TE Bvwg Erkenntnis 2018/11/22 L510 2016334-2

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Veröffentlicht am 22.11.2018
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Entscheidungsdatum

22.11.2018

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.2
EMRK Art.3
FPG §55 Abs1a
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L510 2016334-2/20E

Schriftliche Ausfertigung des am 06.11.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. am XXXX, StA. Türkei, vertreten durch RAe Dr. DELLASEGA & Dr. KAPFERER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2015, Zl: XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.11.2018, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, AsylG 2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrenshergang

1. Bei der beschwerdeführenden Partei (bP) handelt es sich um eine Frau, welche Staatsangehörige der Türkei mit alewitischem Glaubensbekenntnis ist, der Volksgruppe der Kurden angehört und aus

XXXX stammt.

Der genaue Zeitpunkt ihrer Einreise ist nicht bekannt, aber schien die bP mit 09.03.2009 das erste Mal im zentralen Melderegister mit Wohnsitz XXXX, auf. An dieser Adresse war sie bis 06.04.2010 gemeldet.

Bereits am 02.12.2008 stellte sie beim Magistrat XXXX einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (Familienangehöriger), welcher abgewiesen wurde. Eine Meldeadresse schien zu diesem Zeitpunkt nicht auf, ebenso wenig eine Aufenthaltsberechtigung für die Republik Österreich.

Vom 04.03.2009 bis 04.07.2009 war sie im Besitz des Visum D, Nr:

XXXX, erteilt am 03.03.2009, durch die Botschaft XXXX, Türkei.

Am 09.03.2009 wurde ihr der Aufenthaltstitel XXXX (Familienangehöriger Erst-AE-Titel) durch den Magistrat XXXX mit Gültigkeit bis 10.02.2010 erteilt.

Am 06.04.2010 wechselte sie ihren Wohnsitz und meldete sich in XXXX, an, wo sie bis 29.06.2010 gemeldet blieb.

Am 20.04.2010 stellten sie bei der BH XXXX einen Verlängerungsantrag auf Erteilung eines AT (Familienangehöriger).

Auch stellte sie am selben Tag beim Magistrat XXXX einen Antrag auf Erteilung eines AT (Familienangehöriger) welcher von ihr aber wieder zurückgezogen wurde.

Am 29.06.2010 wechselte sie erneut ihren Wohnsitz und schien sie im ZMR bis 03.02.2011 mit Wohnsitz in XXXX, auf.

Die bP war dann wieder in der Türkei aufhältig und war von 03.02.2011 bis 01.03.2013 nicht im Bundesgebiet der Republik Österreich gemeldet. Lt. eigenen Angaben reiste sie jedoch bereits Ende 2010 aus.

Vom 01.03.2013 bis 10.07.2013 war sie in XXXX, gemeldet.

Sie stellte am 01.03.2013 beim Magistrat XXXX einen Antrag auf Erteilung eines AT gem. § 43 Abs. 3 NAG, welcher am 10.04.2013 zurückgewiesen wurde.

Weiter stellte sie am 06.05.2013 Sie beim Magistrat XXXX einen Antrag auf Erteilung eines AT gem. § 43 Abs. 3 NAG, welcher am 26.07.2013 abgewiesen wurde.

Von 11.07.2013 bis 11.09.2013 war sie in XXXX, gemeldet.

Am 30.07.2013 stellten sie beim Magistrat XXXX einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. § 43 Abs. 3 NAG, welcher am 22.11.2013 zurückgewiesen wurde.

Von 11.09.2013 bis 30.12.2013 war sie in XXXX, gemeldet.

Am 29.11.2013 stellten sie erneut beim Magistrat XXXX einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. § 41a Abs. 9 NAG, welcher am 01.01.2014 an das BFA RD Tirol übergeben wurde.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.12.2014 wurde der Antrag gem. § 55 AsylG 2005 abgewiesen und gegen die bP eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 3 FPG erlassen. Es wurde gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Türkei zulässig ist.

Dagegen wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 03.04.2015 Zl. L514 2016334-1/8E, wurde die Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.03.2015 als unbegründet abgewiesen. Mit 09.04.2015 erwuchs dieses Erkenntnis in Rechtskraft.

Da die bP ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen ist, wurde eine Abschiebung geplant.

Die bP stellte am 01.06.2015 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einen Antrag auf internationalen Schutz.

Anlässlich ihrer Erstbefragung am 01.06.2015 gab die bP zum Fluchtgrund folgend an:

"Ich lebte mit meinem Mann ein Jahr legal in Österreich, er meinte dann zu mir, dass ich mein Visum in der Türkei besorgen muss, dabei wollte er mich nur los werden. Ich wurde in meinem Dorf von den Verwandten von meinem Mann immer wieder bedroht. Ich durfte nicht vor das Haus gehen. Ich wurde mit dem Umbringen bedroht und sie sagten zu mir, dass ich doch zu meinem Mann zurückgehen solle. Und deswegen bin ich aus Angst geflohen. Ich lebte dann 2 Jahre lang in dem Dorf und ich wurde immer wieder bedroht, das war zwischen 2010 und 2012."

