TE Bvwg Erkenntnis 2018/7/27 L502 1438285-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.07.2018
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Entscheidungsdatum

27.07.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z2
AsylG 2005 §6 Abs1 Z2
AsylG 2005 §6 Abs2
AsylG 2005 §75 Abs19
AsylG 2005 §75 Abs20
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs3a
AsylG 2005 §9 Abs2 Z1
BFA-VG §9 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.2
EMRK Art.3
EMRK Art.8
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L502 1438285-1/69E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, StA. Türkei, vertreten durch RAe Dellasega & Kapferer, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 20.09.2013, FZ. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.05.2016 und 02.11.2017, zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I abgewiesen mit der Maßgabe, dass dieser zu lauten hat:

"Der Antrag auf internationalen Schutz von XXXX wird bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 3 Z. 2 iVm § 6 Abs. 1 Z. 2 und Abs. 2 AsylG abgewiesen."

II. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II abgewiesen mit der Maßgabe, dass dieser zu lauten hat:

"Der Antrag auf internationalen Schutz von XXXX wird bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 Z. 1 AsylG abgewiesen."

III. In Erledigung der Beschwerde wird Spruchpunkt III behoben und das Verfahren gemäß

§ 75 Abs. 19 und 20 AsylG zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte im Gefolge seiner illegalen Einreise aus Italien in das österr. Bundesgebiet am 25.05.2012 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Er wurde am selben Tag einer Erstbefragung unterzogen, anläßlich der er einen türkischen Personalausweis vorlegte, der auf seine Echtheit überprüft wurde.

3. Ein Rückübernahmeersuchen des Bundesasylamtes (BAA) an Italien gemäß der Verordnung EG Nr. 343/2003 des Rates blieb erfolglos.

4. Mit 25.06.2012 wurde das Verfahren gemäß § 24 Abs. 2 AsylG eingestellt, da der Aufenthaltsort des BF nicht bekannt war. Gleichzeitig wurde gegen ihn ein Festnahmeauftrag gemäß § 26 Abs. 1 AsylG erlassen, da er sich dem Verfahren entzogen hatte.

5. Am 11.02.2013 wurde er aus Schweden gemäß der Verordnung EG Nr. 343/2003 des Rates rückübernommen.

6. Am 12.02.2013 wurde er in der EAST Ost des BAA in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die kurdische Sprache einvernommen.

Er legte dabei als Beweismittel unter anderem eine Ablichtung eines Urteils eines türkischen Strafgerichts vor.

7. Am 25.04.2013 wurde der BF nochmals vor dem BAA niederschriftlich einvernommen.

Er legte dabei als Beweismittel diverse medizinische Unterlagen, eine Ablichtung einer weiteren türkischen Gerichtsentscheidung und eine Anklageschrift der türkischen Staatsanwaltschaft gegen seinen Bruder vor.

8. Am 08.05.2013 langte eine Stellungnahme des BF zu den ihm mit Schreiben der belangten Behörde vom 25.04.2013 zum Parteigehör übermittelten Länderinformationen ein.

Im Hinblick auf die Aufforderung des BAA an ihn, Beweismittel zu den Strafverfahren in der Türkei gegen ihn vorzulegen, legte er einen Auszug aus der Internetseite des türkischen Justizministeriums vor, aus dem hervorging, dass ein (zweites) Urteil gegen ihn erlassen worden sei.

Sowohl dieser Internetausdruck als auch das bereits zuvor vorgelegte Urteil wurden vom BAA einer Übersetzung in die deutsche Sprache zugeführt.

9. Mit Schreiben des BAA vom 17.06.2013 wurde dem BF unter Bezugnahme auf den vorgelegten Internetausdruck des türkischen Justizministeriums und den dort aufscheinenden türkischen Anwalt aufgetragen, die bisher gegen ihn ergangenen Urteile vorzulegen.

10. Mit Schreiben vom 01.07.2013 teilt der BF mit, dass es ihm nicht möglich sei die Urteile vorzulegen, da sowohl sein bisheriger Anwalt als auch ein weiterer von ihm bevollmächtigter Anwalt in der Türkei festgenommen worden seien. Zum Beweis für die Behauptung der Festnahme der Anwälte legte er Internetausdrucke vor.

11. Mit Schreiben des BAA vom 25.07.2013 wurde der BF aufgefordert, der belangten Behörde eine notariell beglaubigte Vollmacht zur Akteneinsicht durch türkische Rechtsanwälte in der Türkei auszustellen, damit das BAA selbst die Gerichtsurteile beischaffen und in die Entscheidungsfindung miteinbeziehen könne.

12. Mit Schreiben vom 09.08.2013 lehnte der BF eine Vollmachtserteilung mit der Begründung ab, dass mit dieser ihm unbekannte Rechtsanwälte in der Türkei bevollmächtigt werden könnten und so die Gefahr eines nicht einschätzbaren Kostenrisikos entstehe. Überdies könnte das betreffende türkische Gericht auf diese Weise von seinem Aufenthaltsort erfahren, er wolle aber jeden Kontakt zu türkischen Behörden oder Gerichten vermeiden.

Unter einem wurde von ihm ein neurologischer Befundbericht vorgelegt.

13. Der Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des BAA vom 20.09.2013 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei gemäß § 8 Abs. 1 AsylG idgF abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 AsylG idgF wurde seine Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgesprochen (Spruchpunkt III.).

14. Mit Verfahrensanordnung des BAA vom 20.09.2013 wurde ihm von Amts wegen ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Asylgerichtshof (AsylGH) zur Seite gestellt.

15. Gegen den ihm durch Hinterlegung mit Wirksamkeit vom 26.09.2013 zugestellten Bescheid wurde mit Schriftsatz vom 08.10.2013 innerhalb offener Frist in vollem Umfang Beschwerde erhoben.

Als weitere Beweismittel vorgelegt wurden eine ärztliche Bestätigung sowie ein weiterer Ausdruck einer Internetseite zu einem der Verfahren gegen ihn in der Türkei.

16. Die Beschwerdevorlage des BAA an den AsylGH erfolgte mit 15.10.2013. Mit Einrichtung des BVwG per 1.1.2014 wurde das Verfahren der Gerichtsabteilung L515 des BVwG zugewiesen.

17. Mit Schreiben einer Beratungsorganisation vom 04.11.2013 wurde eine Bestätigung über eine seit 13.08.2013 erfolgende psychotherapeutische Behandlung des BF vorgelegt.

18. Mit Schreiben des BVwG vom 19.08.2014 wurde dieser aufgefordert alle ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel vorzulegen, die Auskunft über den aktuellen Stand eines Strafverfahrens gegen ihn in der Türkei geben können.

