Entscheidungsdatum
23.11.2018Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13Spruch
W253 2141893-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gesetzlich vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft XXXX als Kinder- und Jugendhilfeträger, vertreten durch die Caritas der Diözese XXXX , XXXX , XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.11.2018 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte am 21.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei schiitischer Muslim, gehöre der Volksgruppe der Hazara an, stamme aus der Provinz Daikundi und habe zwei Jahre die Grundschule besucht. Mit neun Jahren seien der Beschwerdeführer, seine Mutter und seine Geschwister in den Iran gereist, wobei seine Mutter und Geschwister nach zweijährigem Aufenthalt wieder nach Afghanistan abgeschoben worden seien. Ehe der Beschwerdeführer abgeschoben werden habe können, sei er vom Iran in die Türkei geflüchtet. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass die Taliban ihn und seine Familie in Afghanistan nicht in Ruhe lassen würden; auch sein Vater sei überfallen und getötet worden. Aus Angst um sein Leben habe er seine Heimat schließlich verlassen.
3. Mit Schreiben vom 02.10.2015 bevollmächtigte der Kinder- und Jugendhilfeträger Land XXXX , vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft XXXX , als Kindesvertretung gemäß § 211 ABGB die Mitarbeiter der Caritas der Diözese XXXX mit der Vertretung des Beschwerdeführers im gegenständlichen Asylverfahren.
4. In seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 04.11.2016 führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen ergänzend aus, er stamme aus dem Dorf XXXX . Er sei an sich gesund, gehe jedoch zu " XXXX ", wo er Gespräche führen könne und beruhigt werde. Der Beschwerdeführer habe seinen Großvater nach seinem Geburtsdatum gefragt und in Erfahrung bringen können, dass er am XXXX geboren worden sei. Er korrigierte das Protokoll der Erstbefragung weiters dahingehend, dass er drei Jahre im Iran die Schule besucht habe; die Dauer seines Aufenthaltes sowie die Abschiebung seiner Eltern aus dem Iran nach Afghanistan würden zudem nicht stimmen. In Afghanistan habe der Beschwerdeführer gemeinsam mit seinen Eltern, seinen zwei Schwestern und zwei Brüdern, seinen Großeltern sowie seinem Onkel väterlicherseits und dessen Familie in einem Lehmhaus gewohnt. Er habe zwei Jahre die Schule besucht, wobei es sich um keine gewöhnliche Schule gehandelt habe; sie seien lediglich unter einem Baum im Schatten unterrichtet worden. Finanziell sei es der Familie des Beschwerdeführers mittelmäßig gegangen. Seine zwei Onkel väterlicherseits hätten gemeinsam mit seinem Vater ein Lebensmittelgeschäft betrieben. Sein Vater sei gestorben, als der Beschwerdeführer noch klein gewesen sei. Seine Mutter lebe mit einem der Brüder sowie einer der Schwestern des Beschwerdeführers im Iran. Der andere Bruder lebe bei den Großeltern in Herat; die andere Schwester sei bereits verheiratet und lebe mit ihrem Mann entweder in Schweden oder in der Schweiz. Zudem habe der Beschwerdeführer drei Tanten väterlicherseits, von denen eine im Iran und zwei in Afghanistan - Herat und XXXX - leben würden. Ein weiterer Onkel des Beschwerdeführers lebe in XXXX , im Iran, wo er als Geldhändler tätig sei. Dieser schicke dem Bruder und den Großeltern des Beschwerdeführers Geld. Kontakt pflege der Beschwerdeführer zu seinem Cousin in Afghanistan, wobei dieser an Festtagen nach Herat gehe, damit der Beschwerdeführer mit seinen Großeltern telefonieren könne. Da sein Onkel das Handy seiner Mutter weggenommen habe, könne der Beschwerdeführer nur mit ihr telefonieren, wenn sie auch im Haus seines Onkels sei. Der Beschwerdeführer habe ungefähr ein oder zwei Jahre in einer Glasereifabrik gearbeitet. Insgesamt sei er ungefähr sechs Jahre im Iran gewesen, ehe er nach Europa ausgereist sei.
In der Heimatprovinz des Beschwerdeführers sei es sehr unsicher geworden. Zu diesem Zeitpunkt sei sein Vater bereits im Iran gewesen. Als die Familie ein Jahr lang nichts von ihm gehört habe, habe der Onkel des Beschwerdeführers versucht ihn im Iran zu finden. Es sei seinem Onkel gelungen, einen der Mörder seines Vaters ausfindig zu machen. Anschließend sei auch der zweite Mörder gefasst worden. Der dritte dürfte das Land mit dem Geld seines Vaters verlassen haben. Seinem Onkel sei erzählt worden, dass die Mörder Gift in das Essen seines Vaters gegeben und ihn daraufhin in die Kanalisation geworfen hätten. Der Onkel des Beschwerdeführers habe dem Beschwerdeführer und seiner Familie angeboten, in den Iran zu kommen; er würde auf sie Acht geben.
Gefragt, warum der Beschwerdeführer den Iran verlassen habe, gab er unter anderem an, dass sein Onkel den Beschwerdeführer und seine Familie geschlagen und beschuldigt habe, Geld gestohlen zu haben. Sein Onkel habe zu ihm gesagt, dass er den Beschwerdeführer umbringen oder ihn irgendwo hinschicken werde. Aus diesem Grund habe der Beschwerdeführer bei seiner Tante väterlicherseits gelebt, wo er tagsüber eingesperrt und nachts gearbeitet habe. Der Beschwerdeführer sei auch von seiner Tante beschuldigt worden, Geld gestohlen zu haben. Sein Onkel habe ihm gesagt, dass der Ruf der Familie des Beschwerdeführers bis nach Afghanistan geschädigt wäre.
Zudem legte der Beschwerdeführer diverse Integrationsbestätigungen vor.