Die Einvernahme der bP beim BFA gestaltete sich im Wesentlichen folgend:

"...F: Wie geht es Ihnen. Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, Angaben zu Ihrem Asylverfahren zu machen?

A: Ja, ich bin dazu in der Lage. Ich habe keine physischen oder psychischen Probleme.

F: Haben Sie irgendwelche Krankheiten und wenn ja, welche?

A: Nein ich habe keine Krankheiten. Ich bin gesund.

F: Sind Sie in Österreich in ärztlicher Behandlung? Wie lange wird die Behandlung noch dauern?

A: Ich habe eine Psychotherapie begonnen. Diese habe ich aber momentan unterbrochen, weil ich ein wenig Zeit für mich selbst brauche.

F: Können Sie über die Psychotherapie ärztliche Unterlagen vorlegen?

A: Ja. (Anmerkung Kopien werden zum Akt gegeben).

F: Seit wann besuchen Sie keine Psychotherapie mehr?

A: Seit ca. 8 Monaten.

F: Sind Sie damit einverstanden, dass ho. Behörde Einsicht in bereits vorliegende und künftig erhobene ärztliche Befunde nehmen kann, sowie dass die Sie behandelnden Ärzte, als auch behördlich bestellte ärztliche Gutachter wechselseitig Informationen zu den Ihre Person betreffenden erhobenen ärztlichen Befunde austauschen können? Sind Sie weiters mit der Weitergabe Ihrer medizinischen Daten an die Sicherheitsbehörde und die für die Grundversorgung zuständigen Stellen einverstanden? Sie können Ihre Zustimmung danach jederzeit widerrufen.

A: Ja, ich bin damit einverstanden.

F: Haben Sie im Verfahren bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht und wurden Ihnen diese jeweils rückübersetzt und korrekt protokolliert?

A: Ja ich habe die Wahrheit gesagt und es wurde alles richtig aufgeschrieben.

Anmerkung: Der Reisepass und der Nüfus wurden vorgelegt.

F: Haben Sie irgendwelche Personaldokumente oder andere Dokumente in Österreich, die Sie noch nicht vorgelegt haben?

A: Nein.

F: Besitzen Sie einen Führerschein, und wenn ja, wann, wo und von wem wurde dieser ausgestellt?

A: Nein.

F: Bei der Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 25.03.2015 haben Sie angegeben, dass Sie keinen Asylantrag stellen möchten. Warum haben Sie dann ausgerechnet am 01.06.2015 doch einen Asylantrag gestellt?

A: Ich habe gehofft, dass das Bundesverwaltungsgericht positiv entscheidet. Da das nicht der Fall war, musste ich dann einen Asylantrag stellen. Ansonsten wäre ich abgeschoben worden.

Erklärung: Sie haben am 01.06.2015 beim BFA um Asyl ersucht. Sie wurden am 01.06.2015 vor der Polizei bereits zu Ihrem Asylverfahren, d. h. zu Ihrem Reiseweg und den Gründen Ihrer Ausreise, befragt. Können Sie sich an Ihre damaligen Angaben erinnern? Waren Ihre damals gemachten Angaben vollständig und entsprechen diese der Wahrheit? Wollen Sie selbst zu diesen Angaben noch etwas hinzufügen oder etwas sagen, was Sie noch nicht angeführt haben?

A: Ja, ich kann mich noch daran erinnern. Meine Angaben sind vollständig, ich habe damals alles gesagt, mehr habe ich selbst nicht dazu anzuführen. Ich habe die Wahrheit gesagt. Andere Gründe gibt es nicht...

Ich wurde am XXXX in XXXX in der Türkei geboren. Ich bin bei meinen Eltern in unserem Haus aufgewachsen. Mein Vater hatte eine eigene Landwirtschaft. Ich habe fünf Schwestern und einen Bruder die alle noch in der Heimat leben. Ich habe fünf Jahre die Schule besucht. Ich kann Türkisch und Kurdisch lesen und schreiben.

Am 02.07.2008 habe ich meinen Mann geheiratet. Als wir geheiratet haben, war mein Mann bereits in Österreich wohnhaft. Am 05.03.2009 kam ich zu ihm nach Österreich. Am 11.10.2010 ging ich wieder in die Türkei und seither sind wir getrennt. Ich habe keine Kinder.

Von 2010 bis zur Wiedereinreise nach Österreich am 11.11.2012 lebte ich bei meiner Mutter. Meine Mutter hat alles finanziert. Ich selbst habe nie gearbeitet ich war immer Hausfrau. Ich lebte unter normalen wirtschaftlichen Verhältnissen. Meine Mutter ist Krebskrank ihr geht es nicht gut. Ich gehöre zur Volksgruppe der Kurden und bin Moslem.

F: Hat Ihre Familie irgendwelche Besitztümer in Ihrem Heimatland, z. B. Häuser, Grund?

A: Meine Mutter hat ein Haus und eine Landwirtschaft.

