TE Bvwg Erkenntnis 2018/11/28 W172 2181010-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.11.2018
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Entscheidungsdatum

28.11.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W172 2181010-1/14E

Schriftliche Ausfertigung des am 30.10.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin MORITZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX 1999, StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Georg Bürstmayr, Hahngasse 25/5, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.11.2017, Zl. 1049469801-150010343, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.10.2018 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch: "BF") stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am XXXX 2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 i. d.g.F. (im Folgenden auch: "AsylG 2005").

Am XXXX 2015 erfolgte die Erstbefragung des Beschwerdeführers durch die LPD Niederösterreich.

2. Der Beschwerdeführer wurde am 01.08.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: "BFA") niederschriftlich einvernommen.

3. Mit oben im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 13.06.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (im Folgenden auch: "BFA-VG") eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden auch: "FPG") erlassen (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

4. Gegen alle Spruchpunkte dieses Bescheides wurde vom Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde mit oben im Spruch genannten Schriftsatz vom 20.12.2017 erhoben.

5.1. Am 30.10.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.

In diese Verhandlung wurden Unterlagen und darauf aufbauende aktuelle Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan (s. weiter unten Pkt. II.1.2.) eingeführt.

Ferner wurde die vom Beschwerdeführer beantragte Zeugin XXXX einvernommen.

Am Schluss dieser Verhandlung wurde die gegenständliche Entscheidung mündlich verkündet.

5.2. In der mündlichen Verhandlung wurden folgende - verfahrenswesentliche - Angaben getätigt (BF: Beschwerdeführer, D: Dolmetscher, RI: Richter, RV: Rechtsvertreter, Z: Zeugin):

