TE Bvwg Erkenntnis 2018/11/13 W147 2191190-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.11.2018
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Entscheidungsdatum

13.11.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch

W147 2191190-1/7E

W147 2191160-1/6E

W147 2191168-1/6E

W147 2191175-1/6E

W147 2191181-1/6E

W147 2191186-1/6E

W147 2191194-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Stephan KANHÄUSER als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX , alle StA: Russische Föderation, alle vertreten durch Maga. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20. Februar 2018, Zlen. 1) 1098950509- 161511933, 2) 1098952710-161512018, 3) 1098952307-161512026, 4) 1098953108-161511992, 5) 1098952808-161511968, 6) 1103642109-16152280 und 7) 1103642403-161512255 beschlossen:

A) Die Verfahren werden in Bezug auf Spruchpunkt I. gemäß § 28 Abs. 1 und § 31 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, eingestellt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Stephan KANHÄUSER als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX , alle StA: Russische Föderation, alle vertreten durch Maga. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20. Februar 2018, Zlen. 1) 1098950509- 161511933, 2) 1098952710-161512018, 3) 1098952307-161512026, 4) 1098953108-161511992, 5) 1098952808-161511968, 6) 1103642109-16152280 und 7) 1103642403-161512255 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 (iVm § 34 ) Asylgesetz 2005 ? AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, werden den Beschwerdeführern der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt.

II. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 ? AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2013, werden den Beschwerdeführern befristete Aufenthaltsberechtigungen in der Dauer von einem Jahr erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit den minderjährigen zweit- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien in das Bundesgebiet ein und brachte für sich und diese als gesetzliche Vertretung Anträge auf internationalen Schutz ein, wobei sie ihre Identität durch Vorlage des russischen Inlandsreisepasses nachwies.

Anlässlich der niederschriftlichen Erstbefragung am 15. Dezember 2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die Erstbeschwerdeführerin - für nunmehriges Verfahren von Bedeutung - im Wesentlichen an, dass sie ihr Mann schlecht behandelt und auch geschlagen hätte. Zuletzt habe er sich von ihr getrennt (nach ihrem Glauben). Er hätte vorgehabt, eine andere Frau nach Haus zu bringen. Falls die Erstbeschwerdeführerin sich damit nicht einverstanden erklären würde, hätte er sie von den Kindern getrennt. Außerdem hätte sie auch andere Schwierigkeiten erwarten müssen. Aus diesem Grund habe sie sich entschieden, ihr Heimatland zu verlassen.

Am 29. Dezember 2015 sind die sechst- und siebendbeschwerdeführende Partei geboren worden. Am 28. Jänner 2016 wurden für diese ebenfalls Anträge gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG eingebracht.

Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass die Erstbeschwerdeführerin am 11. Dezember 2015 in Polen einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und erkennungsdienstlich behandelt worden war.

Anlässlich der Einvernahme am 16. Februar 2016 gab die Erstbeschwerdeführerin nach erfolgter Rechtsberatung und im Beisein eines Rechtsberaters im Wesentlichen an, sie hätten in Österreich keine Verwandten oder näheren Bekannten. Sie ersuchte darum, einen Psychologen sehen zu können, da sie sehr müde und ausgelaugt sei. Sie habe Albträume und sei geräuschempfindlich. Diese Zustände habe sie schon vor ihrer Einreise nach Österreich gehabt. Nach dem vierten Kind habe sie Depressionen nach der Geburt gehabt, sei in Tschetschenien jedoch nicht behandelt worden, da die Ärzte das nicht ernst nehmen würden. Aufgrund der Belastung mit den Kindern habe sie bisher nicht zum Arzt gehen können. Die Erstbeschwerdeführerin legte zwei beglaubigte Schriftstücke (eines ihrer Nachbarn und eines von ihr selber) vor, wonach sie von ihrem Mann misshandelt worden sei. Ihr Mann sei in letzter Zeit drogen- beziehungsweise medikamentenabhängig. Er habe sie immer geschlagen. Während der Schwangerschaft habe sie Beruhigungspillen nehmen müssen. Die Kinder hätten Angst vor ihm. Nach der Scharia müsse sie die Kinder nach einer Trennung dem Mann übergeben, deshalb sei sie geflüchtet.