F: Haben Sie bislang eine Ehe geschlossen?

A: Ja.

F: Waren Sie zuvor schon einmal verheiratet?

A: Nein.

F: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie? Wie gestaltet sich der Kontakt zu Ihrer Familie? Kommunizieren Sie auch über soziale Netzwerke und andere Medien?

A: Ich habe Kontakt zu meinen Geschwistern und zu meiner Mutter, aber nur sehr selten, da ich es mir finanziell nicht leisten kann.

F: Könnten Sie im Falle der Rückkehr in Ihr Herkunftsland wieder an Ihrer Wohnadresse bzw. bei Verwandten wohnen?

A: Es ist schwierig bei ihr zu leben, weil sie schwer krank ist.

Angaben zum Fluchtweg:

F: Wie viel mussten Sie für die Reise bezahlen?

A: 5000 Euro.

F: Woher hatten Sie dieses Geld?

A: Ein bisschen hat mir meine Mutter gegeben und meine gesamte Familie hat mir Geld gegeben. Meine Schwestern haben teilweise ihren Schmuck verkauft.

F: Mit welchem Dokument sind Sie gereist?

A: Nein.

F: Haben Sie in einem anderen Land schon einmal einen Asylantrag gestellt?

A: Nein.

Angaben zum Fluchtgrund:

F: Sind Sie in Ihrer Heimat oder in einem anderen Land vorbestraft bzw. haben Sie im Herkunftsland, oder hier Strafrechtsdelikte begangen?

A: Nein.

F: Werden Sie in der Heimat von der Polizei, einer Staatsanwaltschaft, einem Gericht oder einer sonstigen Behörde gesucht?

A: Nein.

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat jemals von den Behörden angehalten, festgenommen oder verhaftet?

A: Nein.

F: Hatten Sie in Ihrer Heimat Probleme mit den Behörden?

A: Nein.

F: Waren Sie in Ihrer Heimat jemals Mitglied einer politischen Gruppierung oder Partei?

A: Nein.

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer politischen Gesinnung verfolgt?

A: Nein.

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Rasse verfolgt?

A: Nein.

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Religion verfolgt?

A: Nein.

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Nationalität, Volksgruppe oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt?

A: Nein.

F: Was war der konkrete Grund, warum Sie die Heimat verlassen haben? Erzählen Sie bitte möglichst chronologisch über alle Ereignisse, die Sie zum Verlassen der Heimat veranlasst haben (freie Erzählung)!

A: Man wollte mich in die Türkei abschieben, deswegen habe ich einen Asylantrag gestellt. Ich habe 1,5 Jahre legal in Österreich gelebt. Dann hat mein Mann mir gesagt, dass ich in die Türkei gehen soll um dort Urlaub zu machen. Er wollte sich dann wieder melden. Ich war eine Woche in Istanbul. Dann ging ich zu meiner Mutter. Mein Mann hat mich immer wieder angerufen und mir gesagt, dass er sich um meinen Aufenthaltstitel kümmern wird. Er hat das aber nicht gemacht. Er hat mich sechs Monate lang immer wieder vertröstet. Mir ging es dann sehr schlecht. Diese Situation hat mich psychisch sehr belastet. Meine Mutter war krank und die Umstände dort waren nicht gut.

Die Dorfbewohner und die Verwandten haben gemeint, dass ich etwas gemacht habe, weil mich mein Mann zurück geschickt hat. Während ich zu Hause war, musste ich meiner Mutter bei der Landwirtschaft helfen. Als ich einmal auf dem Weg vom Feld zu meiner Mutter war, traf ich meinen Schwager und dessen Cousin. Sie haben mich mit einer Waffe bedroht und gesagt, wieso ich immer noch hier wäre und wieso ich nicht bei meinem Mann sei. Ich hatte Angst. Es kamen dann andere Frauen und dann gingen sie weg. Ich hatte immer Angst. Deswegen kam ich dann wieder hier her. Meine Mutter wollte auch, dass ich hier her komme.

F: Wie war die Beziehung zu Ihrem Mann als Sie hier in Österreich gelebt haben?

A: Eigentlich gut. Wir hatten keine Probleme. Ich habe aber später erfahren, dass er eine andere Frau kennengelernt hat und mich deswegen nicht mehr hier her geholt hat. Ich habe auch gehört, dass er schon eine Affäre hatte während ich noch hier war. Deswegen hat er mich zurück in die Türkei geschickt.

F: Weshalb sollten dann seine Verwandten zu Ihnen sagen, dass Sie zu Ihrem Mann gehen sollen? Diese müssen ja wissen, dass er eine Andere hat.

A: Sie sagen, dass ich zu ihm gehen muss.

F: Wann war der Vorfall wo Sie bedroht wurden?

A: 2 Monate nachdem ich in die Türkei gegangen bin.

F: Gab es noch mehrere Vorfälle oder war das der Einzige?

A: Ich wurde immer wieder bedroht. Deswegen ging ich dann zu meinen anderen Verwandten in andere Dörfer.

