXXX. Der Schwiegervater des Beschwerdeführers ist dessen Onkel väterlicherseits, er bekennt sich zum schiitischen Glauben. Am 16.02.2018 reisten die Ehegattin des Beschwerdeführers und die gemeinsamen Kinder in die Türkei und registrierten sich dort bei UNHCR als Flüchtlinge.

Am 15.05.2015 verließ der Beschwerdeführer den Irak legal von XXXX ausgehend mit dem Flugzeug in die Türkei und reiste in weiterer Folge schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 20.06.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin - insbesondere in ein sunnitisches Viertel in XXXX - einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass auf den Beschwerdeführer von Kämpfern der Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq ein Bombenanschlag verübt oder er von Kämpfern dieser Miliz bedroht wurde.

1.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

Der Beschwerdeführer ist ein arbeitsfähiger Mensch mit hinreichender Ausbildung in der Schule und langjähriger Berufserfahrung als Bäcker. Der Beschwerdeführer verfügt über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat und dort sowohl in XXXX sowie in XXXX über familiäre Anknüpfungspunkte und eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft.

Der Beschwerdeführer verfügt über irakische Ausweisdokumente im Original (Personalausweis und Staatsbürgerschaftsnachweis).

1.4. Der Beschwerdeführer stand am 26.07.2016 wegen multifaktorieller Kopfschmerzen in ambulanter Behandlung. Am 23.10.2016 wurde er aufgrund von Abdominalgien (Bauchschmerzen) fünf Stunden im Landeskrankenhaus Bludenz behandelt. Am 03.04.2017 wurde der Beschwerdeführer aufgrund eines Nicht-ST-Hebungsinfarktes am Herzen (NSTEMI, ein Herzinfarkt, der im Blutlabor aufgrund des Untergangs von Herzmuskelzellen nachweisbar ist) im Landeskrankenhaus Bludenz aufgenommen und am 13.04.2017 mit der Diagnose einer koronaren 1-Gefäßerkrankung mit hochgradiger Stenose eines kleinen Astes (1. Koronararterienseitenast des großen Vorderwandastes) entlassen. Eine koronare Intervention wurde nicht als erforderlich erachtet und eine medikamentöse Therapie (Brilique 90 mg bis April 2018, Thrombo Ass 100 mg, Sortis 80 mg, Concor 5 mg, Prantoprazol 40 mg, Ramipril 2,5 mg) verordnet.

Am 17.10.2017 (Tag der Untersuchung durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen XXXX) nahm der Beschwerdeführer weiterhin die vorstehend angeführte Medikation ein. Er beklagte keine Herzbeschwerden, auf Nachfrage jedoch fallweise leichte Atemnot und Schwindelgefühle. Wegen psychischer Probleme nehme er das Präparat Inderal 2x20mg etwa fünf Mal wöchentlich. Sortis sei auf 40 mg reduziert worden. Er rauche nach wie vor ca. 10-15 Zigaretten täglich. Die Magenbeschwerden wären durch die Therapie kompensiert.

Die Erkrankungen des Beschwerdeführers befinden sich in chronisch stabilem Zustand. Die in der Akutphase bestehenden EKG-Veränderungen sind nicht mehr nachweisbar und derzeit keine typischen Symptome ersichtlich. Die aktuelle medikamentöse Therapie entspricht den Empfehlungen nach einem NSTEMI. Sollte der Zugang zu Brilique nicht gegeben sein, wäre als Alternative Clopidogrel 75 mg möglich.

Die koronare Herzerkrankung des Beschwerdeführers bedarf einer dauerhaften medikamentösen Behandlung mit Thrombo Ass und bis April 2018 mit Brilique bzw. Clopidogrel bzw. anschließend mit Clopidogrel. Der Beschwerdeführer gibt an, Brilique auch nach dem April 2018 weiterhin einzunehmen. Dazu sind weiterhin Magenschutz und cholesterinsenkende bzw. blutdrucksenken Medikamente (wie gegenwärtig Prantoprazol bzw. Sortis und Ramipril) erforderlich. Aus Sicht des Sachverständigen ist ferner Nikotinabstinenz notwendig. Im Fall einer akuten Angina pectoris bei drohendem Verschluss ist eine konservative medikamentöse Therapie vertretbar, wobei eine Überwachung von Vorteil wäre. Bei Nichteinhaltung der Bedingungen käme es schlimmstenfalls zu ein er gefäßbezogenen Infarzierung, deren Prognose allerdings als günstig einzuschätzen ist.

Im Fall einer Abschiebung in den Irak ist im Hinblick auf die koronare Herzerkrankung bei einer Weiterführung der derzeitigen Medikation Stabilität gegeben. Eine koronare Intervention (Stentimplantation über Herzkatheder) ist derzeit nicht indiziert, da aufgrund des kleinen Versorgungsradius des betroffenen Koronararterienastes der Nutzen einer solchen Intervention in keinem Verhältnis zum Komplikationsrisiko steht. Schlimmstenfalls könnte langfristig ein Verschluss der derzeitigen Stenose mit nachfolgender Infarzierung stattfinden. Eine daraus resultierende Lebensbedrohlichkeit ist kaum zu erwarten, da es sich um ein kleines Gefäß handelt, sodass der Gefäßschaden nicht zu einer relevanten Reduktion der Herzleistung führen sollte. Die drei großen Koronararterienäste des Beschwerdeführers zeigen sich angiographisch frei von degenerativen Stenosen.