19. Er legte in der Folge eine Entscheidung des türkischen Kassationsgerichtshofs vom 15.01.2014, ein Gerichtsurteil vom 30.04.2014, ein Protokoll über die Anberaumung einer Verhandlung und ein solches über die Vertagung derselben und mehrere Rechtskraftbestätigungen vor. Zugleich wurden von ihm die Kontaktdaten des zuletzt bevollmächtigten türkischen Anwaltes bekannt gegeben und ersucht nötigenfalls Informationen über diesen einzuholen.

20. In weiterer Folge übermittelte das BVwG die vorliegenden Gerichtsunterlagen des BF einer länderkundlichen Sachverständigen mit dem Ersuchen zu klären, hinsichtlich welcher Delikte der BF tatsächlich verurteilt wurde, welche Rechtsfolgen ihn erwarten, ob die Untersuchungshaft auf die Haftstrafe angerechnet worden und welche medizinische Behandlung in türkischen Gefängnissen zu erwarten wären.

Im Gefolge einer Urgenz im Mai 2015 kam hervor, dass diese Sachverständige den angenommenen Auftrag zurückgelegt hatte und mit einer Erledigung nicht mehr gerechnet werden konnte.

21. Das BVwG stellte am 27.05.2015 die gleiche Anfrage an die Österreichische Botschaft (ÖB) in Ankara.

22. Mit Eingabe vom 21.11.2015 legte der BF eine Deutschkursteilnahmebestätigung, einen neurologischen Befundbericht sowie die Ablichtung einer türkischen Urkunde vor, die einer nachfolgend von Amts wegen veranlassten Übersetzung zufolge eine Anklageschrift betreffend seinen Sohn wegen des Vorwurfs des Hausfriedensbruchs, der Sachbeschädigung und des Einbruchsdiebstahls darstellte.

23. Am 22.03.2016 langte beim BVwG eine am 25.02.2016 bei der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) veranlasste Anfragebeantwortung zur Möglichkeit von Strafnachlässen in der Türkei ein.

24. Nach wiederholten Urgenzen langte am 25.04.2016 beim BVwG die Anfragebeantwortung der ÖB in Ankara ein, der zufolge der BF wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft bei einer terroristischen Organisation zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten verurteilt wurde, er wegen des Vorwurfs der Propaganda für eine Terrororganisation weder freigesprochen noch verurteilt worden sei bzw. es hierzu keinen Urteilsspruch gäbe, eine vorherige Untersuchungshaft dem BF auf die Haftdauer angerechnet werden würde und er in der Haft Zugang zu medizinischer Versorgung, auch zur Behandlung einer psychischen Erkrankung, hätte.

25. Am 02.05.2016 führte das BVwG eine mündliche Verhandlung durch, in der mit dem BF auch die Ergebnisse der zuletzt erfolgten Beweisaufnahmen erörtert wurden.

26. Mit Erkenntnis des BVwG vom 12.05.2016, GZ. XXXX, wurde die Beschwerde des BF gegen den Bescheid des BAA vom 20.09.2013 hinsichtlich der Spruchpunkte I und II gemäß §§ 3 und 8 AsylG als unbegründet abgewiesen, unter einem wurde der Spruchpunkt III behoben und das Verfahren gemäß § 75 Abs. 19 und 20 AsylG zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurückverwiesen.

27. In Stattgebung einer vom BF dagegen eingebrachten a.o. Revision wurde diese Entscheidung mit Erkenntnis des VwGH vom 20.12.2016, Zl. XXXX, aufgehoben.

Begründend wurde dargelegt, es seien insbesondere für die Beurteilung der Asylrelevanz einer staatlichen Strafverfolgung die Feststellungen erforderlich, aufgrund welchen von den türkischen Gerichten als erwiesen angenommenen tatsächlichen Verhaltens das türkische Strafgericht von der Erfüllung welcher Straftatbestände (einschließlich ihrer Strafdrohung) ausging und welche Sanktion dafür jeweils verhängt wurde. Erst diese Feststellungen können eine Grundlage für die Beurteilung, ob den verhängten Sanktionen für die verwirklichten Straftatbestände jede Verhältnismäßigkeit fehlte, darstellen. Entsprechende Feststellungen habe das BVwG nicht getroffen.

28. Aufgrund einer Unzuständigkeitseinrede wurde das gegenständliche Verfahren der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung L 502 zugewiesen.

29. Mit Schreiben des BVwG vom 06.02.2017 wurde der BF aufgefordert einen aktuellen türkischen Strafregisterauszug seine Person betreffend vorzulegen.

30. Die nunmehrige rechtsfreundliche Vertretung des BF legte am 22.02.2017 eine Verfahrensvollmacht vor und erstattete eine Stellungnahme zur Aufforderung vom 06.02.2017, der zufolge dieser versuche über Familie und Bekannte einen Strafregisterauszug beizuschaffen, wofür um eine unbefristete Erstreckung der Frist zur Vorlage gebeten wurde. Überdies wurde angeregt einen Strafregisterauszug im Wege einer österr. Vertretungsbehörde einzuholen bzw. ohne diesen eine Entscheidung zu treffen.

31. Mit Urkundenvorlage vom 21.03.2017 teilte der Rechtsbeistand des BF in der Türkei mit Schreiben vom 03.03.2017 mit, dass dieser angesichts eines in Rechtskraft erwachsenen Urteils aus dem Jahr 2011 eine Haftstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten zu verbüßen habe, für deren Vollstreckung auch ein Haftbefehl gegen ihn bestehe, andere geringfügigere Verurteilungen seien behoben und zurückverwiesen worden bzw. die diesbezügliche Strafverfolgung verjährt.

32. Mit Schreiben des BVwG vom 03.04.2017 wurde der BF aufgefordert, das Schreiben seines Anwalts im Original vorzulegen, über diesen Anwalt den behaupteter Weise gegen ihn bestehenden Haftbefehl vorzulegen, Nachweise für die Behauptung beizubringen, dass die beiden den BF vertretenden Anwälte in der Türkei selbst inhaftiert wurden, Quellen für die Behauptung offen zulegen, dass Richter und Staatsanwälte des Sondergerichts, welches mehrere Strafen gegen den BF aufgehoben habe, nach dem Putsch entlassen und inhaftiert wurden, und einen Strafregisterauszug beizuschaffen.

33. Am 24.04.2017 langte eine Befangenheitsanzeige gegen den Leiter der Gerichtsabteilung L 502 samt Stellungnahme der rechtsfreundlichen Vertretung des BF ein.