5. Am 14.11.2016 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers ein, in welcher er im Wesentlichen ausführte, er habe Angst vor seiner Tante väterlicherseits in Afghanistan, dass diese ihm bei einer zwangsweisen Rückkehr auch etwas antun bzw. ihn misshandeln könnte. Der Beschwerdeführer wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan insbesondere durch die Zugehörigkeit zur besonders vulnerablen sozialen Gruppe der verlassenen/verwaisten Kinder in Afghanistan als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen. Nach dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 12.09.1996 sei keinesfalls erforderlich, dass eine tatsächliche Verfolgung bereits stattgefunden habe; vielmehr reiche es, dass aufgrund der äußeren Umstände und allenfalls bereits geschehener Ereignisse die Gefahr der Verfolgung gegeben sei. Für den Beschwerdeführer bestehe aufgrund der unwahren Gerüchte seines Onkels und seiner Tante, dass der Beschwerdeführer Geld stehlen würde, und der bereits erfolgten Todesdrohungen durch den Onkel ein reales Risiko von seiner noch in Afghanistan lebenden Tante und deren Familienangehörigen getötet zu werden. Es sei nicht davon auszugehen, dass von den staatlichen Stellen in Afghanistan adäquater Schutz geboten werden könne. Zudem sei der Beschwerdeführer aufgrund der Tatsache, dass er Halbwaise und Hazara sei sowie aus der Provinz Daikundi stamme, bei einer Rückkehr in sein Heimatland der Gefahr ausgesetzt von den Taliban für ihre Zwecke zwangsrekrutiert zu werden. Der Beschwerdeführer verfüge in Afghanistan über kein familiäres Netzwerk, in welches er zurückkehren könnte. Abschließend verwies er in seiner Stellungnahme auf die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan sowie auf Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts.
6. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.). Weiters wurde ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 15.11.2017 erteilt (Spruchpunkt III.).
Der Begründung des im Spruch bezeichneten Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ist im Wesentlichen zu entnehmen, die vom Beschwerdeführer geltend gemachten fluchtbegründenden Umstände seien - unbeachtlich des Wahrheitsgehaltes dieser Aussagen - nicht fähig, eine asylrelevante Bedrohung zu begründen. Es handle sich um eine private Auseinandersetzung, deren Ursache auch nicht im Zusammenhang mit einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention abschließend angeführten Verfolgungsgründe stehe, sondern aus anderen Beweggründen bestehe, im Fall des Beschwerdeführers etwa aufgrund von familiären Schwierigkeiten.
7. Mit Schreiben vom 02.12.2016 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des gegenständlichen Bescheides und machte die Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie die Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend. Er monierte die Feststellungen der belangten Behörde, wonach die Identität des Beschwerdeführers nicht feststehen würde; diese stehe im Widerspruch mit der in der Beschwerde zitierten Judikatur. Weiters sei in Anbetracht des widerspruchsfreien und konsistenten Vorbringens des Beschwerdeführers nicht nachvollziehbar, aufgrund welcher Erwägungen die Behörde zum Schluss komme, dass das gesamte Vorbringen des Beschwerdeführers die für das Asylverfahren nötigen Glaubwürdigkeitskriterien nicht erfüllen würde. Die asylrechtliche Relevanz des Vorbringens des Beschwerdeführers sei nicht deshalb zu verneinen, weil es sich um Übergriffe von Privatpersonen handle. Der Beschwerdeführer könne durch den afghanischen Staat aktuell nicht effektiv und ausreichend geschützt werden. Es sei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein werde, bzw. dass ihm im Falle seiner Rückkehr wegen der Vergeltungsmaßnahmen der Familie seines Onkels mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch deren Angehörige in Form einer Gefährdung an Leib und Leben drohe, er also aus dieser befürchteten Verfolgung einen - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteil zu gewärtigen habe. Darüber hinaus habe das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl das junge Alter des minderjährigen Beschwerdeführers nicht berücksichtigt. Zusätzlich wäre der Beschwerdeführer durch die Zugehörigkeit zur besonders vulnerablen sozialen Gruppe der verlassenen Kinder in Afghanistan als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen. Aufgrund seiner Sprache und seines Auftretens würde der Beschwerdeführer als westlich orientiert und "unafghanisch" eingestuft und verfolgt werden.
8. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 12.12.2016 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
9. Am 07.11.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Beschwerdeführervertreterin verwies unter anderem auf die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen, Opfer von sexuellem Missbrauch zu werden, hin.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Stellungnahme vom 14.11.2016, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1. Feststellungen:
1.1. Zum Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer stellte am 21.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.). Weiters wurde ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 15.11.2017 erteilt (Spruchpunkt III.). Mit Schreiben vom 02.12.2016 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des gegenständlichen Bescheides und machte die Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie die Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend. Am 07.11.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.
1.2. Zum Beschwerdeführer und seinen Fluchtgründen:
Der minderjährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist afghanischer Staatsangehöriger und wurde am XXXX in der Provinz Daikundi, im Dorf XXXX geboren. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an, ist schiitischer Muslim und seine Muttersprache ist Dari, wobei er auch fließend Farsi spricht. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos.
Die Kernfamilie des Beschwerdeführers besteht aus seiner Mutter, seinen zwei Brüdern und seinen zwei Schwestern, von denen eine bereits verheiratet ist und entweder in der Schweiz oder in Schweden lebt. Bis zur Ausreise in den Iran hat der Beschwerdeführer mit seiner Familie und seinen Geschwistern neun Jahre in Daikundi gelebt. Zu dieser Zeit war der Vater des Beschwerdeführers bereits im Iran aufhältig, wo er als Geldhändler tätig war und von unbekannten Personen getötet wurde. Nach seinem Tod ist der Beschwerdeführer mit seiner Mutter sowie seinen Geschwistern auf Wunsch des Onkels väterlicherseits zu diesem in den Iran gereist; der zweite Bruder des Beschwerdeführers ist ungefähr bis Mai 2018 bei den Großeltern in Herat geblieben und anschließend ebenfalls zur Familie in den Iran gereist.
Im Iran hat der Beschwerdeführer insgesamt sechs Jahre gelebt, wovon er drei Jahre die Schule besucht und ein bis zwei Jahre als Glaser gearbeitet hat, ehe er nach Europa ausgereist ist.
Anfänglich war das Verhältnis zwischen dem Onkel und der Familie des Beschwerdeführers gut. In weiterer Folge hat dieser den Beschwerdeführer jedoch beschuldigt, Geld von ihm gestohlen zu haben, weshalb es zu verbalen sowie körperlichen Auseinandersetzungen gekommen ist. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen hat der Onkel den Beschwerdeführer und dessen Familie regelmäßig geschlagen.