Clopidogrel ist im Irak in öffentlichen Krankenanstalten erhältlich (EUR 13,63 je Packung mit 30 Stück). Die weiteren notwendigen Medikamente bzw. Wirkstoffe sind in Apotheken zu beziehen (Atorvastatin zur Absenkung des Cholesterinspiegels kann je nach Dosierung zu EUR 4,09-14,31 je Packung mit 30 Stück, Pantoprazol zu EUR 8,18 je Packung mit 15 Stück, Ramipril zu EUR 5,11 je Packung mit 28 Stück. Concor kann für EUR 4,09 je Packung mit 30 Stück erworben werden).

Patienten müssen selbst für Medikamente von privaten Apotheken aufkommen. Es gibt Krankenhäuser der Regierung, die Patienten mit chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes oder Herzkrankheiten zu niedrigen Preisen mit ihren monatlich benötigten Medikamenten versorgen. Es gibt auch mehrere Wohlfahrtskliniken, die einzelne Medikamente anbieten können. Eine Konsultation bei einem Kardiologen in einer privaten Einrichtung kostet IQD 25.000 (EUR 17,04). In öffentlichen Spitälern kostet eine Konsultation bei einem Kardiologen IQD 3.000 (EUR 2,04). Der Patient muss IQD 5.000 (EUR 3,41) pro Tag zahlen, wenn er stationär aufgenommen wird.

In Bagdad gibt es ein kardiologisches Zentrum, das Ibn al-Bitar Krankenhaus für Herzchirurgie, das gänzlich kostenfreie Behandlungen anbietet. Aus diesem Grund gibt es dort jedoch lange Wartezeiten.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer infolge unzureichender finanzieller Mittel unzureichenden Zugang zu Medikamenten haben wird.

Zuletzt wurden erhöhte Leberwerte beim Beschwerdeführer erhoben, die Ursachen dafür sind nicht bekannt.

1.5. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 20.06.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel. Er ist strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und ist in Bludenz in einer Unterkunft für Asylwerber untergebracht. Er ist nicht legal erwerbstätig und hat auch keine Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt in Aussicht. Der Beschwerdeführer verrichtete allerdings gemeinnützige Tätigkeiten.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten und pflegt im Übrigen normale soziale Kontakte. Er ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig und in Österreich alleinstehend.

Der Beschwerdeführer besuchte sprachliche Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache der Caritas der Diözese Feldkirch - zuletzt vom 19.03.2018 bis zum 04.05.2018 auf dem Niveau A1.2. Er legte allerdings keine Prüfungen über Deutschkenntnisse ab und verfügt über nur rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache. Der Beschwerdeführer besuchte auch ein Abfallcoaching und eine Schulung "Gut wohnen mit weniger Energie und Wasser".

1.6. Die Beschwerdeführer unterliegt im Fall einer Rückkehr in den Irak und dort nach Bagdad oder in die Provinz XXXX keiner mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden Gefährdung aufgrund seines Bekenntnisses zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.

1.7. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1. Politische Lage

Im März 2003 kam es zum Einmarsch von Truppen einer Koalition, die von den USA angeführt wurde (BBC 12.7.2017). Als Grund hierfür wurden Massenvernichtungswaffen angegeben, deren Existenz jedoch nie bestätigt werden konnte. Nach dem im März 2003 erfolgten Sturz von Saddam Hussein, einem Angehörigen der sunnitischen Minderheit, wurden die Regierungen von Vertretern der schiitischen Mehrheitsbevölkerung geführt (BPB 9.11.2015). Mit 2003 begann der Aufstieg von [vorwiegend] irantreuen bzw. dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien/Milizen, denen die amerikanischen Invasoren erlaubten, aus dem iranischen Exil in ihre Heimat zurückzukehren (SWP 8.2016; vgl. Hiltermann 26.4.2017). Es konnte nach der Entmachtung Husseins weder eine umfassende Demokratisierung noch eine Stabilisierung erreicht werden, da die Strukturen des neuen politischen Systems das Land entlang ethnisch-konfessioneller Linien fragmentierten (BPB 9.11.2015). Die von der US-Besatzung beschlossene Auflösung der irakischen Armee sowie das Verbot der Baath-Partei ließen viele Sunniten, darunter erfahrene Militärs, radikalen islamistischen Gruppen zuströmen (Spiegel 18.4.2015). Die sunnitische Minderheit fühlte sich zunehmend diskriminiert und radikale Anführer konnten immer mehr Anhänger gewinnen (AI 28.5.2008). Zudem hatte die Demontage der irakischen Armee und irakischen Sicherheitskräfte durch die US-geführte Koalition ein Sicherheitsvakuum hinterlassen, das die schiitischen Milizen zu füllen versuchten, wodurch es zu einem sunnitischen Aufstand kam (Hiltermann 26.4.2017). Die US-Regierung (sowohl die Bush-, als auch die Obama-Regierung) arbeitete zum Teil mit diesen Kräften (Badr-Miliz) zusammen, und verschloss vor den Gewaltexzessen der schiitischen Milizen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung die Augen (Reuters 14.12.2015). Während die Revolte der Sunniten gegen die US-Präsenz seit 2003 eher eine nationalistisch als eine religiös geprägte Bewegung war, entwickelte die Revolte zunehmend einen dominanten radikal-sunnitisch-islamistischen Zug. Der in der Folge entstehende konfessionelle Bürgerkrieg (ca. 2005 bis 2007) führte zu einer Änderung der US-Politik im Irak, die wiederum die Niederlage von Al-Qaida im Irak (AQI) herbeiführte. Doch dadurch, dass das Problem der Ausgrenzung der Sunniten weiter bestehen blieb, kam es zu weiteren Protesten in den sunnitischen Gebieten in den Jahren 2013 und 2014, daraufhin zu einer gewaltsamen Antwort von Seiten des Staates und danach zur Übernahme sunnitischer Gebiete durch eine noch radikalere Version von Al-Qaida - durch die Organisation "Islamischer Staat" [IS, auch ISIS oder ISIL, vormals ISI, arabisch Daesh] (Hiltermann 26.4.2017). Diese konnte in große Teile der sunnitischen Gebiete im Westen des Irak, in kurdische Gebiete im Norden des Irak und in Teile Syriens vordringen (ACCORD 12.2016). Als die nach der Entmachtung Saddam Husseins neu aufgestellte Armee vorübergehend "kollabierte", mobilisierten schiitische Führer in Notwehr ihre Gefolgschaft, wodurch die schiitischen Milizen (allen voran die Badr Organisation, Asaib Ahl al-Haq und Kataeb Hezbollah, mit Unterstützung des Irans) verstärkt auf den Plan traten und sich nordwärts in die sunnitischen Gebiete bewegten (Hiltermann 26.4.2017).