"Befragt vom RI über seinen Aufenthalt in Österreich gibt der BF an, dass er sich seit XXXX 2015 in Österreich aufhalte. Weiters befragt gibt der BF an, dass er sich zunächst 8 Monate in Traiskirchen aufgehalten habe. Dann sei er nach Oberösterreich, nach XXXX verlegt worden. Dort habe er zunächst in einem Asylheim gelebt. Als der BF dann das 18. Lebensjahr vollendet habe, sei er in einem Studentenheim umgezogen. Nun lebe er in einer WG gemeinsam mit drei anderen Personen. Er selbst habe ein Einzelzimmer. Befragt nach einer Freundin gibt der BF an, dass er zur Zeit keine habe. Er habe sechs Monate lang eine Beziehung zu einer Österreicherin gepflegt. (Anmerkung des RI: Die mitanwesende Lehrerin der HBLW XXXX Frau XXXX legt ein Fotoalbum vor, in dem sich ein Foto von der früheren Freundin des BF befindet [...]). Befragt nach österreichischen Freunden führt der BF an, dass er solche als Mitschüler von der Schule, nämlich der HBLW habe. Er besuche gerade die dritte Klasse und sei ordentlicher Schüler dort. Weiters befragt gibt der BF an, dass er seine Freizeit gemeinsam mit seinen Freunden und seiner Familie verbringe. Er gehe ins Fitnessstudio, spiele mit Freunden Fußball und Volleyball und gehe mit diesen gemeinsam auch zu Veranstaltungen wie Partys und Feste. Er mache mit seiner Familie auch Ausflüge und gehe zum Beispiel auch Grillen. Befragt, wen er als Familie meine, gibt der BF an, die hier auch anwesende Patin (Anmerkung des RV: Er meint damit die hier vier anwesenden Personen). Befragt, welche Kurse der BF in Österreich besucht habe, antwortet der BF, dass er den A1- und A2- Kurs in Linz besucht habe, dann den B1-Kurs in der Schule. Mittlerweile befinde er sich bei seinen Deutschkenntnissen auf B2-Niveau. Befragt, ob er weitere Kurse etc. zu seiner Berufsausbildung besucht habe, antwortet der BF, dass er die Schule HBLW XXXX besucht habe. Nach der Schule würde er gerne eine Ausbildung als Installateur machen. Befragt, warum er nicht einer Ausbildung bzw. einen Beruf im Rahmen der Gastronomie ansteuere, da er doch derzeit in einer entsprechenden Berufsschule gehe, führt der BF an, dass er in diesem Bereich bis jetzt keinen Platz bekommen habe. Er habe sich zwar beworben, aber keinen Ausbildungsplatz bekommen. Er möchte eigentlich auch gerne eine weitere Ausbildung im Gastronomiebereich machen, er habe sogar eine Zusage von einer Stelle, wo er sein Praktikum gemacht habe, doch habe er keine Arbeitsbewilligung vom AMS bekommen. Er habe auch bereits zwei Monate Praktikum bei einem Gastronomiebetrieb gemacht. Befragt, wann er seine Ausbildung an der HBLW XXXX beenden würde, gibt der BF an, dass er derzeit die 3-jährige Fachschule besuche. Seine Ausbildung würde in fünf Monaten beendet werden. Nachgefragt, ob er im Falle einer Aufenthaltsbewilligung in Österreich einen Ausbildungsplatz bzw. eine Beschäftigung bekommen würde, gibt der BF an, dass er bereits eine Beschäftigungszusage, in diesem Fall von der Firma XXXX , hätte. Zudem würde er nicht nur eine absolvierte Ausbildung als Restaurantfachmann, sondern auch eine absolvierte Ausbildung als Bürokaufmann aufweisen. Beide Ausbildungen würde er in der HBLW machen. Weiters befragt gibt der BF an, dass er nicht Mitglied eines Vereins wäre. An gemeinnützigen Tätigkeiten führt der BF an, dass er sich bei einem Altersheim gemeldet habe, dass er gerne helfen würde, falls seine Hilfe gebraucht werde. Am 20.10. dieses Jahres hätte er einen Termin bekommen, hätte diesen aber nicht wahrnehmen können, da er terminlich verhindert gewesen sei. Er könne die Nachricht vom Altersheim auch vorlegen. Befragt, ob er ein religiöser Mensch sei, gibt der BF an, dass dies früher schon der Fall gewesen sei, jetzt aber nicht mehr. Weiters befragt, ob er sich an religiöse Vorschriften halten würde, wie z.B. Einhaltung des Ramadans, der Essvorschriften des Islam, antwortet der BF, dass er früher mit seinen Freunden gefastet habe, wenn diese auch gefastet haben. Er esse auch kein Schweinefleisch, dies habe nichts mit der Religion zu tun, sondern aus Gewohnheit. Er habe nie Schweinefleisch gegessen, daher traue er sich auch nicht, dieses Fleisch zu essen. Befragt zu Alkoholkonsum führt der BF an, dass er ein oder zwei Mal Alkohol getrunken habe, doch trinke er Alkohol nicht so gerne. Befragt, ob er die Moschee besuche, führt er an, dass er dies jetzt nicht mehr tue. Anfangs in Traiskirchen habe er eine Moschee besucht, dort sei auch Essen zubereitet worden. Die Frage, ob er vorhabe, später eine Familie zu gründen, bejaht der BF. Weiters befragt gibt der BF an, dass er kein Problem habe, wenn seine Gattin auch berufstätig und wirtschaftlich unabhängig von ihm sei ebenso, dass Haushalt und Kindererziehung, partnerschaftlich gemeinsam ausgeübt werde. Befragt, wie seine Einstellung zur Religion in der Gesellschaft sei, ob diese eine größere Rolle in Österreich spielen sollte, als tatsächlich der Fall sein sollte oder die Trennung von Staat und Religion sinnvoll sei, antwortet der BF, dass seiner Ansicht nach Staat und Religion getrennt sein sollten. Gerade Afghanistan habe das Problem, dass Religion das Sagen habe, deswegen funktioniere die Gesellschaft dort nicht.

Der RI stellt fest, nachdem er dem BF aufgefordert hat, in deutscher Sprache die hier anwesenden vier Personen vorzustellen, er in flüssigem Deutsch Namen und Beruf dieser Personen anführte.

RV: Ich weise auf eine Veranstaltung hin, die öffentlich wurde, und an der der BF auch als Vortragender vor 100 Schülern aufgetreten ist. Diesbezüglich verweise ich auch auf den Schriftsatz vom 25.06.2018, in dem auch eine Information über eine Veranstaltung vom

XXXX 2018: " XXXX " aufliegt. Ich hätte einige Fragen an den BF.