Der Beschwerdeführer verfügt in Afghanistan über zwei Tanten väterlicherseits, von denen eine in Herat und die andere in XXXX wohnt, und einen Großvater, welcher ebenfalls in Herat lebt; mit diesem steht der Beschwerdeführer in Kontakt.
Der Beschwerdeführer ist - abgesehen von einer Anpassungs- bzw. posttraumatischen Belastungsstörung - gesund. Seine Verhandlungs- bzw. Vernehmungsfähigkeit war durch das eben genannte Krankheitsbild nicht beeinträchtigt. Er ist mit der afghanischen Tradition und Lebensweise vertraut. Er verfügt über einen deutlichen Bartwuchs und hat außer seiner westlichen Kleidung keine westlichen Werte übernommen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer einer konkreten Verfolgung oder Bedrohung aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu befürchten hätte. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Gefahr laufe durch seine Tante in Afghanistan bzw. einen Auftragsmörder[l1] wegen der Streitigkeiten mit seinem Onkel verfolgt zu werden.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Zur Situation im Herkunftsstaat:
Das Bundesverwaltungsgericht trifft aufgrund der im Beschwerdeverfahren eingebrachten aktuellen Erkenntnisquellen folgende entscheidungsrelevante Feststellungen:
1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29.06.2018, letzte Kurzinformation vom 11.09.2018 (in Folge kurz "LIB"):
1.3.1.1. Zur Sicherheitslage in Afghanistan im Allgemeinen:
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (LIB S. 27). Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB S. 31).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert; auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen. Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (LIB S. 31).
Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben. Dies deutet auf einen Rückgang von drei Prozent im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nichtziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (LIB S. 37 f).
Im Jänner 2018 waren 56,3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14,5% der Distrikte kontrollierten bzw unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29,2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw dem Einfluss der afghanischen Regierung (LIB S. 38).
Im Jahr 2017 wurden den Taliban insgesamt 4.385 zivile Opfer (1.574 Tote und 2.811 Verletzte) zugeschrieben. Die Taliban bekannten sich nur zu 1.166 zivilen Opfern. Im Vergleich zum Vorjahreswert bedeutet dies einen Rückgang um 12% bei der Anzahl ziviler Opfer, die den Taliban zugeschrieben werden. Im Jahr 2017 haben sich die Taliban zu 67 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen bekannt; dies führte zu 214 zivilen Opfern (113 Toten und 101 Verletzten). Auch wenn sich die Taliban insgesamt zu weniger Angriffen gegen Zivilist/innen bekannten, so haben sie dennoch die Angriffe gegen zivile Regierungsmitarbeiter/innen erhöht - es entspricht der Linie der Taliban, Regierungsinstitutionen anzugreifen (LIB S. 41).
Die Fähigkeiten und der Einfluss des IS sind seit seiner Erscheinung im Jahr 2015 zurückgegangen. Operationen durch die ANDSF und die US-Amerikaner, Druck durch die Taliban und Schwierigkeiten die Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu gewinnen, störten das Wachstum des IS und verringerten dessen Operationskapazitäten. Trotz erheblicher Verluste von Territorium, Kämpfern und hochrangigen Führern, bleibt der IS nach wie vor eine Gefährdung für die Sicherheit in Afghanistan und in der Region. Er ist dazu in der Lage, öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen (HPA) in städtischen Zentren zu verüben. Der IS hat sich nämlich in den vergangenen Monaten zu einer Anzahl tödlicher Angriffe in unterschiedlichen Teilen des Landes bekannt - inklusive der Hauptstadt. Dies schürte die Angst, der IS könne an Kraft gewinnen. Auch haben örtliche IS-Gruppen die Verantwortung für Angriffe auf Schiiten im ganzen Land übernommen (LIB S. 42).
Die afghanischen Sicherheitskräfte haben ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die Afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (LIB S. 30).
1.3.1.2. Neuste Ereignisse:
Am 11.09.2018 kamen nach einem Selbstmordanschlag während einer Demonstration im Distrikt Mohamad Dara der Provinz Nangarhar mindestens acht Menschen ums Leben und weitere 35 wurden verletzt. Kurz zuvor wurde am Vormittag des 11.09.2018 ein Anschlag mit zwei Bomben vor der Mädchenschule "Malika Omaira" in Jalalabad verübt, bei dem ein Schüler einer nahegelegenen Jungenschule ums Leben kam und weitere vier Schüler verletzt wurden, statt. Davor gab es vor der Mädchenschule "Biba Hawa" im naheliegenden Distrikt Behsud eine weitere Explosion, die keine Opfer forderte, weil die Schülerinnen noch nicht zum Unterricht erschienen waren. Weder die Taliban noch der IS/ISKP bekannten sich zu den Anschlägen, obwohl beide Gruppierungen in der Provinz Nangarhar aktiv sind (LIB S. 12).
Am Montag, dem 10.09.2018, eroberten die Taliban die Hauptstadt des Kham Aab Distrikts in der Provinz Jawzjan nachdem es zu schweren Zusammenstößen zwischen den Taliban und den afghanischen Sicherheitskräften gekommen war. Sowohl die afghanischen Streitkräfte als auch die Taliban erlitten Verluste (LIB S. 12).
Am Sonntag, dem 09.09.2018, starteten die Taliban eine Offensive zur Eroberung der Hauptstadt der Provinz Sar-i Pul, wo nach wie vor ua mit Einsatz der Luftwaffe gekämpft wird. Quellen zufolge haben die Taliban das Gebiet Balghali im Zentrum der Provinzhauptstadt eingenommen und unter ihre Kontrolle gebracht. Sar-i-Pul-Stadt gehört zu den zehn Provinzhauptstädten, die Quellen zufolge das höchste Risiko tragen, von den Taliban eingenommen zu werden. Dazu zählen auch Farah-Stadt, Faizabad in Badakhshan, Ghazni-Stadt, Tarinkot in Uruzgan, Kunduz-Stadt, Maimana in Faryab und Pul-i-Khumri in Baghlan. Weiteren Quellen zufolge sind auch die Städte Lashkar Gar in Helmand und Gardez in Paktia von einer Kontrollübernahme durch die Taliban bedroht (LIB S. 12).