Aus Polen sei sie geflüchtet, da ihr Mann gesagt habe, er fahre nach Polen und hole die Kinder. Er habe dort viele Freunde und habe gemeint, dass er keine Probleme habe, die Kinder zu holen. Sie glaube nicht, dass die polnische Polizei ihr helfen werde. Die Grenze zur Russischen Föderation sei zu nahe. Der Mann werde sicher ein bis zwei Jahre abwarten und dann werde er zuschlagen und die Kinder holen.

Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA, EAST-Ost, mit Bescheiden vom 29. März 2016, Zahlen: 1098950509/151994015 (BF1), 1098952808/151994040 (BF2), 1098953108/151994058 (BF3), 1098952307/151994023 (BF4), 1098952710/151994031 (BF5), 1103642403/160141917 (BF6) und 1103642109/ 160141968 (BF7), zugestellt am 25. März 2016, die Anträge auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurück und sprach aus, dass Polen für die Prüfung der Anträge gemäß Art. 18 Abs. 1 lit c beziehungsweise Art. 20 Abs. 3 (betreffend BF6 und BF7) der Dublin III-VO zuständig sei (Spruchpunkt I.). Die Außerlandesbringung der Beschwerdeführer wurde gemäß § 61 Abs. 1 Bundesgesetz über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF (FPG), angeordnet und festgestellt, dass demzufolge die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Polen gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2016, W175 2124575-1/12E, wurde die dagegen erhobene Beschwerde gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen-

Die Überstellungsfrist der Beschwerdeführer nach Polen lief mit 10. Dezember 2016 ab. Die Erstbeschwerdeführer befand sich diesem Zeitraum in stationärer Behandlung und brachte für sich und ihr Kinder am 8. November 2016 einen Folgeantrag auf internationalem Schutz ein, welcher in weiterer Folge zugelassen wurde.

Im Zuge der am 8. November 2016 durchgeführten Erstbefragung gab die Erstbeschwerdeführerin unter anderem an, ihr Mann befände sich in Tschetschenien, es sei für ihn leichter, sie in Polen zu erreichen, als in Österreich. Die Erstbeschwerdeführer möchte nur, dass ihre Kinder und sie ruhig leben können. Dies könne sie sich in Polen nicht vorstellen.

Am 16. Mai 2017 wurde die Erstbeschwerdeführerin im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Russisch und ihrer gewillkürten Vertretung von der zur Entscheidung berufenen Organwalterin der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen, wobei sie zu Beginn angab, dass ihre Kinder dieselben Fluchtgründe hätten wie sie, ebenso bestehe für diese dieselbe Rückkehrgefährdung. Sie habe bis dato wahrheitsgemäße Angaben erstattet und wurden gegen sie und ihre Kinder in Österreich weder eine gerichtliche Untersuchung oder ein Gerichtsverfahren eingeleitet. Außer dem bereits vorgelegten Inlandspass und den Geburtsurkunden verfüge sie über keine weiteren Dokumente oder neue Beweismittel.

Die Erstbeschwerdeführerin nehme vom Hausarzt verschriebene Medikamente ein, auch sei sie stationär in Behandlung gewesen, der Zweitbeschwerdeführer sei bei einem Psychologen. Bestätigungen hierüber werde sie nachreichen.