Auf die Frage des RV, worum es in seinem Vortrag gegangen sei, gibt der BF an, dass es um österreichischen Werte gegangen sei, auch um die Gesetze in Österreich. Seine Schulkameraden würden aus verschiedenen Ländern kommen. Weiters befragt gibt der BF an, dass es sich darum gehandelt habe, dass Frauen und Männer in Österreich gleichgestellt seien, man kandidieren, Stimme abgeben und wählen könne. In Österreich gebe es Richter und Gesetze, denen man vertrauen könne und wo eine freie Entscheidung getroffen werde könne; dass Politik und Religion in Österreich getrennt seien, alle gleichgestellt seien, sowie man anderen nichts antun dürfe. Auf die Frage des RV, ob der BF sich mit diesen Werten identifizieren bzw. was anfangen könne, antwortet der BF, dass er in Afghanistan aufgewachsen sei und dort bis zum 15. Lebensjahr gelebt habe. Was er alles bei diesem Vortrag angeführt habe, gebe es in Afghanistan nicht. Diese Sachen habe er erst in Österreich gelernt und er leben jetzt nach diesen Vorschriften. Das große Problem in Afghanistan sei, dass Religion und Politik nicht getrennt seien. Man könne der Exekutive und der Polizei nicht vertrauen. Wenn man hier Probleme hätte, könne man zur Polizei gehen. In Afghanistan sei dies nicht der Fall. Der BF fügt hinzu, dass er ein Beispiel hierzu anführen könne. 2015 sei in Kabul eine Frau auf der Straße von Männern brutal zusammengeschlagen worden und die Polizei habe nur zugeschaut und nichts dagegen unternommen. Sowas könne man nicht vergessen, sowas passiere auch nicht überall. Weiters könne z.B. seine Mutter in Afghanistan nicht alleine aus dem Haus gehen, sie brauche immer eine männliche Begleitung. Sie könne nur in Begleitung seines Vaters aus dem Haus gehen. In Afghanistan würden Männer alles bestimmen. Die Frage des RV, ob die Veranstaltung öffentlich geworden sei, bejaht der BF. Sie sei durch das Fernsehen verbreitet worden. (Anmerkung von Frau XXXX : Die Sendung war in einem oberösterreichischen Privatsender namens " XXXX ". Online war es auch in der XXXX . Vorgelegt wird der betreffende Artikel [...].

RV: Wenn man den Namen des BF googelt, erscheint bei seinem Namen gleich als dritter Treffer schon diese Veranstaltung. Der betreffende Beleg wird vorgelegt [...].

Befragt vom RI, ob der Vortrag des BF auch kritisch mit der derzeitigen Regierung in Afghanistan gewesen sei, gibt dieser an, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Allerdings sei er mit der Regierung in Afghanistan nicht einverstanden. Er würde alles aus den Medien mitbekommen, was in Afghanistan los sei. Auf die Frage des RV, ob der BF bei Facebook aktiv sei, wird diese vom BF bejaht. Er lese bei Facebook Nachtrichten über Afghanistan, außerdem lese er die deutschsprachige Zeitung "HEUTE". Befragt vom RV, ob aus dem Facebook-Profil des BF erkennbar sei, dass er in Österreich leben würde, verneint der BF dies. Aus seinem Facebook-Profil könne man nur sehen, woher er aus Afghanistan stammen würde.

RV: Hier muss ich dem BF wiedersprechen. Tatsächlich ist bei seinem Facebook-Profil auch zu ersehen, dass er derzeit in Linz, in Österreich lebe. Zum Beleg lege ich einen Screenshot vom 29.10.2018 aus dessen Facebook-Profil vor [...].

Der BF führt weiters an, dass ein Freund von ihm diese Seite bei Facebook eingerichtet hätte. Er kenne sich daher bei den Facebook Einstellungen nicht so gut aus. Auf Fragen des RV gibt der BF auch an, dass er auch mit anderen Freunden aus Afghanistan auf Facebook befreundet sei. Er kenne diese von seiner Flucht und aus Traiskirchen, er kenne diese aber nicht aus Afghanistan selbst.

Auf die Stellungnahme des RV, wonach der BF Afghanistan verlassen hätte, weil er sich den Taliban nicht hätte anschließen wollen und dass es bekannt sei, was Personen drohen würde, die sich einer derartigen Aufforderung wiedersetzen würden, bestätigt der BF diese Aussage. Die Taliban hätten eigene Gesetze, nämlich die Scharia. Wenn jemand den Aufforderungen der Taliban nicht nachkommen würde, würde er als Ungläubiger bezichtigt und getötet werden.

[...]

Auf Fragen des RI gibt die Z unter Vorlage Ihres österreichischen Führerscheines Nr. XXXX , an, dass ihr Name XXXX sei und sie am XXXX in Graz geboren sei. Ihre Wohnanschrift sei XXXX . Sie sei verheiratet mit dem hier ebenfalls anwesenden XXXX und Mutter der ebenfalls hier anwesenden XXXX . Vom Beruf sei sie Lehrerin an der HBLW XXXX , sie habe Sport und Englisch studiert.