Bei einem Selbstmordanschlag im Kabuler Stadtteil Taimani kamen am 09.09.2018 mindestens sieben Menschen ums Leben und ungefähr 24 weitere wurden verletzt. Der Anschlag, zu dem sich der Islamische Staat (IS/ISKP) bekannte, fand während eines Festzugs zu Ehren des verstorbenen Mudschahedin-Kämpfers Ahmad Shah Massoud statt (LIB S. 13).
Am Mittwoch, dem 05.09.2018, kamen bei einem Doppelanschlag auf einen Wrestling-Klub im Kabuler Distrikt Dasht-e Barchi mindestens 20 Personen ums Leben und ungefähr 70 weitere wurden verletzt. Zuerst sprengte sich innerhalb des Sportvereins ein Attentäter in die Luft, kurz darauf explodierte eine Autobombe in der sich vor dem Klub versammelnden Menge. Der Islamische Staat (IS/ISKP) bekannte sich zum Anschlag (LIB S. 13).
Am 20.08.2018 entführten die Taliban 170 Passagiere dreier Busse, die über die Takhar-Kunduz-Autobahn auf der Reise nach Kabul waren. Es wurden insgesamt 149 Personen freigelassen, während sich die restlichen 21 weiterhin in der Gewalt der Taliban befinden. Grund für die Entführung war die Suche nach Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte bzw Beamten. Die Entführung erfolgte nach dem von Präsident Ashraf Ghani angekündigten Waffenstillstand, der vom 20.08.2018 bis 19.11.2018 gehen sollte und jedoch von den Taliban zurückgewiesen wurde (LIB S. 15).
Ein Selbstmordattentäter sprengte sich am Nachmittag des 15.08.2018 in einem privaten Bildungszentrum im Kabuler Distrikt Dasht-e Barchi, dessen Bewohner mehrheitlich Schiiten sind, in die Luft. Die Detonation hatte 34 Tote und 56 Verletzte zur Folge. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Vorfall (LIB S 15). Am selben Tag verübten die Taliban einen Angriff auf einen Militärposten in der nördlichen Provinz Baghlan, wobei ca 40 Sicherheitskräfte getötet wurden (LIB S. 16).
Auch im Distrikt Ghormach der Provinz Faryab wurde gekämpft: Die Taliban griffen zwischen 12.08.2018 und 13.08.2018 einen Stützpunkt des afghanischen Militärs, bekannt als Camp Chinaya, an und töteten ca 17 Mitglieder der Sicherheitskräfte (LIB S. 16).
Am 03.08.2018 kamen bei einem Selbstmordanschlag innerhalb der schiitischen Moschee Khawaja Hassan in Gardez-Stadt in der Provinz Paktia, 39 Personen ums Leben und weitere 80 wurden verletzt. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Anschlag (LIB S. 16).
Am 22.07.2018 fand ein Selbstmordanschlag vor dem Haupteingangstor des Kabuler Flughafens statt. Es kamen ca 23 Personen ums Leben und 107 wurden verletzt. Der Islamische Staat (IS) reklamierte den Anschlag für sich (LIB S. 16).
1.3.1.3. Zur Sicherheitslage in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers, Daikundi:
Die Provinz Daikundi ist seit dem Jahr 2014 autonom;davor war sie ein Distrikt der Provinz Uruzgan. Daikundi liegt 460 km vom Westen Kabuls entfernt und grenzt an die Provinzen Uruzgan im Südwesten, Bamyan im Osten, Ghor im Norden, Ghazni im Süden und Helmand im Nordosten. Mit 86% der Bevölkerung bestehend aus Hazara gilt die Provinz Daikundi als die zweitgrößte Region, in der Mitglieder dieser ethnischen Gruppe leben. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 475.848 geschätzt. Daikundi ist eine gebirgige Provinz mit kleinen Dörfern, die über unasphaltierte Straßen verbunden werden. In den letzten 17 Jahren wurden Quellen zufolge in der Provinz nur zehn Kilometer an Straßen gebaut. Dennoch sind laut Regierung Projekte für die Implementierung des Straßenbaus im Gange. Bis September 2017 war Daikundi die einzige Provinz im Land, die eine Frau als Gouverneurin vorweisen konnte; Ende September 2017 wurde Masooma Muradi dann von einem Mann ersetzt (LIB S. 78).
Einer Quelle zufolge ist Daikundi eine sichere Provinz. Im September wurde von einer Zunahme afghanischer Binnenvertriebener (IDP) berichtet, die in Daikundi Zuflucht gesucht hatten. Im Zeitraum 01.01.2017 - 30.04.2018 wurden in der Provinz drei sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 43 zivile Opfer (16 getötete Zivilisten und 27 Verletzte) registriert (LIB S. 79).
Hauptursache waren Blindgänger/Landminen, gefolgt von Bodenoffensiven und gezielten Tötungen. Dies bedeutet einen Rückgang von 59 % im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Eine weitere Quelle berichtete allerdings von keinen Opfern im Jahr 2017 in der Provinz Daikundi. Im März 2017 wurden in Daikundi 31 Aufständische durch die ANSF getötet. In den letzten 17 Jahren sind in Daikundi keine ausländischen Streitkräfte ums Leben gekommen. Ende Dezember 2017 wurde Daikundi einer Quelle zufolge als ruhige Provinz beschrieben (LIB S. 79).
Daikundi zählt zu den Provinzen, in denen die Anzahl der Taliban gering ist. Der Zusammenhalt zwischen den Bewohnern ethnisch homogenerer Gesellschaften wie in Panjsher, Bamyan und Daikundi wird als Grund für die geringe Anzahl an Anschlägen betrachtet: Da die Bewohner dieser Provinzen mehrheitlich einer Ethnie zugehören, würden diese keine aufständischen Aktivitäten erlauben. Des Weiteren wurde für den Zeitraum 01.01.2017 - 31.01.2018 keine IS-bezogenen Sicherheitsvorfälle in der Provinz Daikundi gemeldet (LIB S. 80).