Befragt nach Angehörigen in ihrem Heimatland führte die Erstbeschwerdeführerin ihre Eltern und ihren Bruder an, die allesamt in der Tschetschenischen Republik aufhältig seien und ihren Lebensunterhalt durch Land- Viehwirtschaft finanzieren. Ihr Bruder arbeite mit dem Vater zusammen. In Tschetschenien habe sie weiters sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits Tanten und Onkeln. "Den Papieren nach" sei sie nach wie vor mit ihrem namentlich genannten Mann verheiratet, nach den tschetschenischen Gepflogenheiten seien sie jedoch getrennt. Nachgefragt vermeinte die Erstbeschwerdeführerin sie wisse nicht, wie sie sich scheiden lassen könnte, da sie keinen Kontakt mehr zu ihm habe, sie vermute ihn in Tschetschenien. Als sie ihren Herkunftsstaat verlassen hatte, habe ihr Mann bereits eine Zweitfrau gehabt, die er nach den moslemischen Traditionen geheiratet gehabt hätte. Ob diese Ehe zwischenzeitlich offiziell registriert sei, könne sie nicht angeben. Sie selbst habe eine Lehranstalt für Buchhalter absolviert, bis zu ihrer Eheschließung ein Jahr hindurch gearbeitet. Von ihrer Hochzeit an habe sie zehn Jahre hindurch an der im Inlandsreisepass angegebenen Adresse gelebt und sei Anfang Dezember 2015 ausgereist.

Zu ihren Gründen für das Verlassen ihres Herkunftsstaates führte die Erstbeschwerdeführerin aus: "Mein Mann hat sich in der letzten Zeit sehr verändert. Er wurde immer grausamer. Tag für Tag hat das zugenommen. Er begann mich zu schlagen, zu bedrohen. Als ich mit den Zwillingen im 4. Monat schwanger war, hat er sich noch die andere Frau genommen. Die Misshandlungen gingen danach noch weiter, ich kam ins Spital. Nachgefragt - ich kann mir den Befund schicken lassen. Ich war damals in zwei Spitälern, in XXXX und in XXXX . Die Kinder waren dann bei ihm, seiner Frau und seiner Schwester. Die Kinder wurden dort eingeschüchtert, er hat auch die Kinder geschlagen. (Anm.: VP weint). Dann erfuhr ich, dass er Präparate nimmt. Zufällig kam ich dahinter. Ich wollte ihn schon überhaupt verlassen, dann aber erst recht. Aber ich hätte die Kinder nicht von ihm wegbekommen, auch nicht, wenn ich mich an ein Gericht gewandt hätte. Er hat mich bedroht und die Kinder auch. Man hätte nichts gegen ihn unternehmen können. Ich hatte keine Zeit mehr. Ich habe alles sehr sorgfältig geplant. Wenn es zu einem Prozess gekommen wäre, wäre das für mich oder die Kinder schlecht gewesen. Man achtet nicht die Gesetze, nur die Tradition. Nachgefragt - ich habe Anspielungen darauf gemacht, daraufhin versetzte er mir einen Schlag. Er sagte:

"Du wirst mich noch auf den Knien anflehen. Du wirst die Kinder nie wiedersehen. Und du wirst nur ein Fetzen sein". Es war ein großes Risiko. Ich habe einen Moment gefunden, wo er einige Tage beschäftigt war, weil er einen Autounfall hatte, da konnte ich in der Nacht XXXX verlassen. Ich hatte unterwegs wahnsinnige Angst, bis ich über der Grenze war. (Anm.: VP weint sehr stark, steht auf, geht hin und her, sinkt an der Wand zu Boden). Ich war im 8. Monat schwanger und noch nie im Ausland. Ich hatte Angst, dass er irgendwie erfährt, wo wir sind, dass er uns einholt, eine Fahndung durchführen lässt (Anm.: VP ringt die Hände). Es geht mir dann immer schlecht, wenn ich mich erinnere. Es ist nicht einfach, die 4 Kinder zu nehmen, in der Schwangerschaft, und einfach wegzufahren. (VP schluchzt, Schnappatmung). Jetzt wirkt sich das auf meine Gesundheit aus. Aber irgendwie können wir das jetzt vergessen und sind etwas ruhiger geworden. In der Nacht, als es so ruhig war, kam einmal die Polizei in XXXX und leuchtete mit den Taschenlampen, da war ich sehr beunruhigt. Danach konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen, auch die Kinder. Sie sagten: ¿Mama, mach die Türe nicht zu¿. Jetzt habe ich diese Tabletten. Mit geht es immer schlecht, wenn ich mich daran erinnere, das erzählen muss. Dann habe ich auch überhaupt keine Kraft mehr für die Kinder."