Das politische Geschehen ist trotz großer Erfolge bei der Rückeroberung von IS weiterhin vom Kampf gegen den IS geprägt (ÖB 12.2016). Seit Ende 2015 wird der IS mit einem Bündnis auf Zeit aus irakischem Militär, kurdischen Peschmerga, schiitischen Milizen und Luftschlägen der internationalen US-geführten Anti-IS-Koalition bekämpft (AA 7.2.2017).

Nach dem Referendum über die Lossagung Irakisch-Kurdistans vom Irak am 25.9.2017 erklärte der Kurdenführer Mas?ud Barzani am Tag darauf (noch vor der offiziellen Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses), dass die Mehrheit der Kurden, die ihre Stimme abgaben, die Unabhängigkeit unterstützen würden. Die Beteiligung lag in etwa bei 72 Prozent (Al-Jazeera 27.9.2017). Wahlberechtigt waren ca. fünf Millionen Einwohner, darunter mehrheitlich Kurden verschiedenen Glaubens, aber auch Christen und die meist sunnitischen Araber und Turkmenen der Region (Tagesspiegel 25.9.2017). Nach vorläufigen Zahlen von Barzanis KDP (Kurdische Demokratische Partei) stimmten beim Referendum knapp 92 Prozent für die Unabhängigkeit. Trotz internationaler Kritik und Warnungen hatte die kurdische Autonomieregierung die Bürger am Montag abstimmen lassen (Standard 27.9.2017). Die Zentralregierung hält das Referendum für verfassungswidrig. Auch die Türkei und der Iran sind strikt gegen einen unabhängigen Kurdenstaat. Bereits kurz nach der Abstimmung hatten die türkische und die irakische Armee ein gemeinsames Militärmanöver begonnen. Laut dem irakischen Generalstabschef Uthman al-Ghanami finde die Übung in der Gegend des Grenzübergangs Habur statt, des Übergangs zwischen der Türkei und der Kurdenregion im Nordirak. Die türkische Armee hatte das Manöver bereits eine Woche zuvor begonnen (Standard 27.9.2017). Die Türkei reagierte auch mit der Ankündigung von wirtschaftlichen Sanktionen. Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Folgetag des Referendums, dass die "irakischen Kurden hungern würden, wenn sein Land keine Lastwagen mehr in die Region ließe." Er drohte darüber zudem mit einem Stopp des kurdischen Ölexports und einer militärischen Intervention im Nordirak nach dem Vorbild des türkischen Einmarschs in Syrien. Das Referendum nannte er "null und nichtig" (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Der Nachbarstaat Iran schloss als Reaktion auf das Referendum nach dem Luftraum laut offiziellen Angaben auch die Landgrenze zu den Kurdengebieten. Allerdings gab es unterschiedliche Berichte darüber, ob ein Grenzübergang weiterhin geöffnet blieb. Parlamentspräsident Ali Larijani kündigte am Dienstag zudem an, dass das Parlament "alles, was zu einer Desintegration der Region führen könnte", nicht anerkennen werde. Medienangaben zufolge gab es wegen des Referendums am Montag spontane Straßenfeiern in mehreren kurdischen Städten im Iran (Standard 26.9.2017). Der Iran und die von ihm finanzierten schiitischen Milizen im Irak. sehen die Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden als Bedrohung einer iranisch dominierten Neuordnung der Region, die über den Irak und Syrien bis in den Libanon reicht. Dazu braucht die iranische Führung einen Irak in seinen jetzigen Grenzen und mit seinen Ölquellen in Kirkuk. Iranische Militärs und Revolutionsgardisten mahnten zunächst in eher blumigen Worten, inzwischen melden sie das Recht auf militärische Aktionen auf kurdischem Territorium an, sollte Erbil die Unabhängigkeit vorantreiben. Sie wittern hinter dem Referendum auch eine amerikanisch-israelische Strategie zur Unterminierung iranischer Interessen. Was in diesem Fall nur zur Hälfte stimmt. Israel ist in der Tat der einzige Staat im Nahen Osten, der das Referendum befürwortet, Kurden und Israelis haben eine lange Geschichte gegenseitiger Unterstützung (Zeit 24.9.2017). Die Türkei und der Iran befürchten darüber hinaus Auswirkungen auf die Autonomiebestrebungen ihrer eigenen kurdischen Minderheiten. Die USA als wichtiger Verbündeter der Kurden hatten sich ebenfalls gegen das Referendum ausgesprochen, weil sie den Kampf gegen den IS gefährdet sehen (Standard 26.9.2017).