F: Konnten Sie dort dann in Ruhe leben?

A: Ja, weil sie nicht wussten, dass ich dort bin.

F: Haben Sie sich wegen dieser Vorfälle jemals an die Behörden gewandt?

A: Ich ging zwei Mal zur Polizei. Einmal weil ich mit der Waffe bedroht wurde und einmal weil ich mit einem Messer bedroht wurde. Sie haben den Fall aufgenommen und haben gemeint sie werden sich darum kümmern. Ich habe dann aber nichts mehr gehört.

Aufforderung: Schildern Sie konkret wann und wie Sie bedroht wurden!

A: Ich fuhr einmal mit dem Bus und dann sah ich, dass sie wieder auf mich warten. Ich habe mich hinter einem Baum versteckt. Einer hatte ein Messer dabei. Sie haben mich nicht gesehen und gingen dann wieder.

F: Wann war das?

A: Das waren vier Monate bevor ich hier her gegangen bin. Danach war ich dann bei meinen Verwandten.

F: Wie weit waren die Verwandten von Ihrem Dorf entfernt?

A: 2.5 Stunden Fahrzeit.

F: Wieso sind Sie nicht bei Ihren Verwandten geblieben wenn Sie dort keine Probleme hatten?

A: Ich kann nicht immer bei meinen Verwandten bleiben.

F: Geben Sie die Namen bekannt von denen Sie bedroht wurden.

A: Der Bruder heißt XXXX und der Cousin XXXX.

F: Wussten die Behörden, dass Sie bei Ihren Verwandten sind?

A: Nein.

F: Können Sie Beweismittel vorlegen? Anzeige etc.?

A: Nein.

Vorhalt: Sie sind seit 2012 wieder in Österreich. Sie haben aber erst nach drei negativen Entscheidungen durch das Magistrat und nach einer negativen Entscheidung des BFA über Ihren Aufenthaltstitel einen Asylantrag gestellt. Es ist daher mehr als offensichtlich, dass Sie diesen Antrag nur gestellt haben um einer Abschiebung zu entgehen. Wenn Sie tatsächlich derartige Probleme gehabt hätten, dann ist davon auszugehen, dass Sie bereits nach Ihrer Einreise sofort um Asyl ersucht hätten. Was sagen Sie dazu?

A: Ich bin nach der Einreise zu einem türkischen Berater gegangen. Er sagte mir, dass ich um einen Aufenthaltstitel ansuchen soll.

Vorhalt: Zudem ist es absolut nicht nachvollziehbar, weshalb Sie von den Verwandten des Mannes bedroht werden sollten, wenn Ihr Mann Sie in die Türkei zurückgeschickt hat und jeder wusste, dass Sie wieder zu Ihrem Mann wollen. Was sagen Sie dazu?

A: Sie sagten, dass ich bei meinem Mann leben muss.

F: Wurde ein Scheidungsverfahren eingeleitet?

A: Mein Mann hat ein Scheidungsverfahren eingeleitet. Man wartet die Frist von sechs Jahren noch ab. Dann werden wir automatisch geschieden nach der Zeit.

F: Wie viel Unterhalt muss Ihnen nun Ihr Mann im Monat bezahlen?

A: Zwischen 555 und 445 Euro im Monat. Aber das hat er bisher noch nicht gemacht.

F: Sie werden nochmals auf das Neuerungsverbot im Beschwerdeverfahren aufmerksam gemacht. Ich frage Sie daher jetzt nochmals, ob Sie noch etwas Asylrelevantes angeben möchten oder etwas vorbringen möchten, was Ihnen wichtig erscheint, ich jedoch nicht gefragt habe?

A: Ich habe als Frau Angst in der Türkei zu leben. Ich möchte nicht dieselben Probleme wie bisher haben.

F: Aber wenn Sie geschieden sind, dann können die Verwandten des Mannes auch nicht von Ihnen erwarten, dass Sie zu Ihrem Mann gehen, wenn dieser sich scheiden hat lassen. Was sagen Sie dazu?

A: Sie wollen nicht akzeptieren, dass ich nicht bei meinem Mann bleiben kann.

Anmerkung: Die Einvernahme wird auf Wunsch der Antragstellerin für 15 Minuten unterbrochen.

F: Gab es jemals bis zu den besagten Vorfällen auf Sie irgendwelche Übergriffe?

A: Damals als der Schwager mir die Waffe in den Nacken gehalten hat, hat er mich auch getreten und mich an den Haaren gezogen.

F: Was hätten Sie im Falle einer eventuellen Rückkehr in Ihre Heimat konkret zu befürchten?

A: Ich hätte dieselben Probleme wie vorher.

F: Hätten Sie Probleme mit der Polizei oder anderen Behörden im Falle Ihrer Rückkehr?

A: Nein.

F: Warum sind Sie nicht in eine andere Stadt oder in einen anderen Landesteil gezogen?

A: Als Frau kann man in der Türkei alleine nicht leben.

F: Wissen Sie über die aktuelle politische Lage und über die Sicherheitslage in Ihrer Heimat bescheid?