34. Mit Schreiben vom 27.04.2017 wurde den Vertretern des BF dargelegt, aus welchen Gründen das BVwG die Besorgung eines Strafregisterauszuges als zulässig erachtet.

35. Das BVwG richtete mit 27.04.2017 ein Erhebungsersuchen an den Verbindungsbeamten der ÖB in Ankara zur Feststellung der Erreichbarkeit des türkischen Rechtsanwalts des BF, dessen Vertretungsbefugnis sowie zu einem etwaig gegen den BF bestehenden Haftbefehl.

Eine Anfragebeantwortung, der zufolge der Anwalt des BF nach wie vor als solcher praktiziere, die Vertretung für den BF in der Türkei innehabe und einen gegen den BF bestehenden Haftbefehl bestätigt habe, langte am 05.05.2017 beim BVwG ein.

36. Mit Schreiben vom 31.05.2017 teilte die Vertretung des BF im gg. Verfahren dem BVwG mit, dass dessen türkischer Anwalt nunmehr erreicht werden konnte und dieser mitgeteilt habe, dass bereits von einem Mitarbeiter der österr. Botschaft in der Sache des BF mit ihm Kontakt aufgenommen worden sei.

37. Das BVwG teilte dem BF mit Schreiben vom 07.06.2017 mit, dass Erhebungen über die ÖB ergeben hätten, dass gegen ihn ein Haftbefehl bestehe, und wurde er erneut aufgefordert, im Wege seines türkischen Anwaltes einen aktuellen Strafregisterauszug vorzulegen, dem alle abgeschlossenen sowie allenfalls beim Kassationsgerichtshof noch anhängigen Verfahren zu entnehmen sind.

38. Mit Schreiben vom 10.07.2017 teilte der BF über seine Vertretung dem BVwG mit, dass dem Auftrag nicht nachgekommen werden könne, da der türkische Anwalt nicht zu erreichen sei. Einer Information seiner Verwandten zufolge, die sich vergeblich mit dem Anwalt in Kontakt zu setzen versucht hätten, sei der türkische Anwalt vermutlich der letzten Verhaftungswelle in der Türkei zum Opfer gefallen. Andere Anwälte fürchteten um ihr Leben und hätten den Verwandten verboten ihre Namen weiterzugeben.

39. Ein neuerliches, inhaltlich wie die Anfrage vom 27.04.2017 gestaltetes Rechtshilfeersuchen des BVwG vom 13.07.2017 an die ÖB in Ankara ergab, dass der türkische Anwalt zwar mehrmals kurzfristig inhaftiert war, jedoch nach wie vor den BF anwaltlich vertrete. Bekräftigt wurde, dass der BF zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden sei und daher ein aufrechter Haftbefehl gegen ihn bestehe.

40. Dem BF wurde mit Schreiben vom 24.08.2017 der Inhalt der letzten Anfragebeantwortung zur Kenntnis gebracht, verbunden mit dem Hinweis, dass dieser Sachverhalt sowie der Umstand, dass gegen ihn in der Türkei ein augenscheinlich rechtsstaatlichen Grundsätzen gehorchendes Strafverfahren durchgeführt wurde, dem Verfahren zugrunde zu legen seien, sofern der BF im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nicht Gegenteiliges durch Vorlage entsprechender Beweismittel glaubhaft darlege.

41. Am 13.09.2017 langte eine weitere Stellungnahme des Vertreters des BF beim BVwG ein, der zufolge der türkische Anwalt des BF wegen des Kontakts mit der ÖB verhaftet worden sei. Der BF selbst sei inzwischen in Österreich wegen seiner politischen Aktivitäten als Kurde von Dritten auf der Internet-Plattform Facebook bedroht worden, wofür als Beweis die Niederschrift einer Zeugeneinvernahme des BF im Zusammenhang mit diesen Drohungen vorgelegt wurde.

42. Mit Schreiben an das BVwG vom 30.10.2017 wurde mitgeteilt, dass der BF ohne seinen Vertreter an einer anberaumten Verhandlung teilnehmen werde.

43. Am 02.11.2017 führte das BVwG eine mündliche Verhandlung im Beisein des BF in türkischer Sprache durch, in der er zu seinem bisherigen Vorbringen gehört und ihm die Möglichkeit der Vorlage von Beweismitteln geboten wurde sowie vom Gericht ergänzende länderkundliche Informationen als Beweismittel herangezogen wurden. Der BF legte wiederum ein handschriftliches Schreiben eines Freundes vor, das die Drohungen gegen ihn über Facebook wiedergeben würde.

44. Am 17.11.2017 langte beim BVwG eine Stellungnahme der Vertretung des BF zu den ihm in der Verhandlung ausgehändigten Länderinformationen ein.

45. Mit Verständigung vom Ergebnis einer weiteren Beweisaufnahme vom 25.04.2018 wurde dem BF das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Stellungnahme übermittelt.

46. Am 11.05.2018 langte eine Stellungnahme des BF dazu ein.

47. Mit Urkundenvorlage vom 25.06.2018 wurde ein der Ehegattin des BF zugestelltes behördliches Schreiben samt einer Übersetzung in die deutsche Sprache vorgelegt.

48. Das BVwG erstellte abschließend aktuelle Auszüge aus dem Zentralen Melderegister, dem Strafregister und dem Grundversorgungsbetreuungsinformationssystem.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Identität des BF steht fest. Er ist türkischer Staatsangehöriger, Moslem und gehört der Volksgruppe der Kurden an. Er stammt aus XXXX, Provinz XXXX, wo er bei seinen Eltern und Geschwistern aufwuchs. Er arbeitete in der Landwirtschaft, vorwiegend in der seiner Eltern. Im Jahr 1996 zog er nach XXXX, wo er als Näher und Hilfsarbeiter für seinen Lebensunterhalt sorgte. Er reiste im Mai 2012 auf illegale Weise aus Italienkommend nach Österreich ein, wo er sich seither - mit einer kurzen Unterbrechung im Gefolge der Einreise, als er sich nach Schweden begeben hatte - bis dato aufhält.

Die Ehegattin, zwei Söhne und drei Töchter des BF leben in XXXX. Darüber hinaus leben in der Türkei die Eltern, 9 Schwestern, 4 Brüder, die Schwiegereltern und weitere Verwandte des BF. Eine Schwester des BF sowie vier Onkel und ein Cousin leben in Schweden. Er steht in regelmäßigem Kontakt mit seinen Angehörigen in der Türkei. Er spricht Türkisch sowie Kurdisch.