Die irakische Regierung beantwortete den Aufruf Barzanis, mit den Kurden nun in Verhandlungen zu treten, ebenfalls mit einer Drohung. Premierminister Haider al-Abadi forderte die Kurden auf, binnen drei Tagen die Kontrolle der Flughäfen im Norden des Landes an die Zentralregierung zu übergeben. Sollte dies nicht geschehen, werde die irakische Regierung den Luftraum sperren und keine Flüge mehr aus oder in den Nordirak zulassen. Inlandsflüge seien davon jedoch nicht betroffen und internationale Flüge in und aus der Kurdenregion könnten [nach derzeitigem Stand] über Bagdad stattfinden (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Darüber hinaus stimmte das irakische Parlament bereits am Montag dafür, die irakische Armee in jene Gebiete zu schicken, in denen das Referendum abgehalten wurde, die jedoch laut irakischer Verfassung von 2005 als "umstrittenen" gelten - insbesondere Kirkuk und Umgebung, wo die Kurden die völlige Kontrolle übernahmen, nachdem 2014 die irakische Armee vor dem "Islamischen Staat" (IS) geflohen war (Harrer 26.9.2017).

Der Armeeeinsatz in den umstrittenen Gebieten, insbesondere in Kirkuk und Umgebung, führte zum Zusammenbruch der irakisch-kurdischen Peschmerga unter dem gemeinsamen Druck von Irak und Iran kurz nach dem Referendum über die Unabhängigkeit der Kurden am 25. September 2017 und könnte den Nordirak letztlich eher destabilisieren. Die Peshmerga zogen sich am 16. und 17. Oktober 2017 aus den umkämpften Gebieten im Nordirak im Wesentlichen zurück (siehe hiezu die untenstehende Karte). Details dazu siehe Punkte

1.1. und 2.4.

Staatsform & Parteien

Der Irak ist formal-konstitutionell eine republikanische, demokratische, föderal organisierte und parlamentarische Republik. So sieht es die gültige Verfassung von 2005 vor. Sitz von Regierung und Parlament ist Bagdad. Staatspräsident ist seit dem 24.07.2014 der Kurde Fuad Massum, Angehöriger der irakisch-kurdischen Partei Patriotic Union of Kurdistan - PUK. Ein Teil des föderalen Staates ist auch das kurdische Autonomiegebiet, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Diese Föderale Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung, sowie gesonderte Militäreinheiten, die Peschmerga (LIP 6.2015). Im Irak gibt es eine Vielzahl von Parteien (zu einer Anerkennung genügen laut Parteiengesetz 500 Unterschriften). Sie haben sich vor und nach den Wahlen zu Bündnissen zusammengeschlossen (AA 7.2.2017).

Wahlen & Premierminister

Die nationalen Wahlen, die im April 2014 stattfanden, hatte zwar abermals der zuvor amtierende Premierminister Nouri al-Maliki gewonnen, da es jedoch auf Grund seines autoritären und pro-schiitischen Regierungsstils massive Widerstände gegen ihn gab, trat er im August 2014 auf kurdischen, internationalen, aber auch auf innerparteilichen Druck hin zurück (GIZ 6.2015). Maliki wird unter anderem vorgeworfen, mit seiner sunnitenfeindlichen Politik (Ausgrenzung von sunnitischen Politikern, Niederschlagung sunnitischer Demonstrationen, etc.) deutlich zur Entstehung radikaler sunnitischer Gruppen, wie dem IS, beigetragen zu haben (Qantara 17.8.2015; vgl. auch Abschnitt "Sicherheitslage"). Infolge dessen wurde die schiitisch dominierte Regierung des Premierministers Nuri al-Maliki von einer nationalen Einheitsregierung mit Beteiligung von Sunniten und Kurden unter dem gemäßigteren Premierminister Haidar al-Abadi abgelöst (HRW 29.1.2015). Abadi ist ebenfalls Schiite und ein Parteikollege Malikis in der Da'wa-Partei. Er ist mit dem Versprechen angetreten, das ethno-religiöse Spektrum der irakischen Bevölkerung wieder stärker abzudecken (GIZ 6.2015), und zunächst konnten durch seine Ernennung zum irakischen Premierminister tatsächlich einige gesellschaftliche Gräben geschmälert werden. Von einer tatsächlichen Versöhnung zwischen den ethnischen und religiösen Gruppierungen ist jedoch nichts zu bemerken (ÖB 12.2016). Die Besetzung aller politischen Führungspositionen, so auch der Kabinettsposten, folgt seit Jahren einem Kalkül ethnisch/religiöser Balance. Die sunnitischen Regierungs- und Parlamentsmitglieder stehen unter Druck, da ihre Kooperation in Bagdad bislang kaum dazu beitrug, ihre Klientel zu schützen (ÖB 12.2016). Das irakische Parlament wählte den moderaten sunnitischen Politiker Salim al-Jabouri zum Parlamentspräsidenten (Al Arabiya 15.7.2014).

Abadis Reformen sind bislang nur oberflächlicher Natur oder harren noch ihrer Umsetzung. Unterstützt werden die Reformpläne der Regierung bislang immerhin durch die höchste geistliche Autorität der Schiiten, Großajatollah Al-Sistani (AA 7.2.2017). Insgesamt ist die Zentralregierung aber schwach, Premierminister Abadi kann gegen die internen Rivalitäten der schiitischen Parteien nicht viel ausrichten. Er ist von zahlreichen Herausforderern umgeben: Dem Ex-Premierminister Nouri al-Maliki, dem Oppositionsführer und populärer Priester Muqtada al-Sadr, sowie den anderen Anführern schiitischer Milizen (Stansfield 26.4.2017).