A: Ich aber kein Internet und kein Fernsehen. Ich erfahre das nur über Bekannte.

Anmerkung: Ihnen wird nun die Möglichkeit eingeräumt, in die vom Bundesamt (BFA) zur Beurteilung Ihres Falles herangezogenen allgemeinen Länderfeststellungen des BFA zu Ihrem Heimatland samt den darin enthaltenen Quellen Einsicht und gegebenenfalls schriftlich Stellung zu nehmen. Diese Quellen berufen sich vorwiegend unter anderem auf Berichte von EU-Behörden aber auch Behörden anderer Länder, aber auch Quellen aus Ihrer Heimat wie auch zahlreichen NGOs und auch Botschaftsberichten, die im Einzelnen auch eingesehen werden können.

Sie haben die Möglichkeit dazu im Rahmen des Parteiengehörs schriftlich Stellung zu nehmen. Möchten Sie die Erkenntnisse des BFA Ihr Heimatland betreffend in Kopie mitnehmen und eine schriftliche Stellungnahme innerhalb einer Frist von zwei Wochen dazu abgeben?

A: Ich möchte das und bestätige hiermit die Übernahme der genannten Feststellungen und die mir eingeräumte Frist von zwei Wochen.

Anmerkung: Dem AW werden die Feststellungen persönlich ausgehändigt.

Angaben zum Privat- und Familienleben:

F: Wann sind Sie nach Österreich eingereist?

A: Am 11.11.2012.

F: Seit wann sind Sie in Österreich aufhältig?

A: Seit 2012.

F: Hatten Sie in Österreich jemals einen gültigen Aufenthaltstitel zur Begründung eines legalen Aufenthaltes?

A: Ich hatte einmal einen Aufenthaltstitel.

F: Wie sieht Ihr Alltag in Österreich aus?

A: Ich besuche Deutschkurse. Ich besuche manchmal Bekannte. Ich besuche auch einen Musikkurs. (Bestätigungen werden vorgelegt).

F: Sind Sie seit Ihrer Einreise nach Österreich einer legalen Beschäftigung nachgegangen?

A: Nein.

F: Von welchen finanziellen Mitteln leben Sie hier in Österreich? Welche Unterstützungen beziehen Sie?

A: Von der Sozialhilfe.

F: Haben Sie in Österreich einen Deutschkurs besucht und können Sie dafür Beweismittel in Vorlage bringen?

A: Ich habe den A2 Kurs abgeschlossen.

F: Haben Sie einen abgeschlossenen Deutschkurs mit mindestens dem Niveau A2? Wie schätzen Sie Ihre Deutschkenntnisse ein?

A: Ja, ich kann mich gut verständigen.

F: Verfügen Sie über einen Schulabschluss, der der allgemeinen Universitätsreife entspricht oder haben Sie einen Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule?

A: Nein.

F: Sind Sie Mitglied in einem Verein oder in einer Organisation?

A: Nein.

F: Haben Sie Freunde oder Bekannte, die Sie bereits aus Ihrem Heimatland her kennen, in Österreich?

A: Nein.

F: Haben Sie nahe Verwandte oder Familienangehörige in Österreich?

A: Ich habe nur weitentfernte Verwandte hier. Nahe Verwandte habe ich nicht. Ich werde auch nicht unterstützt von ihnen.

F: Haben Sie mit diesen Personen jemals in einem gemeinsamen Haushalt belebt und wenn ja, wann, wo und wie lange?

A: Nein.

F: Waren Sie jemals Zeuge oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel?

A: Nein.

F: Wurden Sie in Österreich jemals Opfer von Gewalt und haben Sie sich diesbezüglich an die örtlichen Sicherheitsbehörden bzw. an ein Gericht (§382e EO - Allgemeiner Schutz vor Gewalt) gewandt?

A: Nein.

F: Wie haben Sie von der bevorstehenden Abschiebung erfahren?

A: Ich habe in einem Zimmer bei der Caritas gewohnt. Ich war damals nicht da. Ich war bei Verwandten. Am nächsten Tag hat mir das meine Betreuerin erzählt. Dann gingen wir zur Polizei. Dort wurde mir gesagt, dass man mich abschieben will, deshalb habe ich dann um Asyl angesucht.

F: Sind Sie mit eventuellen amtswegigen Erhebungen vor Ort unter Wahrung ihrer Anonymität, eventuell unter Beiziehung der Österreichischen Botschaft und eines Vertrauensanwaltes einverstanden?

A: Ja, damit bin ich einverstanden.

F: Die Befragung wird hiermit beendet. Wollen Sie zu Ihrem Asylverfahren sonst noch etwas vorbringen, was Ihnen von Bedeutung erscheint?

A: Nein, ich habe alles gesagt. Ich hoffe, dass ich hier bleiben darf.

F: Hatten Sie die Gelegenheit alles zu sagen, was Sie wollten?

A: Ja, das hatte ich. Ich hatte die Gelegenheit, alles vorzubringen, was mir wichtig war.