In Österreich leben keine Verwandten des BF. Er bezieht Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und war - abgesehen von einem Tag gemeinnütziger Arbeit in einem Park - bisher nicht legal erwerbstätig. Er besucht regelmäßig einen alevitisch-kurdischen Verein sowie zeitweise eine Einrichtung der Grünen Partei. Er besuchte einen Sprachkurs und verfügt nur über rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache und über keine nennenswerten sozialen Kontakte.

Der BF leidet an Schwerhörigkeit, HNO-Problemen, Gastritis und Schlafstörungen. Wegen seiner Gastritis nimmt er aktuell Tabletten zur Reduzierung der Magensäure ein. Bereits in der Türkei wurde ihm eine Niere entfernt und wurde er im Zusammenhang damit medizinisch betreut, in Österreich werden diesbezüglich Kontrolluntersuchungen durchgeführt, er leidet aber aktuell weder an Beschwerden noch erfährt er eine regelmäßige Behandlung. Er besuchte - wegen der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung - im Jahr 2013 sowie zwischen September 2015 und November 2017 eine Psychotherapie und nimmt Beruhigungsmittel ein.

1.2. Zu den Ausreisegründen des BF:

1.2.1. Mit Urteil des 14. XXXX vom 30.12.2011 wurde er

a) wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation gemäß §§ 220/6, 314/3, 314/2, 61, 53/1-3, 58/9, tStGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten

b) wegen Propaganda für eine Terrororganisation (in 4 Tathandlungen) gemäß § 61 tStGB iVm § 7/2 Gesetz Nr. 3713, §§ 62/1, 53/1-3 und 63 tStGB zu jeweils 10 Monaten Freiheitsstrafe

verurteilt.

Für vier weitere strafbare Handlungen erklärte sich das Gericht als unzuständig, von weiteren Anklagepunkten wurde er freigesprochen. Festgehalten wurde auch, dass die Untersuchungshaft von 12.08.2008 bis 20.05.2011 gemäß § 53 tStGB der Haftzeit angerechnet wird.

Laut Urteilsbegründung hat der BF am 04.02.2007 an einer Veranstaltung der (Anm.: pro-kurdischen Partei) DTP teilgenommen und dabei Parolen zu Gunsten der Terrororganisation (PKK) gerufen, bei einer von der Organisation DEM-DER organisierten illegalen Versammlung teilgenommen und die Gruppe angeleitet sowie Parolen zu Gunsten der PKK gerufen, an gewalttätigen Aktionen der Gruppe gegen die Polizei unter Verwendung von Molotowcocktails und Steinen teilgenommen und bei einer 1. Mai - Versammlung Symbole der PKK getragen und mit vermummten Gesicht Propaganda für die PKK gemacht. Am 11.11.2005 und am 20.11.2005 hat er eine Gruppe angeleitet, die im Auftrag der PKK eine Demonstration organisierte, bei der Flaggen der PKK und Bilder des PKK-Führers Öcalan getragen wurden, und gegen die Polizei Molotowcocktails, Schlagstöcke und Steine eingesetzt und eine Straßensperre errichtet hat.

Die Feststellungen stützten sich auf das Ergebnis umfangreicher Telefonabhörmaßnahmen, aus denen sich auch ergab, dass der BF aktiv und in führender Position an der Mitgliederanwerbung der PKK beteiligt war und "für die Umsetzung der bewaffneten Kämpfe der Partei zuständig" war. Er selbst bestritt im Rahmen des Beweisverfahrens sowohl die abgehörten Telefonate als auch den Umstand, dass er die auf den ihm vorgelegten Fotos von Versammlungen aufscheinende Person sei.

In einer Entscheidung des Kassationsgerichtshofs vom 15.01.2014 wurde das Urteil vom 30.12.2011 im Rechtsmittelweg überprüft. Dabei wurde festgestellt, dass die Tathandlungen der Propaganda für eine Terrororganisation teilweise bereits verjährt waren und wurde die erstinstanzliche Entscheidung in diesem Umfang aufgehoben, hinsichtlich dreier weiterer Tathandlungen in diesem Sinne wurde "für die Aufschiebung der Strafverfolgung" entschieden.

Mit Urteil des 16. Schwurgerichts Istanbul vom 30.04.2014 wurde hinsichtlich dieser drei Sachverhalte entschieden, dass der Strafaufschub unter Auflage einer Probezeit von drei Jahren gewährt wird.

Vor der 6. Kammer des Strafgerichts XXXX wurden am 27.06.2012 und am 08.02.2013 zwei Verhandlungen gegen den BF als Beschuldigten in Abwesenheit wegen der Vorwürfe der nicht bewaffneten Teilnahme an unerlaubten Versammlungen und Protestmärschen, des Nichtentfernens vom Ort trotz Verwarnung und der Teilnahme an Versammlungen und Protestmärschen mit einer Waffe oder anderen Mitteln durchgeführt. In einem hierzu vorgelegten Strafregisterauszug vom 08.05.2013 wurde zwar angeführt, dass ein "begründetes Urteil ergangen" sei, da der BF aber weder einen aktuellen Strafregisterauszug noch eine Urteilsabschrift vorlegte, konnten dazu keine weiteren Feststellungen getroffen werden.

1.2.2. Der BF verließ die Türkei im Jahre 2012 um einem möglichen zukünftigen Strafantritt im Hinblick auf seine zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftige, weil einem Rechtsmittelverfahren unterliegende Verurteilung zu 6 Jahren und 3 Monaten unbedingter Haft wegen Mitgliedschaft in der terroristischen Organisation PKK zu entgehen.

1.2.3. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF im Zusammenhang mit den oben genannten strafgerichtlichen Verurteilungen einer nicht den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens genügenden Verfahrensführung durch die türkischen Gerichte unterworfen war.

Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der BF von den zuständigen türkischen Gerichten einer unverhältnismäßigen Bestrafung wegen der ihm zur Last gelegten Straftaten unterworfen wurde.

Während seiner früheren Anhaltung in der Untersuchungshaft wurde der BF medizinisch versorgt und ist im Fall der Verbüßung seiner Haftstrafe davon auszugehen, dass er eine allenfalls notwendige medizinische Versorgung erhält.