Das irakische Parlament hat am 29.01.2017 die neuen Minister für Verteidigung und Inneres bestätigt. Der Armeegeneral Erfan al-Hiyali von der sunnitischen Minderheit im Land wird künftig das Verteidigungsministerium führen. Kasim al-Aradschi von der schiitischen Badr-Organisation leitet das Ressort Inneres. Ministerpräsident Haider al-Abadi lobte die Entscheidung des Parlaments als "guten Fortschritt zu einer entscheidenden Zeit". Beide Posten waren monatelang unbesetzt (ORF, 30.01.2017).

Schiitische Milizen, Rolle des Ex-Premierminister Maliki und Einfluss des Iran

Abadi hat mit dem Iran-freundlichen Ex-Premierminister Maliki (nunmehr Vize-Premierminister und Vorsitzender der State of Law Coalition, sowie Da'wa-Parteiführer) einen starken Widersacher innerhalb seiner Partei. Ein Problem Abadis ist auch die Macht der schiitischen Milizen - einerseits unverzichtbar für Abadi im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (Standard 5.11.2015), gleichzeitig wird deren Einsatz aber von der sunnitischen Bevölkerung als das "Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub" gesehen. Das Vertrauen der sunnitischen Bevölkerung in die schiitisch dominierte Zentralregierung bleibt weiterhin minimal. Der Einsatz dieser Milizen im Kampf gegen den IS wird von Sunniten meist abgelehnt, sie fürchten ein ruchloses Vorgehen der Milizen und dulden daher oft die sunnitischen Extremisten in ihren Gebieten. Berichte zu Übergriffen der schiitischen Milizen konterkarieren die Versuche von Premierminister Haidar al-Abadi, den arabischen Sunniten wieder Vertrauen in den irakischen Staat einzuflößen (ÖB 12.2016). Bezüglich der schiitischen Milizen spielt auch der schiitisch dominierte Iran eine große Rolle, der insgesamt einen großen Einfluss auf den Irak ausübt. An den Schalthebeln der Macht in Bagdad werden selbst hochrangige irakische Kabinettsmitglieder von der iranischen Führung abgesegnet oder "hinauskomplementiert". Dadurch kommt es auch dazu, dass Gesetze verabschiedet werden, wie z. B. jenes vom November 2016, das die schiitischen Milizen effektiv zu einem permanenten Fixum der irakischen Sicherheitskräfte macht (NYTimes 15.7.2017), und sie im Rahmen der Dachorganisation PMF (auch PMU, Popular Mobilisation Forces/Units, Volksmobilisierung, arabisch Al-Hashd al-Shaabi) der irakischen Armee gleichstellt (Harrer 9.12.2016). Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt. Dem Iran geht es dabei nicht nur um die weitere Ausbreitung der Kontrolle über irakisches Gebiet, sondern auch darum, einen Korridor zu den Stellvertreterkräften in Syrien und im Libanon zu bilden. Was im März 2017 passierte, nämlich, dass Iran-gestützte schiitische Milizen zum ersten Mal den gesamten Weg westwärts bis zur syrisch-irakischen Grenze vorstoßen konnten, quer durch irakisches, vorwiegend sunnitisches Gebiet, veranschaulicht dieses Vorhaben (ICG 31.5.2017; vgl. NY Times 15.7.2017). Der ehemalige Premierminister Maliki, der sich bereits zu seiner Amtszeit stark in Richtung Iran gelehnt hatte, und der nach Ende seiner Amtszeit weiterhin massiv von der Zusammenarbeit mit dem Iran profitierte, spielt heute auf politischer Ebene in Bezug auf die PMF eine zentrale Rolle. Unter anderem aufgrund der Schwäche des Irakischen Staates, der Dominanz des Irans, sowie ganz besonders aufgrund der Hilfe, die der reguläre irakische Sicherheitsapparat für das Zurückschlagen des IS benötigt(e), blieb Abadi keine andere Wahl, als den PMF-Milizen zu noch weiterem Einfluss zu verhelfen - in Fortsetzung der bezüglich der Milizen vorangetriebenen Legitimierungspolitik Malikis. Die PMF sind somit einerseits eine vom Staat mittlerweile legitimierte und der Armee gleichgestellte Dachorganisation von - fast ausschließlich - schiitischen Milizen, gleichzeitig werden sie aber von nicht-staatlichen Anführern befehligt (Carnegie 28.4.2017). Maliki versucht, an die Spitze der irakischen Politik zurückzukehren, und hat als Verbündete dabei den Iran und "seine" neue Hausmacht, die schiitischen Milizen (Harrer 13.2.2017). Gegen dieses Vorhaben regt sich insbesondere auch im Süden verstärkter Widerstand: Die Anhänger der Sadr-Bewegung [Muqtada al-Sadr: Führer der Sadr-Bewegung, einer politischen Partei, sowie Führer der Saraya al-Salam] wollen mittels Demonstrationen die Hoffnung Malikis auf eine Rückkehr verhindern. Ein innerschiitischer Konflikt zwischen Sadristen und Maliki-Anhängern ist spürbar, auch wenn diesbezügliche militärische Auseinandersetzungen unwahrscheinlich sind (Al Monitor 26.1.2017). Zu solchen Auseinandersetzungen war es zwischen diesen beiden Lagern im Jahr 2008 in Basra gekommen (BBC 12.7.2017).