1.3.1.4. Zur Lage der Hazara:
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung aus. Sie besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden (LIB S. 284).
Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich gebessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert. So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist (LIB S. 285).
Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit einem Anteil von etwa 10 % in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (LIB S. 286).
Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen (LIB S. 285 f).
1.3.1.5. Zur Lage von Schiiten in Afghanistan:
Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15 % geschätzt. Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara. Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan leben einige schiitische Belutschen. Afghanische Schiiten und Hazara neigen dazu, weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein als ihre Glaubensbrüder im Iran (LIB S. 275).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitischen Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demographischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiere; auch vernachlässige die Regierung in mehrheitlich schiitischen Gebieten die Sicherheit. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen (LIB S. 275).
Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen ua der Taliban und des IS (LIB S. 276).
1.3.1.6. Binnenflüchtlinge (IDPs) und Flüchtlinge:
Wegen des Konflikts wurden im Jahr 2017 insgesamt 475.433 Menschen in Afghanistan neu zu Binnenvertriebenen (IDPs). Im Zeitraum 2012 bis 2017 wurden insgesamt 1.728.157 Menschen im Land zu Binnenvertriebenen. Zwischen 01.01.2018 und 15.05.2018 wurden 101.000 IDPs registriert. 23 % davon sind erwachsene Männer, 21 % erwachsene Frauen und 55 % minderjährige Kinder (LIB S. 317).
Vertriebene Bevölkerungsgruppen befinden sich häufig in schwer zugänglichen und unsicheren Gebieten, was die afghanischen Regierungsbehörden und Hilfsorganisationen bei der Beurteilung der Lage bzw bei Hilfeleistungen behindert. Ungefähr 30 % der 2018 vertriebenen Personen waren mit Stand 21.03.2018 in schwer zugänglichen Gebieten angesiedelt (LIB S. 317). Mit Stand Dezember 2017 lebten 54 % der Binnenvertriebenen in den afghanischen Provinzhauptstädten. Dies führte zu weiterem Druck auf die bereits überlasteten Dienstleistungen sowie die Infrastruktur sowie zu einem zunehmenden Kampf um die Ressourcen zwischen den Neuankömmlingen und der einheimischen Bevölkerung (LIB S. 318).
Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Die Unterstützungsfähigkeit der afghanischen Regierung gegenüber vulnerablen Personen - inklusive Rückkehrern aus Pakistan und Iran - ist beschränkt und auf Hilfe durch die internationale Gemeinschaft angewiesen. Die Regierung hat einen Exekutivausschuss für Vertriebene und Rückkehrer sowie einen politischen Rahmen und einen Aktionsplan eingerichtet, um die erfolgreiche Integration von Rückkehrern und Binnenvertriebenen zu fördern. Im Rahmen der humanitären Hilfe wurden IDPs je nach Region und klimatischen Bedingungen unterschiedlich unterstützt, darunter Nahrungspakete, Non-Food-Items (NFI), grundlegende Gesundheitsdienstleistungen, Hygienekits usw (LIB S. 318 f).
1.3.1.7. Grundversorgung und Wirtschaft:
Im Jahr 2015 belegte Afghanistan auf dem Human Development Index (HDI) Rang 169 von 188. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut weiterhin zu. Die Verbraucherpreisinflation bleibt mäßig und wurde für 2018 mit durchschnittlich sechs Prozent prognostiziert. Der wirtschaftliche Aufschwung erfolgt langsam, da die andauernde Unsicherheit die privaten Investitionen und die Verbrauchernachfrage einschränkt. Während der Agrarsektor wegen der ungünstigen klimatischen Bedingungen im Jahr 2017 nur einen Anstieg von ungefähr 1,4 % aufwies, wuchsen der Dienstleistungs- und Industriesektor um 3,4 bzw 1,8 %. Das Handelsbilanzdefizit stieg im ersten Halbjahr 2017, da die Exporte um 3 % zurückgingen und die Importe um 8 % stiegen (LIB S. 321).
1.3.1.8. Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit:
In den Jahren 2016 bis 2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013 bis 2014 bei 22,6 % gelegen hatte, um 1 %. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Über 40 % der erwerbstätigen Bevölkerung gelten als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Seit 2001 wurden zwar viele neue Arbeitsplätze geschaffen, jedoch sind diese landesweit ungleich verteilt und 80 % davon sind unsichere Stellen (Tagelöhner) (LIB S. 321 f).
1.3.1.9. Projekte der afghanischen Regierung:
Im Laufe des Jahres 2017 hat die afghanische Regierung weiterhin Anstrengungen unternommen, um die Rechenschaftspflicht bei der Umsetzung ihrer Entwicklungsprioritäten durch die hohen Entwicklungsräte zu fördern. Darunter fällt ua der fünfjährige (2017 bis 2020) Nationale Rahmen für Frieden und Entwicklung in Afghanistan (The Afghanistan National Peace and Development Framework, ANPDF) zur Erreichung der Selbständigkeit. Ziele dieses strategischen Plans sind ua der Aufbau von Institutionen, die Förderung von privaten Investitionen, Wirtschaftswachstum, die Korruptionsbekämpfung, Personalentwicklung usw. Im Rahmen der Umsetzung dieses Projekts hat die Regierung die zehn prioritären nationalen Programme mithilfe der Beratung durch die hohen Entwicklungsräte weiterentwickelt. Die Implementierung zweier dieser Projekte, des "Citizens' Charter National Priority Program" und des "Women's Economic Empowerment National Priority Program" ist vorangekommen. Die restlichen acht befinden sich in verschiedenen Entwicklungsstadien. Das "Citizens' Charter National Priority Program" zB hat die Armutsreduktion und die Erhöhung des Lebensstandards zum Ziel, indem die Kerninfrastruktur und soziale Dienstleistungen der betroffenen Gemeinschaften verbessert werden sollen (LIB S. 322).
Die afghanische Regierung hat Bemühungen zur Armutsreduktion gesetzt und unterstützt den Privatsektor weiterhin dabei, nachhaltige Jobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Die Ausstellung von Gewerbeberechtigungen soll gesteigert, steuerliche Sanktionen abgeschafft und öffentlich-private Partnerschaften entwickelt werden; weitere Initiativen sind geplant (LIB S. 323).