1.3. Der gg. Entscheidung werden folgende länderkundliche Informationen zur allgemeinen Lage in der Türkei zugrunde gelegt:

1.3.1. Die Türkei ist eine parlamentarische Republik, deren rechtliche Grundlage auf der Verfassung von 1982 basiert. In dieser durch das Militär initiierten und vom Volk angenommenen Verfassung wird das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung verankert. Die Türkei ist laut Verfassung eine demokratische, laizistische, soziale und rechtsstaatliche Republik, welche die Menschenrechte achtet und sich dem Nationalismus Atatürks verbunden fühlt. Oberhaupt des Staates ist der Staatspräsident. Recep Tayyip Erdogan, der zuvor zwölf Jahre lang Premierminister war, gewann am 10.8.2014 die erstmalige direkte Präsidentschaftswahl, bei der auch zum ersten Mal im Ausland lebende türkische Staatsbürger an nationalen Wahlen teilnahmen. Neuer Ministerpräsident wurde Ende Mai Binali Yildirim, der sich durch eine besondere, selbstbekundete Loyalität zu Staatspräsident Erdogan auszeichnet.

Der Ministerpräsident und die auf seinen Vorschlag hin vom Staatspräsidenten ernannten Minister bzw. Staatsminister bilden den Ministerrat, der die Regierungsgeschäfte führt. Überdies ernennt der Staatspräsident 14 von 17 Mitgliedern des Verfassungsgerichtes für zwölf Jahre. In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt.

Das türkische Parlament, die Große Türkische Nationalversammlung, wird für vier Jahre gewählt. Gewählt wird nach dem Verhältniswahlrecht in 85 Wahlkreisen. Im Unterschied zu unabhängigen KandidatInnen gilt für politische Parteien landesweit eine Zehn-Prozent-Hürde.

2015 fanden zweimal Parlamentswahlen statt. Die Wahlen vom 7.6.2015 veränderten die bisherigen Machtverhältnisse in der Legislative. Die seit 2002 alleinregierende AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) verlor zehn Prozent der Wählerstimmen und ihre bisherige absolute Mehrheit. Dies war auch auf den Einzug der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) zurückzuführen, die deutlich die nötige Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament schaffte. Der Wahlkampf war überschattet von zahlreichen Attacken auf Parteilokale und physischen Übergriffen auch mit Todesopfern. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) kritisierte überdies den Druck auf regierungskritische Medien sowie die unausgewogene Berichterstattung, insbesondere des staatlichen Fernsehens zugunsten der regierenden AKP. Überdies hat Staatspräsident Erdogan im Wahlkampf eine aktive Rolle zugunsten seiner eigenen Partei eingenommen, obwohl die Verfassung den Staatspräsidenten zur Neutralität verpflichtet.

Die Parlamentswahlen vom 1.11.2015, die als Folge der gescheiterten Regierungsbildung abgehalten wurden, endeten mit einem unerwartet deutlichen Wahlsieg der seit 2002 alleinregierenden AKP. Die AKP gewann fast die Hälfte der abgegebenen Stimmen, was einen Zuwachs von rund neun Prozent im Vergleich zu den Juni-Wahlen bedeutete. Da die pro-kurdische HDP, zwar unter Verlusten, die nötige Zehn-Prozenthürde für den Einzug ins Parlament schaffte, verfehlte die AKP die Verfassungsmehrheit, um das von ihrem Vorsitzenden und gegenwärtigen Staatspräsident, Recep Tayyip Erdogan, angestrebte Präsidialsystem zu errichten.

Im 550-köpfigen Parlament sind vier Parteien vertreten: die islamisch-konservative AKP mit 49,5 Prozent der Wählerstimmen und 317 Mandaten (Juni 2015: 258), die sozialdemokratische CHP (Republikanische Volkspartei) mit 25,3 Prozent und 134 Sitzen (bislang 132), die rechts-nationalistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) mit 11,9 Prozent und 40 Sitzen (bislang 80) sowie die pro-kurdische HDP mit 10,8 Prozent und 59 (bislang 80) Mandaten.

Der polarisierte Wahlkampf war überschattet von einer Gewalteskalation, insbesondere durch das Attentat vom 10.10.2015 in Ankara, bei welchem über 100 Menschen starben. Nebst Attacken vor allem auf Mitglieder und Parteilokale der pro-kurdischen HDP wurden mehrere HDP-Mitglieder festgenommen. Überdies wurden Mitglieder aller drei parlamentarischen Oppositionsparteien wegen Verunglimpfung von Amtsvertretern und Beleidigung des Staatspräsidenten angezeigt. Insbesondere im Südosten des Landes war infolge der verschlechterten Sicherheitslage und der darauf folgenden Errichtung von speziellen Sicherheitszonen und der Verhängung von Ausgangssperren ein freier Wahlkampf nicht möglich. Die zunehmende Anwendung von Bestimmungen des Anti-Terrorismus- und des Strafgesetzbuches während des Wahlkampfes führte dazu, dass gegen eine große Anzahl von Journalisten, Benutzern Sozialer- und Informationsmedien Untersuchungen wegen Verleumdung oder Terrorismusverdacht eingeleitet wurden. Zudem gab es Fälle von Gewalt gegen Medienhäuser und Journalisten.

Laut dem Bericht der Europäischen Kommission vom November 2016 sind Fortschritte in der Anpassung des Gesetzesrahmens an die Europäischen Standards ausgeblieben. Weiterhin bedarf es einer umfassenden Reform des parlamentarischen Regelwerkes, um die Inklusion die Transparenz und die Qualität der Gesetzgebung sowie eine effektive Aufsicht der Exekutive zu verbessern. Die parlamentarische Aufsicht über die Exekutive blieb schwach. Wann immer das Parlament seine Instrumente der Befragung oder der Untersuchungsausschüsse anwandte, blieben weiterführende Maßnahmen der Regierung unzureichend. Die Fähigkeit des Parlaments seine Schlüsselfunktionen, nämlich die Gesetzgebung und Aufsicht der Exekutive, auszuüben, blieb bis zum 15.7.2016 von politischer Konfrontation überschattet. Die Gesetzgebung wurde oft ohne ausreichende Debatte im Parlament und ohne Konsultation der Beteiligten vorbereitet und verabschiedet. Nach der Erklärung des Ausnahmezustandes und seiner Ausweitung war die Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren beschränkt. Es gab weder Fortschritte bei der Reform der parlamentarischen Regeln und Verfahren noch hinsichtlich der Wahl- und Parteiengesetzgebung nach Europäischen Standards. Der im Dezember 2013 zum Stillstand gekommene Verfassungsreformprozess wurde im Februar 2016 wiederbelebt. Allerdings brachen die Diskussionen im Vermittlungsausschuss des Parlaments bald zusammen, da es zur Blockade wegen des von der regierenden AKP vorgeschlagenen Präsidialsystems kam.

In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle. Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben. Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt. Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt. Das Innenministerium suspendierte rund

8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure. Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen.

Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung. Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt. Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden.