Die Sadr-Bewegung ist aber auch gegenüber Abadis Regierung kritisch eingestellt. Muqtada al-Sadr stilisiert sich als irakischer Nationalist, der gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik ankämpft, der jedoch andererseits Abadis Reformen zum Teil sogar blockiert, wie z.B. Abadis Versuch, eine Technokratenregierung aufzustellen. Darüber hinaus führt die Sadr-Bewegung regierungskritische Demonstrationen durch, die - trotz Aufrufs Sadrs, friedlich zu protestieren - außer Kontrolle geraten können und zuletzt im Februar 2017 in Bagdad zur wiederholten Erstürmung der Grünen Zone führten. Die Proteste der Sadr-Bewegung spielen Maliki in die Hände und schwächen Abadi zusätzlich, der in der Schusslinie zwischen Sadr und Maliki steht (Harrer 13.2.2017). In Hinblick auf die Parlamentswahl im Jahr 2018 und einen möglichen Erfolg des pro-iranischen Maliki, näherte sich Premierminister Abadi einer Koalition einflussreicher schiitischer religiöser und politischer Führer (darunter auch besagter Muqtada al-Sadr) an, mit dem Ziel Maliki zu isolieren (IFK 9.6.2017).

Der gemeinsame Gegner IS schweißte 2014 das Land und teilweise auch die Bevölkerung etwas zusammen, doch die Bruchlinien bleiben insbesondere mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS akut: Nicht nur zwischen Schiiten und Sunniten oder innerhalb der schiitischen Kräfte, sondern auch zwischen der KRI (Kurdische Region im Irak) und der Zentralregierung, innerhalb der kurdischen Gruppierungen sowie zwischen de facto allen Mehrheitsbevölkerungen und Religionen und den Minderheiten in ihrem Bereich. Mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS gehen auch ein verstärkter Terrorismus, neue humanitäre Herausforderungen und wiederaufflammende Spannungen einher. Eine ethnisch-religiöse Aussöhnung hat nicht stattgefunden. Die Gefahr eines weiteren Zerfalls des Staates, samt bewaffneten Auseinandersetzungen ist nach wie vor nicht gebannt (ÖB 12.2016). Insbesondere ist auch unklar, ob die vom IS zurückeroberten sunnitischen Gebiete auf eine Weise verwaltet werden, die nicht erneuten Unfrieden und eine erneute Rebellion (unter dem Banner des IS oder einer anderen Organisation) provozieren wird (OA/EASO 2.2017). Die Islamisten genießen im Irak in der Bevölkerung nach wie vor Unterstützung, da sie sich als Beschützer der sunnitischen Gemeinschaft präsentieren. Der IS ist ja ursprünglich vorrangig eine irakische Organisation mit starken lokalen Wurzeln (Stansfield 26.4.2017), und selbst das Zurückschlagen des IS in Mossul vermag es nicht, die schiitisch-sunnitischen Spannungen zu lösen, die das Ergebnis einer mangelnden politischen Übereinkunft sind (USCIRF 26.4.2017). Die Gewalt, der die Sunniten seit der US-geführten Invasion im Irak von Seiten Iran-gestützter Regierungen und Milizen ausgesetzt waren [und sind], hat in der sunnitisch-arabischen Bevölkerung ein tiefgreifendes und gefährliches Gefühl der Viktimisierung bewirkt, das Rekrutierungsbemühungen von Jihadisten in die Hände spielt (ICG 22.3.2017). Die Rolle der internationalen Koalition gegen den IS ist zwiespältig. Während diese sich selbst als unparteiischen Akteur sehen mag (abgesehen vom Kampf gegen den IS), sehen das die irakischen Akteure anders, die die Koalition alleine schon auf Grund der Wahl ihrer Verbündeten als völlig parteiisch ansehen (ICG 31.5.2017).

2. Sicherheitslage

Hintergrund

Nachdem die irakische Armee im Sommer 2014 vorübergehend Auflösungserscheinungen zeigte und dem IS kampflos große Gebiete des Landes überließ (Spiegel 15.6.2014), veröffentlichte der schiitische Religionsführer im Irak, Großayatollah Ali al-Sistani einen Aufruf zur Mobilisierung gegen den IS, infolge dessen sich zahlreiche schiitische Milizen gründeten. Auch ältere schiitische Milizen aus der Zeit der religiös motivierten Gewalt von 2006 gewannen wieder an Einfluss. Mit Unterstützung des Irans konnten diese einen Angriff des IS auf die Hauptstadt verhindern und die Terrororganisation weiter nach Norden zurückdrängen. Seit Ende 2015 forciert Bagdad eine Regierungsoffensive gegen den IS, bei der mit Einsatz von schiitischen Milizen, sunnitischen Stammeskämpfern und Luftunterstützung der USA vorige IS-Hochburgen wie Ramadi und Fallujah zurückerobert werden konnten (ACCORD 12.2016). In den Jahren 2015 und 2016 wurden auch die Städte Tikrit, Hit, Rutba, sowie die Gegend um Sinjar, die sich unter der Kontrolle des IS befunden hatten, zurückerobert (ÖB 12.2016). Der bewaffnete Konflikt ging somit im Jahr 2016 unvermindert weiter (AI 31.12.2016), und mit Stand Dezember 2016 waren bereits 60 Prozent des Gebietes, das im Irak unter Kontrolle des IS stand, zurückerobert (ÖB 12.2016). Laut dem Irakexperten des "Institute for the Study of War", Patrick Martin, hat der IS im Irak mit Stand Juli 2017 nur noch etwa sieben Prozent des ursprünglichen IS-Gebietes unter seiner Kontrolle, gleichzeitig warnt er jedoch davor, den IS zu früh als mögliche weitere Bedrohung abzuschreiben (Daily Star 10.7.2017). Im Zuge der Rückeroberungen werden im Irak immer wieder zahlreiche Massengräber gefunden (Standard 11.5.2017; USDOS 3.3.2017, HRW 16.11.2016). Die Offensive zur Rückeroberung Mossuls startete im Oktober 2016 und am 9. Juli 2017 verkündete Premierminister Abadi (nach fast neun Monaten schwerer Kämpfe und fast einer Million Vertriebener) den erfolgreichen Abschluss derselben (OCHA 13.7.2017).