1.3.1.10. Medizinische Versorgung:
Gemäß Artikel 52 der afghanischen Verfassung muss der Staat allen Bürgern kostenfreie primäre Gesundheitsversorgung in öffentlichen Einrichtungen gewährleisten; gleichzeitig sind im Grundgesetz die Förderung und der Schutz privater Gesundheitseinrichtungen vorgesehen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal (va Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Berichten zufolge haben rund zehn Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Behandlung stark einkommensabhängig. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung (LIB S. 325).
In den letzten zehn Jahren hat die Flächendeckung der primären Gesundheitsversorgung in Afghanistan stetig zugenommen. Das afghanische Gesundheitssystem hat in dieser Zeit ansehnliche Fortschritte gemacht. Gründe dafür waren ua eine solide öffentliche Gesundheitspolitik, innovative Servicebereitstellung, Entwicklungshilfen usw. Einer Umfrage der Asia Foundation zufolge hat sich 2017 die Qualität der afghanischen Ernährung sowie der Gesundheitszustand in den afghanischen Familien im Vergleich zu 2016 gebessert (LIB S. 325).
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Strategieplan für den Gesundheitssektor (2011 bis 2015) und eine nationale Gesundheitspolicy (2012 bis 2020) entwickelt, um dem Großteil der afghanischen Bevölkerung die grundlegende Gesundheitsversorgung zu garantieren (LIB S. 326).
Trotz signifikanter Verbesserungen im Bereich des Deckungsgrades und der Qualität der Gesundheitsversorgung wie auch einer Reduzierung der Sterberate von Müttern, Säuglingen und Kindern unter fünf Jahren liegen die afghanischen Gesundheitsindikatoren weiterhin unter dem Durchschnitt der einkommensschwachen Länder. Des Weiteren hat Afghanistan eine der höchsten Unterernährungsraten der Welt. Etwa 41 % der Kinder unter fünf Jahren leiden unter chronischer Unterernährung. Sowohl Frauen als auch Kinder leiden an Vitamin- und Mineralstoffmangel. In den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen: Während die Müttersterblichkeit früher bei 1.600 Todesfällen pro 100.000 Geburten lag, belief sie sich im Jahr 2015 auf 324 Todesfälle pro 100.000 Geburten. Allerdings wird von einer deutlich höheren Dunkelziffer berichtet. Bei Säuglingen liegt die Sterblichkeitsrate mittlerweile bei 45 Kindern pro 100.000 Geburten und bei Kindern unter fünf Jahren sank die Rate im Zeitraum 1990 bis 2016 von 177 auf 55 Sterbefälle pro 1.000 Kindern. Trotz der Fortschritte sind diese Zahlen weiterhin kritisch und liegen deutlich über dem regionalen Durchschnitt. Weltweit sind Afghanistan und Pakistan die einzigen Länder, die im Jahr 2017 Poliomyelitis-Fälle zu verzeichnen hatten; nichtsdestotrotz ist deren Anzahl bedeutend gesunken. Impfärzte können Impfkampagnen sogar in Gegenden umsetzen, die von den Taliban kontrolliert werden. In jenen neun Provinzen, in denen UNICEF aktiv ist, sind jährlich vier Polio-Impfkampagnen angesetzt. In besonders von Polio gefährdeten Provinzen wie Kunduz, Faryab und Baghlan wurden zusätzliche Kampagnen durchgeführt (LIB S. 326).
1.3.1.11. Krankenkassen und Gesundheitsversicherung:
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) bietet zwei Grundversorgungsmöglichkeiten an: das "Essential Package of Health Services" (EPHS) und das "Basic Package of Health Services" (BPHS), die im Jahr 2003 eingerichtet wurden. Beide Programme sollen standardisierte Behandlungsmöglichkeiten in gesundheitlichen Einrichtungen und Krankenhäusern garantieren. Die im BPHS vorgesehenen Gesundheitsdienstleistungen und einige medizinische Versorgungsmöglichkeiten des EPHS sind kostenfrei. Jedoch zahlen Afghanen und Afghaninnen oft aus eigener Tasche, weil sie private medizinische Versorgungsmöglichkeiten bevorzugen, oder weil die öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen die Kosten nicht ausreichend decken. Es gibt keine staatliche Unterstützung für den Erwerb von Medikamenten. Die Kosten dafür müssen von den Patienten getragen werden. Nur privat versicherten Patienten können die Medikamentenkosten zurückerstattet werden (LIB S. 326 f).
Medizinische Versorgung wird in Afghanistan auf drei Ebenen gewährleistet: Gesundheitsposten (HP) und Gesundheitsarbeiter (CHWs) bieten ihre Dienste auf Gemeinde- oder Dorfebene an; Grundversorgungszentren (BHCs), allgemeine Gesundheitszentren (CHCs) und Bezirkskrankenhäuser operieren in den größeren Dörfern und Gemeinschaften der Distrikte. Die dritte Ebene der medizinischen Versorgung wird von Provinz- und Regionalkrankenhäusern getragen. In urbanen Gegenden bieten städtische Kliniken, Krankenhäuser und Sonderkrankenanstalten jene Dienstleistungen an, die HPs, BHCs und CHCs in ländlichen Gebieten erbringen. 90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden dennoch nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB S. 327).
1.3.1.12. Waisenhäuser:
Die Lebensbedingungen für Kinder in Waisenhäusern sind schlecht. Berichten zufolge sind 80% der Kinder zwischen vier und 18 Jahren in den Waisenhäusern keine Waisenkinder, sondern stammen aus Familien, die nicht die Möglichkeit haben, für Nahrung, Unterkunft und Schulbildung zu sorgen. Quellen zufolge werden Kinder in Waisenhäusern mental, physisch und sexuell misshandelt; auch sind sie manchmal Menschenhandel ausgesetzt. Der Zugang zu fließendem Wasser, Heizung, Sanitäranlagen, Gesundheitsversorgung, Freizeiteinrichtungen und Bildung wird nicht regelmäßig gewährleistet (LIB S. 310 f).