Befragt, wie es ihr möglich gewesen sei, ihre Kinder mitzunehmen antwortete die Erstbeschwerdeführerin, sie habe gewusst, dass sie wegen der Geburt ins Spital kommen und es keine 9 Monate dauern werde. In dieser Zeit seien die Kinder bei ihr im Haus in XXXX gewesen. Sie habe jeden Tag geplant. Die Erstbeschwerdeführer habe dieses Haus verlassen müssen, aber nur mit den Kindern.

Der Zweitbeschwerdeführer rede nicht. Er sei im Spital gewesen, in der Nacht habe er viel geweint. Sein sogenannter Vater habe ihn umgedreht gehalten, mit dem Kopf nach unten und ihn danach mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Danach habe man noch alle Fingerabdrücke gesehen. Die Kinder würden jetzt darüber reden, jedoch habe keiner etwas zu können. Vor allem der Zweitbeschwerdeführer benötige Hilfe, und die Leute aus XXXX seien so nett. Man merke, dass es den Kindern von Tag zu Tag bessergehen würde. Manchmal würden sie sich sehr negativ über ihren Vater äußern, da sie alles miterlebt und gesehen hätten. Manchmal beim Schlafen gehen, würden sie darüber sprechen wollen, aber die Erstbeschwerdeführerin könne nicht.

Nachgefragt gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihr Mann sie auch vor den Kindern misshandelt habe. Die Kinder hätten dann geschrien, aber er habe sie eingeschüchtert. Befragt, ob nach der Ausreise nach ihr gesucht worden sei, antwortete die Erstbeschwerdeführerin, ihr Mann habe ihre Mutter angerufen und diese bedroht. Er habe auch einen Dorfälteren geschickt, eine ältere Person aus der Moschee, der ausgerichtet hätte, dass ihr Mann sich rächen werde, er auf die Rückkehr der Beschwerdeführer warten werde. Nachgefragt wisse sie nicht, ob ihre Eltern etwas wegen der Scheidung in die Wege leiten könnten. Sie selbst habe sich damals nicht an die Behörden wenden können. Sie habe damals auch die Dokumente versteckt gehalten, damit keiner aus der Familie ihres Mannes auf die Idee käme, dass sie etwas vorhabe.

Befragt nach einer Möglichkeit, sich im Heimatland wo anders - z.B. in ein anderes Gebiet, etwa Moskau, - hinzubegeben und sich dort unter behördlichen Schutz zu stellen, um sich den angegebenen Übergriffen / Problemen / Schwierigkeiten zu entziehen antwortete die Erstbeschwerdeführerin, dass dies nicht realistisch wäre und sie sich dort nicht sicher fühlen würde. Ihr Mann würde in seinem Land alles unternehmen, um wieder zu seinen Kindern zu kommen. Auch in Moskau gebe es sehr viele Tschetschenen. Und die Moskauer Behörden würden sehr oft Tschetschenen wieder in die Heimat zurückschicken. Die Beschwerdeführer wären dort einfach in seiner Reichweite, er hätte Zugriff auf sie und wäre es dort kein Problem für ihn. Die Erstbeschwerdeführerin wisse, dass er wegen seiner Arbeit viel unterwegs gewesen sei. In ganz "Russland" habe er Freunde, viele Kontakte.

Mit Schriftsatz vom 6.Dezember 2017 erhoben die Beschwerdeführer infolge der Untätigkeit der Behörde Säumnisbeschwerde.

Mit den im Spruch genannten Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz binnen der Frist gemäß § 16 VwGVG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde die Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde der Beschwerdeführern gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Es wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen festgelegt.

Gegen diese Bescheide wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.