Im Irak leben ca. 36 Millionen Einwohner, wobei die diesbezüglichen Schätzungen unterschiedlich sind. Die letzte Volkszählung wurde 1997 durchgeführt. Im Gouvernement Bagdad leben ca. 7,6 Millionen Einwohner. Geschätzte 99% der Einwohner sind Moslems, wovon ca. 60%-65% der schiitischen und ca. 32%-37% der sunnitischen Glaubensrichtung angehören (CIA World Factbook 2014-2015, AA 10.5.2016).

Aktuelle Sicherheitslage

Die Rückeroberung Tal-Afars verzögerte sich zunächst auf Grund der Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen teilnehmenden Akteuren. Vom Iran gestützte schiitische Milizen drängten darauf, eine Rolle bei der Eroberung der Stadt zu spielen, was die Türkei und die USA, sowie auch Premierminister Abadi zu verhindern versuchten. Bei der am 20. August begonnenen Tal-Afar-Offensive nehmen die PMF-Milizen trotz vorangehender Konzessionen gegenüber Abadi nun doch teil (WI 22.8.2017; ISW 26.6.2017; AA 7.2.2017). Luftangriffe auf Tal-Afar werden schon seit längerer Zeit von der Anti-IS-Allianz und der irakischen Luftwaffe durchgeführt. Inzwischen gibt es erste Berichte, nach denen der IS Bewohner aus dem Bezirk Tal-Afar in die Stadt treibt, um sie als Schutzschilde zu verwenden, ähnlich wie er das auch bei der Mossul-Offensive betrieben hatte (Harrer 20.8.2017). Für die schiitischen Milizen ist Tal-Afar ein besonders wichtiges Ziel. Im Gegensatz zum sunnitisch-dominierten Mossul gab es dort vor der Eroberung durch den IS einen signifikanten schiitischen Bevölkerungsanteil und die Stadt war die nördlichste Hochburg der Milizen, die sie nun zurückerobern möchten, und sich darüber hinaus für die seit 2005 durch djihadistische sunnitische Gruppen verübten Verwüstungen rächen wollen (17.7.2017). Ebenso gab es Befürchtungen der Türkei (die weiterhin in der Nähe von Mossul mit Truppen präsent ist), denn Tal Afar ist zum Teil eine turkmenische Stadt (Harrer 20.8.2017). Die UNO warnt vor weiterer Gewalt an mutmaßlichen IS-Kollaborateuren, prangert die - insbesondere auch nach der Rückeroberung Mossuls - im ganzen Land stattfindenden Racheakte an und fordert den irakischen Regierungschef Abadi auf, dringend Maßnahmen zur Unterbindung der "Kollektivbestrafung" ganzer Familien zu ergreifen (Standard 17.7.2017).

Bezüglich der Offensive zur Rückeroberung Hawijas gibt es weiterhin Dispute, welche Kräfte das Gebiet betreten werden. Auch hier wird bezüglich schiitischer Milizen und kurdischer Kämpfer befürchtet, dass es zu Racheakten an der sunnitischen Bevölkerung kommen könnte (ICG 22.9.2016), bzw. dass eine Invasion durch nicht-sunnitische Kräfte sogar eine Ausweitung der bewaffneten Kämpfe auf weitere Teile der umstrittenen Gebiete auslösen könnte. Hawija stand in den letzten Jahren im Zentrum mehrfacher und bedeutender sunnitischer Aufstände (Rudaw 17.5.2017).

Nachdem Premierminister Abadi am 31. August 2017 die gesamte Provinz Ninewah für vom IS zurückerobert erklärt hatte (Rudaw 31.8.2017), liegt der Focus nun auf den Provinzen Anbar und Kirkuk. Am 21. September 2017 startete die Operation zur Rückeroberung der in der Provinz Kirkuk/Tameem liegenden Stadt Hawija und deren Umgebung (BAMF 25.9.2017). Bei der Operation nehmen irakische Truppen, sowie schiitische Milizen teil, die kurdischen Peschmerga sind derzeit nicht beteiligt (Al-Jazeera 23.9.2017). Das Gebiet liegt jedoch im von den Kurden für sich beanspruchten Gebiet (Al-Jazeera 27.9.2017). Gleichzeitig findet eine Offensive zur Rückeroberung der Provinz Anbar statt, an der die irakischen Sicherheitskräfte, einschließlich Polizeieinheiten und schiitischer PMF-Milizen (PMF: Popular Mobilization Forces) teilnehmen (Al-Monitor 26.9.2017).

In der Provinz Anbar haben sich irakische Regierungstruppen westlich von Bagdad heftige Gefechte mit dem IS geliefert. Laut Angaben eines irakischen Generals vom 27.9.2017 waren IS-Kämpfer in die Ortschaft al-Tach südlich der Stadt Ramadi sowie in das "Kilometer Sieben" genannte Gebiet westlich davon vorgedrungen (Standard 27.9.2017).

Ab dem 3.11.2017 mit Stand 17.11.2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 Prozent jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welches er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (Telegraph 17.11.2017; IFK 6.11.2017). Das Wüstengebiet nördlich der drei Städte bleibt vorerst weiterhin IS-Terrain. Die Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu jenen Gebieten, bei denen das Halten des Terrains eine große Herausforderung darstellt. (MEE 16.11.2017; Reuters 5.11.2017; BI 13.11.2017). Es stellt sich auch die Frage, wo sich jene IS-Kämpfer aufhalten, die, nicht getötet wurden oder die nicht in Gefängnissen sitzen (Alleine in Mossul gab es vor der Rückeroberung 40.000 IS-Kämpfer). Viele sind in die Wüste geflohen oder in der Zivilbevölkerung untergetaucht. Es gab es auch umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Der IS ist somit nicht verschwunden, nur sein Territorium [mit Einschränkungen s.u.] (Harrer 24.11.2017).