Die Erklärung des Ausnahmezustandes vom 20. Juli führte zu erheblichen Gesetzesänderungen, die durch Dekrete ohne vorherige Konsultation des Parlaments angenommen wurden, obwohl eine begrenzte Konsultation der Oppositionsparteien vorgenommen wurde. Im Einklang mit Artikel 120 der Verfassung werden die Erlasse im Rahmen des Ausnahmezustands innerhalb von 30 Tagen dem Parlament zur Genehmigung unterbreitet. Die Einrichtung einer parlamentarischen Kommission, die Vertreter aller vier Parteien einschließt und Stellungnahmen zu den Dekreten erhält, die während des Ausnahmezustands erlassen werden sollen, wird geprüft.

Gegen die Dekrete kann nicht vor dem Verfassungsgericht vorgegangen werden. Während des Ausnahmezustands können nach Artikel 15 Grundrechte eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Auch dürfen Maßnahmen ergriffen werden, die von den Garantien in der Verfassung abweichen. Voraussetzung ist allerdings, dass Verpflichtungen nach internationalem Recht nicht verletzt werden. Unverletzlich bleibt das Recht auf Leben. Niemand darf zudem gezwungen werden, seine Religionszugehörigkeit, sein Gewissen, seine Gedanken oder seine Meinung zu offenbaren, oder deswegen bestraft werden. Strafen dürfen nicht rückwirkend verhängt werden. Auch im Ausnahmezustand gilt die Unschuldsvermutung.

Der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand ist Anfang Jänner 2017 bis zum 19. April 2017 verlängert worden. Das Parlament in Ankara stimmte dem Antrag der Regierung auf Verlängerung um weitere drei Monate zu. Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus begründete dies unter anderem mit anhaltenden terroristischen Angriffen auf die Türkei.

Seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli wurden in der Türkei bereits mehr als 42.000 Menschen festgenommen und etwa 120.000 weitere entlassen oder vom Dienst suspendiert. Rund 600 Unternehmen von angeblich Gülen-nahen Geschäftsleuten wurden unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Das enteignete Firmenvermögen beläuft sich auf geschätzte zehn Mrd. US-Dollar. Laut "TurkeyPurge.com", einer Internetplattform, die aktuelle Informationen zur staatlichen Verfolgung von vermeintlichen Unterstützern des gescheiterten Putschen oder militanter Organisationen sammelt, waren mit Stand 5.2.2017 rund 124.000 Personen entlassen worden, davon fast 7.000 Akademiker sowie über

3.800 Richter und Staatsanwälte. Fast 91.000 Personen waren festgenommen worden, wovon über 44.500 inhaftiert wurden.

Am Vorabend des Jahrestages des gescheiterten Putschversuches vom 15.7.2016 verlautete das türkische Justizministerium, dass bis dato

50.510 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert wurden, darunter 7.267 Militärangehörige, 8.815 Angestellte der Polizei, rund 100 Gouverneure und deren Stellvertreter und über 2.000 MitarbeiterInnen der Justiz. 169.013 Personen hätten laut Ministerium noch rechtliche Verfahren zu erwarten und nach rund

8.100 wird wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung noch gefahndet. Über 43.000 Personen wurden nach vorläufiger Festnahme wieder entlassen. Mit der Notstandsverordnung vom 14.7.2017 wurden zusätzlich 7.395 öffentlich Bedienstete entlassen. Die regierungskritische Internetplattform "Turkey Purge" zählte mit Stand 19.7.2017 rund 145.700 Entlassungen, darunter über 4.400 Richter und Staatsanwälte, sowie 56.100 Inhaftierungen.

In der Türkei nahm am 17.7.2017 eine von der Regierung eingerichtete Kommission ihre Arbeit auf, die Beschwerden gegen Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst im Zusammenhang mit dem Putschversuch prüfen soll. Betroffene hätten nun zwei Monate Zeit, ihre Beschwerden einzureichen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat sich bislang nicht mit den Entlassungen beschäftigt, sondern Kläger aus der Türkei aufgefordert, sich zunächst an die neue Kommission zu wenden.

Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen (the Commission on Examination of the State of Emergency Procedures), die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereine und Firmen entgegenzunehmen. Innerhalb von drei Wochen [Stand 7.8.2017] wurden bislang rund 38.500 Beschwerden bei der Kommission eingereicht. Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund 70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden. Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden.

Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet.

Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden. Die Gesetzesänderung, welche die Aufhebung der Immunität einer großen Zahl von Parlamentariern bewirkte sowie die darauf folgende Festnahme und Inhaftierung mehrerer Abgeordneter der [pro-kurdischen] HDP Anfang November 2016, die beiden Ko-Vorsitzenden eingeschlossen, werden mit großer Sorge gesehen.

Die von Staatschef Erdogan angestrebte Verfassungsreform für ein Präsidialsystem in der Türkei ist vom Parlament am 21.1.2017 verabschiedet worden. Für das von der regierenden AKP vorgelegte Reformpaket aus 18 Artikeln stimmten 339 Abgeordneten, 142 waren dagegen. Die notwendige Drei-Fünftel-Mehrheit von mindestens 330 Stimmen wurde auch mit Hilfe von Abgeordneten aus der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP erzielt. Die Umsetzung der Verfassungsreform soll schrittweise erfolgen und bis Ende 2019 vollständig abgeschlossen sein. Das Präsidialsystem würde Staatspräsident Erdogan deutlich mehr Macht verleihen und das Parlament schwächen. Der Präsident würde zugleich als Staats- und Regierungschef amtieren und könnte weitgehend per Dekret regieren. Sein Einfluss auf die Justiz würde weiter zunehmen. Die besagten Dekrete treten mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament (wie im derzeit geltenden Ausnahmezustand) ist nicht vorgesehen. Die Dekrete werden nur dann unwirksam, falls das Parlament zum Thema des jeweiligen Erlasses ein Gesetz verabschiedet. Per Dekret kann der Präsident auch Ministerien errichten, abschaffen oder umorganisieren. Obwohl Präsidentschaftsdekrete einer Überprüfung durch das Verfassungsgericht unterliegen, dürfte das Gericht nicht mehr unabhängig und unparteiisch genug sein. Nach der Verfassungsänderung hätte das Verfassungsgericht 15 Mitglieder, die meisten direkt oder indirekt vom Präsidenten ernannt. Darüber hinaus wird der Präsident auch eine wichtige Rolle bei der Formierung des Obersten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) spielen.

Am 16.4.2017 stimmten nach vorläufigen Ergebnissen bei einer Wahlbeteiligung von 84% 51,3% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechtsnationalistischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsieht.

Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte in einer Stellungnahme am 17.4.2017 sowohl die Kampagne als auch die Mängel des Referendums. Das Referendum sei unter ungleichen Wettbewerbsbedingungen von statten gegangen. Der Staat habe nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hätten negative Auswirkungen gehabt. Cezar Florin Preda, der Leiter der PACE-Delegation sagte, dass das Referendum nicht die Standards des Europarates erfüllte und die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht adäquat für die Durchführung eines genuinen demokratischen Prozesses waren. Laut OSZE wurden im Vorfeld des Referendums Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützer des Putschversuchens vom Juli 2016 gleich. Noch während des Referendums entschied die Oberste Wahlbehörde überraschend, auch von ihr nicht gekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge gelten zu lassen. Die Beobachtungsmission der OSZE und des Europarates bezeichneten dies als Verstoß gegen das Wahlgesetz, wodurch Schutzvorkehrungen gegen Wahlbetrug beseitigt wurden.

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, wonach 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet wurden. Die Kommission wies die Beschwerde zurück. Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen. Der Vize-Vorsitzende der CHP, Bülent Tezcan bezeichnete das Referendum als "organisierten Diebstahl" und kündigte an, den Fall vor das türkische Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen, so nötig. Die EU-Kommission hat die türkische Regierung aufgefordert, die mutmaßlichen Unregelmäßigkeiten zu untersuchen. Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen, denn laut Michael Georg Link, Direktor des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte stand fest, dass die Entscheidung der Wahlkommission, falsch oder gar nicht gestempelte Wahlzettel als gültig zu werten, ein Verstoß gegen türkisches Recht darstellte. Daraufhin kündigte die Oberste Wahlkommission eine Prüfung der Vorwürfe an.

1.3.2. Als Reaktion auf den gescheiterten Putsch vom 15.7.2016 hat der türkische Präsident am 20.7.2016 den Notstand ausgerufen. Dieser berechtigt die Regierung, verschiedene Einschränkungen der Grundrechte wie der Versammlungs- oder der Pressefreiheit zu verfügen. Auf der Basis des Ausnahmezustandes können u. a. Ausgangssperren kurzfristig verhängt, Durchsuchungen vorgenommen und allgemeine Personenkontrollen jederzeit durchgeführt werden. Personen, gegen die türkische Behörden strafrechtlich vorgehen (etwa im Nachgang des Putschversuchs oder bei Verdacht auf Verbindungen zur sogenannten Gülen-Bewegung), kann die Ausreise untersagt werden.

Am 17.7.2017 wurde der Ausnahmezustand ein viertes Mal verlängert. Eine Mehrheit im Parlament in Ankara stimmte dem Beschluss der Regierung über eine Verlängerung um weitere drei Monate zu. Damit gilt der nach dem Putschversuch im Juli vergangenen Jahres verhängte Ausnahmezustand mindestens bis zum 19.10.2017. Dies ermöglicht Staatspräsident Erdogan weiterhin per Dekret zu regieren. Die beiden größten Oppositionsparteien - die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP - forderten sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes, da dieser ansonsten drohe zum Dauerzustand zu werden.

Der stellvertretende Premierminister und Regierungssprecher Bekir Bozdag verkündete am 8.1.2018, dass der Ausnahmezustand verlängert werde. Die formale Zustimmung des Parlaments, in welchem die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit innehält, vorausgesetzt, wäre dies die sechste Verlängerung seit dem 21.7.2016.

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage.

Mehr als 80 Prozent der Provinzen im Südosten des Landes waren von Gewalt betroffen. Sieben von neun Provinzen Südostanatoliens sowie zwölf von 14 Provinzen Ostanatoliens waren von Attentaten der PKK, der TAK und des sog. IS, Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen.

Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates waren 1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren von Sperrstunden betroffen und mindestens 355.000 Personen wurden vertrieben. Zahlreichen glaubwürdigen Berichten zufolge, die durch dokumentarische Beweise und Videoaufnahmen gesichert wurden, haben die türkischen Sicherheitskräfte in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt, darunter auch Artillerie und Mörser sowie Panzer und schwere Maschinengewehre. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört. Der Gouverneur von Diyarbakir schätzte, dass 50% der Häuser von sechs Stadtvierteln in der Altstadt von Sur nun völlig unbewohnbar wurden, und dass weitere 25% beschädigt wurden.

Bereits im März 2016 wurde von schweren Verwüstungen der Stadt Cizre berichtet. Vom Cudi-Viertel auf der linken Seite des Tigris waren nur noch die Ruinen eingestürzter Häuser übrig; ein Hinweis darauf, dass die Panzer mit ihren Granaten systematisch auf die Stützpfeiler der Wohnhäuser zielten. 80 Prozent der Wohngebiete in Cizre sollen zerstört worden sein. In Silopi wurden gemäß Regierungsberichten vom März 2016 6.694 Häuser und Wohnungen im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und PKK-nahen Guerillakämpfern beschädigt, wobei 27 komplett zerstört wurden. Lokale Quellen setzten die Zahl der betroffenen Wohnstätten wesentlich höher an. 241 Wohnobjekte, die im Regierungsbericht nicht aufscheinen, seien völlig zerstört worden.

Laut der Sicherheitsagentur "Verisk Maplecroft" wurden 2016 bei 269 Terroranschlägen 685 Menschen getötet und mehr als 2.000 verwundet. Das "Bipartisan Policy Center" zählte bis Dezember 2016 eine Verdoppelung der Opferzahlen im Vergleich zu 2015. Beinahe 300 Personen wurden 2016 bei den größeren Terroranschlägen der Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) und des sog. Islamischen Staates getötet. 2015 waren es weniger als 150. Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im Zentrum Istanbuls wurden im Jänner 2016 zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gab dem IS die Schuld für den Anschlag. Am 28. Juni 2016 kamen bei einem Terroranschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk über 40 Menschen ums Leben. Die Behörden gingen von einer Täterschaft des sog. Islamischen Staates (IS) aus. Am 20.8.2016 riss ein Selbstmordanschlag des sog. IS auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep mehr als 50 Menschen in den Tod. In einer Erklärung warf die HDP der Regierung vor, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den sog. IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausgebreitet hat. Ein weiterer schwerer Terroranschlag des sog. IS erfolgte in der Silvesternacht 2016/17. Während eines Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub Reina wurden 39 Menschen getötet, darunter 16 Ausländer.