..."

Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom BFA gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.).

Gem. § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.).

Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde gem. § 18 Abs. 1 Z. 6 BFA-Verfahrensgesetz die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt III.).

Gemäß § 55 Abs. 1a bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt IV.).

Das BFA gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung des Status eines asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht glaubhaft gemacht worden sei.

2. Gegen den genannten Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Im Wesentlichen wurden die seitens der bP im Verfahren angegebenen Fluchtgründe bekräftigt und wurde ausgeführt, dass die Dorfbewohner gegen sie seien und die Polizei nicht eingreife. Sie sei zur Flucht gezwungen gewesen. Das BFA hätte zum Ergebnis gelangen müssen, dass die bP in einer asylrelevanten Weise verfolgt worden sei. Die bP könne im Falle einer Rückkehr nicht mehr zu ihrer Familie zurück. Aufgrund der depressiven Verstimmung der bP wurde die Einholung eines psychologischen Gutachtens beantragt, welches ergeben werde, dass die bP eingeschränkt diskretions- und dispositionsfähig sei. Es hätte festgestellt werden müssen, dass die bP im Falle der Rückkehr in eine ausweglose Lage geraten würde. Es wurde beantragt der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

3. Mit Beschluss des BVwG vom 23.12.2015, GZ: L502 2016334-2/2Z, wurde der Beschwerde gem. § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt, womit die Spruchpunkte III. und IV. erledigt wurden.

4. Mit 20.10.2017 wurde die gegenständliche Rechtssache der GA L510 neu zugewiesen.

5. Am 06.11.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit der bP eine Verhandlung durch. Das BFA blieb entschuldigt fern.

Zugleich mit der Ladung wurden der bP ergänzend Berichte zur aktuellen Lage in der Türkei übermittelt bzw. namhaft gemacht, welche das Verwaltungsgericht in die Entscheidung ergänzend miteinbezieht. Eine Stellungnahmefrist bis 1 Woche vor dem Verhandlungstermin wurde dazu eingeräumt. Eine solche schriftliche Stellungnahme in Bezug auf die Länderfeststellungen wurde nicht abgegeben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1. Zur Person der beschwerdeführenden Partei:

Die Identität der bP steht fest.

Die bP ist Staatsangehörige der Türkei, gehört der Volksgruppe der Kurden an und ist alevitischen Glaubens.

Sie stammt aus einem Dorf in XXXX, etwas mehr als 1 Fahrstunde mit dem PKW von der Stadt entfernt. Das Dorf hat etwa 400 Einwohner. Die bP war dort in der Lage, ihre Existenz zu sichern.

Sie verfügt im Herkunftsstaat noch über ein familiäres bzw. verwandtschaftliches Netz und über Freunde in ihrem Heimatdorf. Die Eltern sind verstorben. Es leben dort noch 5 Schwestern und 2 Brüder. Die bP hat Kontakt zu ihren Geschwistern. Eine Landwirtschaft der Eltern ist noch im Familienbesitz. Die Geschwister sind alle verheiratet. Manche sind in der Landwirtschaft tätig, manche in Restaurants. Eine ältere Schwester hat psychische Probleme, die anderen sind gesund. Gesamt gesehen geht es ihnen gut. Ein Onkel und zwei Tanten leben in einem etwa 1 Stunde mit dem Bus entfernten Dorf. Bei ihrem letzten Aufenthalt lebte die bP von der Landwirtschaft und einer Tätigkeit als Aushilfe in einem Restaurant.

Aktuell liegen keine relevanten behandlungsbedürftigen Krankheiten vor.

Sie ist zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes in Österreich auf staatliche Zuwendungen angewiesen.

1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:

Die von der bP vorgebrachten Fluchtgründe werden den Feststellungen nicht zugrunde gelegt.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat, konkret ihre Herkunftsregion XXXX, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr oder einer realen Gefahr von Leib und Leben ausgesetzt wäre.

1.3. Zur maßgeblichen asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (7.2.2017, letzte Kurzinformationen eingefügt am 26.6.2018)

KI vom 26.6.2018, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen (relevant für Abschnitt: 2. politische Lage)

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Muharrem Ince, erhielt 30.6%. Der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, erhielt 8,4% und die Vorsitzende der neu gegründeten Iyi-Partei, Meral Aksener, erreichte 7,3%. Die übrigen Mitbewerber lagen unter einem Prozent. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Trotz des Verlustes der absoluten Mehrheit errang die AKP durch ein Wahlbündnis unter dem Namen "Volksbündnis" mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die 11,1% und 49 Sitze erreichte, die Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Die religiös-konservative Saadet-Partei, die dritte Partei nebst CHP und MHP im oppositionellen "Bündnis der Nation", erhielt nur 1,3% und blieb ohne Mandat. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018).

Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu seinen Gunsten und der AKP widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt. Während alle Kandidaten eine aufgeladene Rhetorik gegen die Mitbewerber verwendeten, bezeichnete der amtierende Präsident immer wieder andere Kandidaten und Parteien als Unterstützer des Terrorismus. Während der Kampagne kam es zu einer Reihe von Zwischenfällen, die teilweise gewalttätig waren. Eine beträchtliche Anzahl von Übergriffen auf Partei- und Wahlkampfeinrichtungen betraf vor allem die pro-kurdische HDP, aber auch die CHP, Saadet-Partei und die IYI-Partei (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Quellen:

Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 26.6.2018

OSCE/ODIHR - OSCE/ODHIR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018,

https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 26.6.2018.

Sicherheitsbehörden

Die Polizei untersteht dem Innenministerium und übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Sie hat, wie auch der nationale Geheimdienst MIT (Millî Istihbarat Teskilâti), der sowohl für die Inlands- wie für die Auslandsaufklärung zuständig ist, unter der AKP-Regierung an Einfluss gewonnen. Der Einfluss der Polizei wird seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung sukzessive von der AKP zurückgedrängt (massenhafte Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst und Strafverfahren). Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig, rekrutiert sich aus Wehrpflichtigen und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz. Die politische Bedeutung des Militärs ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen (AA 29.9.2015).

Vor dem Putschversuch im Juli 2016 hatte die Türkei 271.564 Polizisten und 166.002 Gendarmerie-Offiziere (einschließlich Wehrpflichtige). Nach dem Putschversuch wurden mehr als 18.000 Polizei- und Gendarmerieoffiziere suspendiert und mehr als 11.500 entlassen, während mehr als 9.000 inhaftiert blieben (EC 9.11.2016). Anfang Jänner 2017 wurden weitere 2.687 Polizisten entlassen (Independent 7.1.2017). Im Gegenzug kündigte Innenminister Süleyman Soylu bereits im September 2016 an, 20.000 neue Polizeibeamte rekrutieren zu wollen, wobei die Hälfte den Sondereinheiten zugeteilt würde (YS 9.9.2016).

Das türkische Parlament billigte 2014 eine umstrittene Geheimdienstreform, die die Befugnisse des Geheimdienstes MIT erheblich ausweitete. So hat der MIT weitgehend freie Hand für Spionageaktivitäten im In- und Ausland. Dazu gehören das Abhören von Privattelefonaten und das Sammeln von geheimdienstlichen Erkenntnissen mit Bezug auf "Terrorismus und internationale Verbrechen". Bislang war für jeden Fall eine gerichtliche Genehmigung erforderlich. Zudem wurden Gefängnisstrafen für Journalisten eingeführt, die vertrauliche Geheimdienstinformationen veröffentlichen (FAZ 17.4.2014). Auch Personen, die dem MIT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu zehn Jahre Haft. Die Entscheidung, ob der MIT-Vorsitzende im Laufe einer Ermittlung angeklagt werden darf, obliegt nun dem Staatspräsidenten. Im Falle von laufenden Untersuchungen kann der MIT-Vorsitzende innerhalb von zehn Tagen beim Präsidenten Einspruch erheben. Die letzte Entscheidung über den weiteren Verlauf des Falles liegt beim Präsidenten (ÖB 7.2014).

Das türkische Parlament verabschiedete am 27.3.2015 eine Änderung des Sicherheitsgesetzes, das terroristische Aktivitäten unterbinden soll. Dadurch wurden der Polizei weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen. Zudem werden die von der Regierung ernannten Provinzgouverneure ermächtigt, den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei Instruktionen zu erteilen (NZZ 27.3.2015, vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Das Gesetz klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen. Die Exekutive kann eine Person bis zu 48 Stunden in Haft nehmen, wenn letztere an Veranstaltungen teilnimmt, die zur ernsthaften Störung der Öffentlichen Ordnung oder zu einem Straftatbestand führen können (Anadolu 27.3.2015).

Nach einer Gesetzesänderung vom 26.4.2014 muss der Staatsanwalt im Fall einer Beschwerde gegen das Geheimdienstpersonal den Geheimdienstchef informieren. Wenn der Geheimdienst die Vorwürfe des Fehlverhaltens mit seinen Pflichten oder Tätigkeiten in Verbindung setzt, wird die Untersuchung blockiert und den betroffenen Mitarbeitern des MIT wird Immunität gewährt. Die Staatsanwaltschaft hat somit keine Befugnis, direkt strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten oder die Tätigkeit des Geheimdienstes im Falle von angeblichen Rechtsverstößen einzuleiten (HRW 29.4.2014).