1.3.1.13. Bacha Bazi:
Bacha Bazi, auch Tanzjungen genannt, sind Buben oder transsexuelle Kinder, die sexuellem Missbrauch und/oder dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind. In weiten Teilen Afghanistans, vor allem in den Rängen von Armee und Polizei, ist der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen nach wie vor ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird nicht selten unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein. Mit Inkrafttreten des neuen afghanischen Strafgesetzbuches im Jahr 2018, wurde die Praxis des Bacha Bazi kriminalisiert. Den Tätern drohen bis zu sieben Jahre Haft. Jene, die mehrere Buben unter zwölf Jahren halten, müssen mit lebenslanger Haft rechnen. Das neue afghanische Strafgesetzbuch kriminalisiert nicht nur die Praxis von Bacha Bazi, sondern auch die Teilnahme an solchen Tanzveranstaltungen. Der Artikel 660 des fünften Kapitels beschreibt, dass Beamte der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF), die in die Praxis von Bacha Bazi involviert sind, mit durchschnittlich bis zu fünf Jahren Haft rechnen müssen. Üblicherweise sind die Jungen zwischen zehn und 18 Jahre alt; viele von ihnen werden weggeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartes haben. Viele der Jungen wurden entführt, manchmal werden sie auch von ihren Familien aufgrund von Armut an die Täter verkauft. Manchmal sind die Betroffenen Waisenkinder und in manchen Fällen entschließen sich Jungen, Bacha Bazi zu werden, um ihre Familien zu versorgen. Die Jungen und ihre Familien werden oft von ihrer sozialen Umgebung verstoßen; eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt (LIB S. 308).[l2][b3][b4]
1.3.1.14. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge:
Mit dem Begriff "unbegleitete Minderjährige" werden Personen bezeichnet, die unter 18 Jahre alt sind bzw. das nationale Volljährigkeitsalter nicht erreicht haben und getrennt von ihren Eltern bzw. ohne die Obhut eines Vormundes leben. Ca. 58% der nach Afghanistan zurückkehrenden Jugendlichen sind minderjährig. Besonders gefährdet sind aus dem Iran kommende unbegleitete Minderjährige, deren Anzahl im Jahr 2017 auf ca. 2.000 geschätzt wurde. Schätzungen zufolge waren ungefähr 15% der aus dem Iran zurückgeführten Afghanen zum Zeitpunkt ihre Rückkehr zwischen 15 und 17 Jahre alt, dennoch gab es auch einige Zehnjährige darunter. Die Rückkehr ist oft nicht freiwillig und zahlreiche Heimkehrer sind unbegleitete Buben, die willkürlichen Festnahmen und Misshandlungen ausgesetzt sind. Unbegleitete Minderjährige, die im Iran oder anderswo aufgewachsen sind, sind bei Rückführungen besonders gefährdet, da sie nie in Afghanistan gelebt haben. Schätzung von IOM zufolge ist die Anzahl der nach Afghanistan zurückkehrenden unbegleiteten Minderjährigen von 2.110 im Jahr 2015 auf 4.419 im Jahr 2017 gestiegen. Einer Aussage des Direktors der Afghanistan Migrants Advice and Support Organisation aus dem Jahr 2015 zufolge gibt es in Afghanistan keine auf UMF spezialisierten Reintegrationsprogramme. Wegen der hohen Zahl an Rückkehrern und Rückkehrerinnen beschränken sich die Regierungs- und Nichtregierungsinstitutionen auf die Bereitstellung von Grundversorgungsdiensten wie Unterkunft, Essen und Transport. Unbegleitete Minderjährige werden durch Vormundschaftsvereinbarungen von IOM versorgt (LIB S. 343).
Quellen zufolge entscheidet meist der weitere Familienkreis, ein minderjähriges Familienmitglied nach Europa zu schicken. Ohne familiäre Unterstützung wäre es dem Minderjährigen meistens gar nicht möglich, die Reise nach Europa anzutreten; dies ist eine wichtige Netzwerkentscheidung, die u.a. die Finanzen der Familie belastet. Jedoch gibt es auch Fälle, in denen der Minderjährige unabhängig von seiner Familie beschließt, das Land zu verlassen und nach Europa zu reisen. Meist sind dies junge Leute aus gebildeten, wohlhabenden Familien. Dies wird oft durch den Kontakt zu Freunden und Bekannten im Ausland, die über soziale Medien ein idealisiertes Bild der Lebensbedingungen in Europa vermitteln, gefördert. Eine größere Anzahl an unbegleiteten Minderjährigen ist auf der Suche nach Arbeit in den Iran, nach Pakistan, Europa und in urbane Zentren innerhalb Afghanistans migriert; viele von ihnen nutzten dafür Schlepperdienste (LIB S. 344).
1.3.1.15. Meldewesen:
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig "gelbe Seiten" oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Dennoch gibt es Mittel und Wege, um Familienmitglieder ausfindig zu machen. Das Dorf, aus dem jemand stammt, ist der naheliegende Ort, um eine Suche zu starten. Die lokalen Gemeinschaften verfügen über zahlreiche Informationen über die Familien in dem Gebiet und die Ältesten haben einen guten Überblick (LIB S. 314 f).
1.3.2. Auszug aus der ACCORD-Anfragebeantwortung a-9737-V2 vom 02.09.2016 zur Lage der Hazara in Afghanistan:
"[...]
Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) bemerkt in ihrem im Februar 2016 erschienenen Jahresbericht zum Jahr 2015, dass sie während des Jahres 2015 einen starken Anstieg bei Entführungen und Tötungen von Hazara-ZivilistInnen durch regierungsfeindliche Kräfte verzeichnet habe. So hätten regierungsfeindliche Kräfte zwischen 1. Jänner und 31. Dezember 2015 mindestens 146 Mitglieder der Hazara-Gemeinde bei insgesamt 20 verschiedenen Vorfällen getötet. Mit Ausnahme eines einzigen Vorfalls hätten sich alle in ethnisch gemischten Gebieten ereignet, die sowohl von Hazara als auch von Nicht-Hazara-Gemeinden besiedelt seien, und zwar in den Provinzen Ghazni, Balch, Sari Pul, Faryab, Uruzgan, Baghlan, Wardak, Jowzjan und Ghor. UNAMA habe die Freilassung von 118 der 146 entführten Hazara bestätigen können.