Die PKK hat am 12.3.2016 eine Dachorganisation linker militanter Gruppen gegründet, um ihre eigenen Fähigkeiten auszuweiten und ihre Unterstützungsbasis jenseits der kurdischen Gemeinschaft auszudehnen. Die neue Gruppe, bekannt als die "Revolutionäre Bewegung der Völker" (HBDH), wird vom Chef der radikalsten linken Fraktion innerhalb der PKK, Duran Kalkan, geleitet. Erklärte Absicht der Gruppe, die den türkischen Staat und im Speziellen die herrschende AKP ablehnt, ist es, die politische Agenda voranzutreiben, wozu auch Terroranschläge u.a. gegen Ausländer gehören. Die Gruppe unterstrich zudem das Scheitern der kurdischen Parteien in der Türkei, auch der legalen HDP. Laut Berichten beabsichtigt die HBDH Propagandaaktionen durchzuführen, um auch die Unterstützung von türkischen Aleviten zu erhalten, und um "Selbstverteidigungsbüros" in den Vierteln der südlichen und südöstlichen Städte zu errichten. Die HBDH will auch Druck auf Dorfvorsteher und Beamte ausüben, die in Schulen und Gesundheitsdiensten arbeiten, damit diese entweder kündigen oder die Ortschaften verlassen. Neun verbotene Gruppen trafen sich auf Einladung der PKK am 23.2.2016 zur ihrer ersten Sitzung im syrischen Latakia, darunter die Türkische kommunistische Partei/ Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML), die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) [siehe 3.4.], die Revolutionäre Kommunistische Partei (DKP), die Türkische Kommunistische Arbeiterpartei/ Leninistin (TKEP/L), die Kommunistische Partei der Vereinten Nationen (MKP), die türkische Revolutionäre Kommunistenvereinigung (TIKB), das Revolutionshauptquartier und die Türkische Befreiungspartei-Front (THKP-C). Die HBDH sieht in der Türkei eine Ein-Parteien-Diktatur bzw. ein faschistisches Regime entstehen, dass u.a. auf der Feindschaft gegen die Kurden gründet.

1.3.3. Die sogen. Gülen- oder Hizmet-Bewegung ist eine gut organisierte Gemeinschaft - keine politische Partei - benannt nach dem in Pennsylvania, in den Vereinigten Staaten lebenden islamischen Geistlichen Fethullah Gülen. Die Bewegung definiert sich selbst folgendermaßen: "Die Gülen-Bewegung (Hizmet auf Türkisch) ist eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist". Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Gülen fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen rund um den Globus. In der Türkei soll es zahllose, möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf.

Wichtige Stationen dieser Entwicklung waren die Rede Erdogans in Davos 2009 und die Ereignisse rund um die Stürmung der türkischen Gaza-Flottille Mavi Marmara durch das israelische Militär 2010. Mit der Kritik Gülens am Versuch, mit der Mavi Marmara die israelische Blockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen, brach der Streit zwischen Gülens Bewegung und Erdogans Partei dann offen aus und eskalierte im Dezember 2013, als Staatsanwälte, die Gülen nahgestanden sein sollen, gegen vier Minister der Regierung Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. Gleichzeitig tauchte eine Vielzahl von Mitschnitten abgehörter Telefonate im Internet auf, die den Verdacht nahelegten, dass auch der damalige Ministerpräsident Erdogan selbst in schwere Korruptionsfälle verstrickt war. Der Streit zwischen der Hizmet-Bewegung und der Partei entwickelte sich zum politischen Krieg: Die Regierung versetzte die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, die deren Anweisungen ausführenden Polizisten und die zuständigen Richter.

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor. So wurde im ersten Halbjahr 2015 auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Im Zuge der Auseinandersetzung zwischen den ehemaligen politischen Partnern AKP und Gülen-Bewegung zielte die Regierung auf die Eliminierung paralleler Strukturen der Gülen-Anhänger in der staatlichen Verwaltung ab. Der Schwerpunkt lag zu Beginn auf dem Polizei- und Justizbereich mit massenhaften Versetzungen und umstrittenen Gesetzesvorhaben. Nach einer Welle von Versetzungen sollten Gülen-Anhänger in der Justiz, die bis 2013 von der AKP-Regierung zu Tausenden als Gegengewicht zu der früher von den "Kemalisten" geprägten Justiz eingestellt worden waren, nunmehr gänzlich aus ihren Ämtern entfernt werden.

Am 27.5.2016 verkündigte Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird. In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz:

FETÖ, (Fethullah Terror Organisation / Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die Behörden, die von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt wurden, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die Vereinigten Staaten die Auslieferung von Gülen.

Laut "TurkeyPurge" wurden (Stand 27.4.2017) seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 über 134.000 Personen wegen vermeintlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen, knapp über 100.000 festgenommen, und von letzteren 50.000 inhaftiert.

1.3.4. Terroristische Gruppierungen:

PKK - Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Ab Mitte der 1970er Jahre bildete sich eine breitere Front oppositioneller Kurden, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollten:

mehr Freiheit und am Ende einen unabhängigen Staat. Als Hauptakteur kristallisierte sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) heraus, die 1978 von Abdullah Öcalan gegründet worden war. Neben dem Kampf gegen den türkischen Nationalismus war sie auch stark marxistisch-leninistisch beeinflusst und machte das kapitalistische und imperialistische System verantwortlich für die Situation der Kurden. Nach dem Militärputsch von 1980 rief Öcalan 1984 den bewaffneten Kampf aus. Die türkische Armee schlug mit voller Härte zurück. Über kurdische Provinzen wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Armee brannte ganze Dörfer nieder, deren Bewohner unter dem Verdacht standen, mit der PKK zu sympathisieren. Das wiederum verschaffte der PKK Zulauf. Sie wuchs im Laufe der Jahre von einer Rebellengruppe in den Bergen zur wichtigsten politischen Vertretung aller Kurden. Heute teilen mindestens 80 Prozent der Kurden im Südosten der Türkei grundlegende Forderungen der PKK: Sie wollen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen.

1993 gab es das erste Waffenstillstandsangebot der PKK. Deren Führung verwarf in einer Erklärung das Ziel eines unabhängigen Kurdistans und strebte stattdessen kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung innerhalb der Türkei an. Doch die türkische Regierung war zu keinen Kompromissen bereit und verstärkte ihre Militäroffensive. Im Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan festgenommen, was die Führung und Organisation der PKK empfindlich schwächte. Aus dem Gefängnis heraus warb er für eine friedliche Lösung des Konfliktes. Öcalan bezeichnete nach einem im September 1998 verkündeten einseitigen Waffenstillstand in einem am 3.8.1999 veröffentlichten Appell die Atmosphäre des bewaffneten Konflikt

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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