Am 30. Oktober 2018 fand zur Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhaltes vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit der Erstbeschwerdeführerin, ihrer gewillkürten Vertretung und im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache statt.

Mit Schriftsatz vom 5. November 2018 wurden die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. zurückgezogen und darauf verwiesen, dass im Fall einer allfälligen Rückkehr der Beschwerdeführer eine Verletzung von

Artikel 2 und 3 EMRK vorliegen würde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage des Verwaltungsaktes der belangten Behörde, der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten öffentlich mündlichen Verhandlung und der in diesem Verfahren herangezogenen Hintergrundberichte zur aktuellen Lage in der Russischen Föderation werden seitens des Bundesverwaltungsgerichtes folgende Feststellungen getroffen:

1.1. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehören der Volksgruppe der Tschetschenen an und sind muslimischen Glaubens.

Die Erstbeschwerdeführerin und vier ihrer Kinder reisten illegal in das Bundesgebiet ein und brachten Anträge auf internationalen Schutz ein. Für die im Bundesgebiet geborenen zwei weiteren Kinder wurden ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz im Familienverfahren eingebracht.

Bei einer Prognose im Hinblick auf eine allfällige Abschiebung der Beschwerdeführer in die Russische Föderation, respektive Tschetschenien, kann bei Beachtung der konkreten Einzelsituation in ihrer Gesamtheit vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in Verbindung mit der Diskriminierung von Frauen (mit psychischen Beeinträchtigungen) und der in Tschetschenien bestehenden Tradition der Wegnahme der Kinder sowie ihrer Eigenschaft als alleinerziehende Mutter von sechs Kindern in eine ausweglose Situation geraten würde.

Mangels familiärer oder sonstiger sozialen Anknüpfungspunkte ist der alleinerziehenden Erstbeschwerdeführerin mit ihren sechs Kindern eine Niederlassung in einem anderen Teilgebiet der Russischen Föderation (außerhalb Tschetscheniens) zum Entscheidungszeitpunkt nicht zumutbar.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer leiden an psychischen Erkrankungen. Die Familie hat sich während des Aufenthalts in Österreich einen großen Freundeskreis aufgebaut.

1.2. Festgehalten wird, dass die jeweiligen Spruchpunkte I. der Bescheide des Bundesamtes (Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz in Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) infolge der diesbezüglichen Zurückziehung der Beschwerden in Rechtskraft erwachsen sind.

1.3. Zur aktuellen Situation in der Russischen Föderation bzw. in Tschetschenien werden folgende Feststellungen getroffen:

0. vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse "wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind", berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

1. Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

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OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

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Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

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Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

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Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

1.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

1.2. Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018, vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen "Aufständischen" und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen, hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagierte Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew schreckte der Kreml die lokalen Eliten auf. Wassiljew ist keiner von ihnen, er war mit Blick auf das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien wie eine Faust aufs Auge. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden. Im Nordkaukasus hatte er davon Abstand genommen. Immerhin dürfte Wassiljew für ethnische Fragen ein gewisses Gespür mitbringen. Er ist selbst halb Kasache, halb Russe. Wassiljew ist das Gegenmodell zu Kadyrows ungestümer Selbstherrlichkeit. Er ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan - und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht - Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll. Mit Wassiljew tritt jemand mit wirklich direktem Draht zur Zentralmacht im Nordkaukasus auf. Das könnte ihn, zumindest für einige Zeit, zum starken Mann in der ganzen Region machen. Dafür allerdings benötigt er genauso die Akzeptanz der Einheimischen (NZZ 12.2.2018).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef [Abdussamad Gamidow], zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet zur Ausbeutung der wirtschaftlich abgeschlagenen und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängenden Nordkaukasus-Republik. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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ACCORD (16.5.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,

https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/, Zugriff 2.8.2018

-

IOM - International Organisation of Migration (6.2014):

Länderinformationsblatt Russische Föderation

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan:

Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351, Zugriff 2.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018

2. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

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BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

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Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

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EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/hom

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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