Ende Juni 2016 wurde ein Gesetz verabschiedet, das kämpfenden Soldaten Immunität gewährt. Gemäß dem vom Verteidigungsministerium vorgelegten Entwurf wird eine von den Sicherheitsdiensten begangene Straftat als "militärisches Verbrechen" angesehen und vor einem Militärgericht verhandelt. Die Ermittlungs- und Gerichtsprozesse gegen Kommandeure und den Generalstab benötigen die Erlaubnis des Premierministers. Darüber hinaus sind Armeekommandanten befugt, Durchsuchungen von Häusern, Arbeitsplätzen oder anderen privaten Räumen zu erlassen (MEE 25.6.2016).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (29.9.2015): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

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Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package,

http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package, Zugriff 19.1.2017

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EC - European Commission (9.11.2016): Turkey 2016 Report [SWD (2016) 366 final],

http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 19.1.2017

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FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (17.4.2014): Türkischer Geheimdienst darf fast ungehindert spionieren, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/parlament-billigt-umstrittene-reform-tuerkischer-geheimdienst-darf-fast-ungehindert-spionieren-12900956.html, Zugriff 19.1.2017

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FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse,

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html, Zugriff 19.1.2017

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HDN - Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338, Zugriff 19.1.2017

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HRW - Human Rights Watch (29.4.2014): Turkey: Spy Agency Law Opens Door to Abuse,

https://www.hrw.org/news/2014/04/29/turkey-spy-agency-law-opens-door-abuse, Zugriff 19.1.2017

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Independent (7.1.2017): Turkey dismisses 6,000 police, civil servants and academics under emergency measures following coup, http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/turkey-sacks-workers-emergency-measures-police-civil-servants-academics-a7514021.html, 19.1.2017

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MEE - Middle East Eye (25.6.2016): Turkey passes law granting immunity to soldiers fighting 'terrorism', http://www.middleeasteye.net/news/turkey-passes-law-granting-immunity-soldiers-fighting-terrorism-551543630, Zugriff 19.1.2017

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712, Zugriff 19.1.2017

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ÖB Ankara (7.2014): Asylländerbericht Türkei

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YS - Yeni Safak (9.9.2016): Turkey to recruit 20,000 new police in the coming period,

http://www.yenisafak.com/en/news/turkey-to-recruit-20000-new-police-in-the-coming-period-2530201, Zugriff 19.1.2017

Dorfschützer

Die Dorfschützer wurden per Gesetz 1985 als temporäre Maßnahme errichtet. Viele schlossen sich den Dorfschützern unter Druck an, insbesondere unter der Drohung ansonsten aus ihren Dörfern delogiert zu werden, andere wiederum, um zu verhindern, dass ihre Kinder von der PKK entführt und rekrutiert werden. Das System von zehntausenden bewaffneten Kurden im Kampf gegen die PKK führte zu Abhängigkeiten und Verbrechen, entfachte Blutrache und Feindschaft in der verarmten Region (AM 26.11.2013). Dorfschützer sind eine Bürgermiliz, jedoch weniger professionell und weniger diszipliniert als andere Sicherheitskräfte. Sie werden vieler Vergehen, wie Entführungen, Folter und Konfiszierung von Eigentum beschuldigt. Die Dorfschützer legen ihre Berichte der Polizei vor. In der Vergangenheit wurden sie für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht und ihre Aktivitäten richteten sich fast ausschließlich auf den Kampf gegen die PKK (US DOS 13.4.2016). Während 2013 angesichts der Friedensgespräche zwischen der Regierung und der PKK eine Diskussion um die Auflösung des Systems der Dorfschützer entbrannte (AM 4.9.2014), verkündete der türkische Innenminister angesichts der Gewalteskalation am 19.9.2015 die Rekrutierung von zusätzlichen 5.000 Dorfschützern (HDN 20.9.2015). Anlässlich eines Treffens zwischen Innenminister Suleyman Soylu und den Chefs der Dorfschützer aus 22 Provinzen wurde im September 2016 die Errichtung einer Abteilung für Dorfschützer im Ministerium und die Bildung von Spezialeinheiten mit schweren Waffen beschlossen. Mit Stand September 2016 waren 47.510 temporäre und 21.800 permanente Dorfschützer vom Staat angestellt. Die Regierung plante die Zahl der temporären Dorfschützer auf 50.000 zu erhöhen. Die PKK jagte von je her die Dorfschützer und töte viele von ihnen (AM 29.9.2016). So wurden am 29.9.2016 drei Dorfschützer in Yüksekova, in der südöstlichen Provinz Hakkari und am 19.10.2016 zwei von ihnen in Lice in der Provinz Diyarbakir getötet (HDN 19.10.2016).

Quellen:

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AM - Al Monitor (26.11.2013): Turkey rethinks state-run Kurdish paramilitary force,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2013/11/turkey-rethinks-kurdish-paramilitary.html, Zugriff 17.1.2017

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AM - Al Monitor (29.9.2016): Why Turkey is boosting its budget for dubious 'village guards',

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/09/turkey-controversial-village-guards.html, Zugriff 17.1.2017

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AM - Al Monitor (5.9.2014): As peace approaches, Turkey's anti-PKK militias may disband,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2014/09/turkey-iraq-peace-process-kurdish-village-guards.html, Zugriff 17.1.2017

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HDN - Hürriyet Daily News (19.10.2016): Two village guards killed in PKK attack in Turkey's southeast, http://www.hurriyetdailynews.com/two-village-guards-killed-in-pkk-attack-in-turkeys-southeast.aspx?pageID=238&nID=105113&NewsCatID=341, Zugriff 17.1.2017

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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