Die folgende Grafik zeigt die massiven Gebietsverluste des IS seit Jänner 2015 (Stand 30.10.2017). Der Wüstenbereich nördlich von Al-Qaim wird je nach Quelle als Wüstengebiet oder als IS-Gebiet eingezeichnet (s. untere Karte) eingezeichnet.

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(BBC 3.11.2017)

Seit der IS Offensive im Jahr 2014 ist die Zahl der Opfer im Irak nach wie vor nicht auf den Wert der Zeit zwischen 2008 - 2014 zurückgegangen, in der im Anschluss an den konfessionellen Bürgerkrieg 2006-2007 eine Phase relativer Stabilität einsetzte (MRG 10.2017; vgl. IBC 23.11.2017). Von dem Höchstwert von 4.000 zivilen Todesopfern im Juni 2014 ist die Zahl 2016 [nach den Zahlen von Iraq Body Count] auf 1.500 Opfer pro Monat gesunken; dieser sinkende Trend setzt sich im Jahr 2017 fort (MRG 10.2017). Nach den von Joel Wing dokumentierten Vorfällen, wurden in den Monaten August, September und Oktober 2017 im Irak 2.988 Zivilisten getötet (MOI 9.-11.2017). Zu diesen Zahlen gelten die im Länderinformationsblatt Irak in Abschnitt 3.1 erwähnten Einschränkungen und Anmerkungen - kriminelle Gewalt wurde in dieser Statistik nur zum Teil berücksichtigt, Stammesgewalt gar nicht .

Beispielhaft wird im Folgenden eine Grafik angeführt, in der die von einer Sicherheitsfirma dokumentierten Vorfälle, die in Kalenderwoche 45 des Jahres 2017 stattgefunden haben, eingezeichnet sind. Die Grafik stellt jedoch nach Angaben der Quelle nicht das gesamte Ausmaß der Gewalt und der Vorfälle dar. Mehrere Vorfälle, bzw. umfangreiche und länger andauernde Gefechte werden jeweils als ein Vorfall zusammengefasst dargestellt. Darüber hinaus bleiben viele Vorfälle auf Grund von Einschränkungen durch die Regierung und Einschränkungen der Kommunikation undokumentiert:

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(CR 14.11.2017)

Im kürzlich veröffentlichten Global Peace Index (GPI)-Bericht wurde der Irak als das "dritt-unfriedlichste" Land der Welt eingestuft. Laut GPI-Bericht bleibt trotz der Zurückdrängung des IS die Stabilität und Sicherheit der Staaten Syrien und Irak weiterhin bedroht (K24 8.8.2017; vgl. Iraqinews 15.11.2017).

Die die folgende Grafik zeigt, wo sich im Irak die wichtigsten gewaltsamen/militärischen Kämpfe oder Zusammenstöße im Zeitraum Jänner 2015 bis Juni 2016 ereigneten:

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(BMI 2016)

Die Sicherheitslage im Irak hat sich nach der dramatischen Verschlechterung (vor allem durch den Vormarsch des IS ab Mitte 2014) in den Jahren 2015 und 2016 (mit Ausnahme von einigen vom IS zurückeroberten Gebieten) nicht verbessert (AA 7.2.2017). Es herrschen weiterhin Langzeit-Instabilität und Gewalt an mehreren Fronten gleichzeitig (OA/EASO 2.2017). Die territoriale Zurückdrängung des IS im Laufe des Jahres 2016 hat die Zahl der terroristischen Anschläge in den genannten Provinzen nicht wesentlich verringert, in manchen Fällen hat sie sogar eine asymmetrische Kriegführung des IS mit verstärkten terroristischen Aktivitäten provoziert (AA 7.2.2017; vgl. ÖB 12.2016). Schwerpunkte terroristischer Aktivitäten bleiben Bagdad sowie die Provinzen Anbar, Ninewah, ?ala? ad-Din und Diyala im Norden und Westen des Landes (AA 7.2.2017). Teile dieser Provinzen sind weiterhin nicht vollständig unter der Kontrolle der Zentralregierung. Systematische, grausamste Verbrechen des IS an tausenden Menschen bis hin zu Versuchen, ganze Bevölkerungsgruppen zu vernichten, prägen hier das Bild. Rund 17 Millionen Menschen (53 Prozent der Bevölkerung Iraks) sind von Gewalt betroffen (AA 7.2.2017). Zuletzt griff der IS am 4. Juli 2017 das Dorf Imam Gharbi, südlich von Qayyarah, an. Dabei gab es 170 Opfer, einige davon Zivilisten (OCHA 13.7.2017). Dem IS wird auch immer wieder vorgeworfen, Chemiewaffen einzusetzen (Zeit 16.4.2017). Laut World Health Organization (WHO) sind mögliche Fälle von Einsätzen von Chemiewaffen im Irak seit 2016 stark angestiegen, insbesondere in Mossul gibt es regelmäßig solche Berichte. Die WHO bezog jedoch nicht Stellung, ob die Chemiewaffeneinsätze auf das Konto des IS oder das von anderen Gruppen, die in die Kämpfe um Mossul verwickelt sind, gehen (New Arab 26.6.2017).

Neben den sicherheitsrelevanten Handlungen des IS wird auch von Gewalttaten gegen Zivilisten von Seiten der irakischen Sicherheitskräfte und Milizen berichtet (AA 7.2.2017). Die Milizen sind ein wichtiger Teil der Offensiven gegen den IS, gleichzeitig sind sie jedoch stark religiös/konfessionell motiviert, und es gibt zahl

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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