13 entführte Hazara seien von regierungsfeindlichen Kräften getötet worden, während zwei weitere in Geiselhaft verstorben seien. UNAMA habe den Verbleib der übrigen Geiseln nicht eruieren können. Die Motive für die Entführungen seien unter anderem Lösegelderpressung, Gefangenenaustausche, Verdacht der Mitgliedschaft bei den Afghanischen Nationalen Sicherheitskräften (ANSF) und Nichtbezahlung illegaler Steuern gewesen. In manchen Fällen seien die zugrundeliegenden Motive unbekannt gewesen. [...]
In einem Statement vom Juni 2016 äußert sich die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) besorgt über den Anstieg von Entführungen, Geiselnahmen sowie summarischen Hinrichtungen und berichtet von einer bewaffneten Entführung von 25 ZivilistInnen, bei denen es sich Berichten zufolge allesamt um Hazara gehandelt habe. Die Entführten seien in zwei Fahrzeugen im Bezirk Balkh Ab, der nördlichen Provinz Saripul (Sar-e-Pul), unterwegs gewesen. Während vier Frauen und ein älterer Herr wieder freigelassen worden seien, sei der Verbleib der 20 anderen nicht bekannt. [...]
Grundsätzlich seien homogene Gebiete, in denen hauptsächlich Hazara wohnen würden, sicher, die Provinzen Bamiyan und Daikondi seien Großteils sicher. Es gebe instabile Gebiete im nördlichen Teil Bamiyans, der an Regionen grenze, in denen es Aktivitäten aufständischer Kämpfer gebe. Die Provinz Daikondi sei auch zu großen Teilen sicher, mit Ausnahme der Gebiete, die an die Provinz Urusgan grenzen würden, wo es Aktivitäten aufständischer Kämpfer gebe. Nötige Reisen aus diesen sicheren Gebieten und Provinzen nach Kabul oder Kandahar seien aber extrem heimtückisch. In der Provinz Wardak gebe es zwei Distrikte mit Hazara-Mehrheiten namens Behsud, die zu großen Teilen sicher seien, außer wenn jährlich Konflikte mit paschtunischen Kuchi-Nomaden, die in die Region ziehen würden, aufgrund von Landstreitigkeiten ausbrechen würden. [...]
Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), beschreibt in seinem Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan vom Jänner 2016, ebenfalls von einer "Todesstraße", die durch Wardak nach Bamyan führe. Straßensicherheit habe sich nicht verbessert. Aufgrund verstärkter Kontrolle ländlicher Gebiete durch die Taliban seien die Straßen unsicherer geworden und manche Distrikte seien von den Städten abgeschnitten.
[...]
Insbesondere seit 2007 hat sich der saisonale Konflikt, der in den vergangenen Jahren (mit Ausnahme des Jahres 2009) jährlich im Frühjahr und Sommer zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kuchi-Nomaden und sesshaften Hazara führte, zunehmend verschärft. Zum einen handelt es sich bei dem Konflikt um einen Ressourcenkonflikt, denn im Zentrum der Auseinandersetzungen stehen die konkurrierenden Ansprüche auf das Weideland, vor allem in den Provinzen Wardak und Ghazni. Der Zugang zu diesen ländlichen Gebieten ist vor dem Hintergrund der schwachen sozio-ökonomischen Positionen beider Gruppen und der damit einhergehenden größeren Verwundbarkeit gegenüber externen Schocks von enormer Bedeutung. Während die Kuchi das Land als Weideland für ihre Herden benötigen, sind die Hazara zur Sicherung ihrer Lebensgrundlage auf die Kultivierung dieser Flächen angewiesen. Zum anderen bildet neben dem Konfliktgegenstand ‚Ressourcen' die subnationale Vorherrschaft, d.h. die de-facto Kontrolle einer Bevölkerung über ein Gebiet, den zweiten Konfliktgegenstand, der durch die beteiligten Konfliktakteure angestrebt wird. [...]"
1.3.3. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018:
"Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext der Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung:
Berichten zufolge werden Fälle der Zwangsrekrutierung von Kindern zu einem großen Teil unzureichend erfasst. Jedoch geht aus Berichten hervor, dass die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern durch alle Konfliktparteien für Unterstützungs- und Kampfhandlungen im ganzen Land beobachtet werden.
a) Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs)
Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, Berichten zufolge verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden.
Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, so wird berichtet, weiterhin Kinder, um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen zu verwenden, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln sowie als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung.
b) Zwangsrekrutierung und Rekrutierung Minderjähriger durch regierungsnahe Kräfte
Trotz der Bemühungen der Regierung, die Rekrutierung Minderjähriger zu unterbinden, werden Kinder Berichten zufolge weiterhin durch die ANDSF, vor allem die ANP und die ALP, sowie durch regierungsnahe Milizen für militärische Zwecke angeworben. Im Januar 2011 unterzeichneten die Vereinten Nationen und die Regierung einen Aktionsplan für die Verhinderung der Rekrutierung Minderjähriger. Im Juli 2014 legte die Regierung ein Konzept für die Umsetzung des Aktionsplans fest. Im Februar 2015 stimmte Präsident Ghani einem von Parlament und Senat 2014 beschlossenen Gesetz zu, das die Rekrutierung Minderjähriger durch die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) unter Strafe stellt. Das neue Strafgesetzbuch, das am 15. Februar 2018 in Kraft trat, enthält Bestimmungen, die die Rekrutierung und die Verwendung von Kindern durch die Streitkräfte verbietet und unter Strafe stellt. Doch trotz der Bemühungen der Regierung, die Rekrutierung von Minderjährigen auszumerzen, bleiben Berichten zufolge Herausforderungen bestehen, etwa nichtstandardisierte Anwerbungsprozesse, ineffiziente Altersüberprüfung und mangelnde Rechenschaftspflicht für die Anwerbung von Minderjährigen. Im August 2017 stellte der Generalsekretär der Vereinten Nationen fest, dass es zwar Fortschritte im Hinblick auf eine Stärkung der Verfahren zur Altersbestimmung gegeben habe, doch bereiteten das Fehlen entsprechend