Befragt gibt sie an, dass sie dem BF im November 2015 kennengelernt habe. Im November 2015 sei eine Übergangsklasse für Flüchtlinge an ihrer Schule gebildet worden, wobei der BF einer der Schüler dieser Klasse gewesen sei. Sie sei seit damals Englischlehrerin dort gewesen und habe die Flüchtlinge in Englisch 4 Stunden in der Woche unterrichtet. Befragt, warum sie für den BF extra aus Linz als Zeugin zu dieser Verhandlung gekommen sei, führt die Z an, dass der BF ihr damals bereits als sehr fleißiger, netter, freundlicher 16-jähriger aufgefallen sei. Dies sei leider nicht selbstverständlich, nicht alle minderjährigen Flüchtlinge würden sich so verhalten. Am Anfang sei er sehr verschreckt gewesen, er sei in der letzten Reihe gesessen, habe sich aber ungleich bemüht. Die Z sei damals auch Klassenvorstand in einer ersten Klasse gewesen. Sie habe mit ihrer Klasse ein Projekt gestartet, nämlich, dass ihre Klasse eine Partnerklasse dieser Übergangsklasse für junge Flüchtlinge sei, mit den sich in dieser Klasse befindlichen 20 Jugendlichen habe man diese beim Lernen unterstützt, Ausflüge gemacht, sich in der Freizeit getroffen. Dort habe der BF auch seine österreichische Freundin Marina kennengelernt. Der BF sei bei allen Sportveranstaltungen, nämlich Lauf-, Fußball- oder Volleyballveranstaltungen dabei gewesen. Dadurch habe er sich sehr gut hier in Österreich integriert. Dies sei nicht bei allen Flüchtlingen leider so selbstverständlich. Über dieses Lehrer-Schülerverhältnis hinaus sei der BF auch ein Familienmitglied in der Familie der Z geworden. Dies zeige sich auch darin, dass seit April 2017, nachdem er 18 Jahre alt geworden sei, sein Aufenthalt im Studentenheim gezahlt werden würde. Er käme auch sehr oft zu Besuch, privat. Einmal in der Woche sei er jedenfalls fix beim "Familientag" im Hause der Z. Bei diesem Familientag sei auch das zweite Patenkind der Familie der Z, auch aus Afghanistan stammend, anwesend. Die Z gibt an, dass sie mittlerweile öfters per Whatsapp mit dem BF kommuniziere als mit ihrer eigenen Tochter. Sie koche für ihn, sie kleide ihn ein, sie würden auch gemeinsame Ausflüge machen, auch in den Urlaub fahren, so etwa nach XXXX letztes Jahr, sie hätten mit ihm das letzte Weihnachtsfest gefeiert, sie würden auch Geburtstage gemeinsam feiern, sie sei auch sehr gerührt gewesen, dass er anlässlich ihres Geburtstages, auch anlässlich des Muttertages ihr einen Blumenstrauß geschenkt hätte. Die Z fügt hinzu, dass ihr Sohn XXXX an Lymphknotenkrebs gestorben sei. Der BF sei zwar kein Ersatz für den verlorenen Sohn, aber er stelle eine riesige Bereicherung für das Familienleben dar, so auch das zweite Patenkind. Diese zwei Burschen hätten eine neue Perspektive in ihre Familie gebracht, da es doch ein Unterschied sei, ob eine Familie nur aus drei Mitgliedern oder aus vier oder fünf Personen bestehen würde. Auch für ihre Tochter XXXX sei dies sehr wichtig, da nun zwei neue Familienmitglieder dazugekommen seien. Sie wisse, dass der BF in Zukunft eine Familie gründen wolle. Sie freue sich schon jetzt, mal eine Oma zu sein. Die Z weist darauf hin, dass sie als Lehrerin, wie auch ihr Gatte, der ebenfalls Lehrer an einer HTL sei, wüssten was für riesige Probleme es an Schulen mit Migrationshintergrund gebe. Im Unterschied von vielen dieser Jugendlichen habe der BF in drei Jahren sich besonders integriert, dies zeige sich nicht nur durch die Schule oder durch sein Privatleben. In der Familie der Z herrschen keine patriarchalischen Verhältnisse. Der BF wird in diesem Sinne auch sozialisiert. Befragt zu der Veranstaltung am 25.04.2018 gibt die Z an, dass damals die Klasse der Z im dritten Jahrgang war. Im Fach Projektmanagement habe die Klasse die Veranstaltung als Projekt organisiert. Es habe eine riesige Unterschriftensammlung für die Flüchtlinge unter dem Motto:

Ausbildung statt Abschiebung gegeben. Die Schule der Z habe immer schon derartige integrationsbefürwortende Projekte unterstützt. Auch die Schüler haben ein Zeichen setzen wollen. Dabei sei auch hingewiesen worden, dass die Flüchtlinge ordentliche Schüler der HBLW XXXX seien, die nach Lehrplan unterrichtet werden würden - dies als Zeichen der Integrationswilligkeit der Flüchtlinge. Zu dieser Veranstaltung sei auch der XXXX Nationalratsabgeordnete XXXX und auch Vertreter von Amnesty International eingeladen worden. Im Vortrag des BF seien Zitate, auch aus dem Buch vom Abgeordneten XXXX verwendet worden wie "Werte sind unverhandelbar" oder "Das Verhalten zählt, nicht die Herkunft". In dieser Veranstaltung sei vor allem von Amnesty International sehr kritisch über Afghanistan und die dortige Situation und Politik berichtet worden. An die 170 Zuhörer, großteils Schüler, aber auch Personen von außerhalb, wie auch Medienvertreter, seien bei dieser Veranstaltung anwesend gewesen. Anwesend sei ein Vertreter der XXXX und der XXXX gewesen. Auch " XXXX " habe dort gefilmt und habe dann die Veranstaltung in ihren Kanal gesendet.

[...]

Der RI befragt eine weitere anwesende Person nach ihrem Namen und nach ihrer Funktion. Unter Vorlage ihres österreichischen Führerscheines Nr. XXXX gibt diese Person an, dass sie Frau XXXX heiße und Obfrau des " XXXX " sei. Sie habe auch in diesem Fall die Familie XXXX begleitet und könne die Angaben der Z bestätigen.

6. In das Verfahren wurden neben den vom BFA und vom Bundesverwaltungsgericht eingeführten (s. weiter unten) u.a. folgende entscheidungsrelevante Bescheinigungsmittel vorgelegt, nämlich:

-

Tazkira;

-

Schulbesuchsbestätigungen der HBLW XXXX ;

-

Kursbesuchsbestätigungen (Erste Hilfe, Werte und Orientierung);

-

Praktikanten-Arbeitsvertrag und Zwischenzeugnis etc. der Fa. XXXX

;

-

Bescheid des AMS;

-

Zahlungs- und Wohnplatzbestätigung;

-

Referenzschreiben;

-

Foto von der früheren österreichischen Freundin;

-

Zeitungsbericht über Veranstaltung;

-

Screenshot vom Facebook-Profil des Beschwerdeführers sowie

-

Screenshot von Online-Suche nach Namen des Beschwerdeführers

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person und zum Vorbringen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den oben im Spruch wiedergegebenen Namen, ist am XXXX 1999 in XXXX in Afghanistan geboren, Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Tadschiken sowie war zumindest früher sunnitischen Glaubensbekenntnis Seine Muttersprache ist Dari. An Schulausbildung weist er zehn Jahre Grundschulbesuch auf. Er übte keinen Beruf aus. In seinem Herkunftsstaat lebte er zuletzt in XXXX bis zu seiner Ausreise im Frühherbst 2015. An Familienangehörigen leben in Afghanistan noch seine Eltern und seine zwei jüngeren Brüder. Er und seine Familienangehörigen weisen kein Vermögen auf.

Darüberhinaus werden die oben von der mündlichen Verhandlung wiedergegebenen Abschnitte (s. oben Pkt. I.5.2.) zum Inhalt der Feststellungen erhoben.

1.2. Zur politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:

"Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018:

Religionsfreiheit

Etwa 99.7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84.7-89.7% Sunniten (CIA 21.11.2016; vgl. USCIRF 4.2016). Schätzungen zufolge, sind etwa 10-19% der Bevölkerung Schiiten (AA 9.2016; vgl. auch: CIA 21.10.2016). Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (AA 9.2016).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert, dies gilt allerdings ausdrücklich nur für Anhänger/innen anderer Religionen als dem Islam. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionsauswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Darüber hinaus ist die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach Scharia-Recht auch strafbewehrt (AA 9.11.2016).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 verbessert, wird aber noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformierte Muslime behindert. Blasphemie und Abtrünnigkeit werden als Kapitalverbrechen angesehen. Nichtmuslimische Religionen sind erlaubt, doch wird stark versucht, deren Missionierungsbestrebungen zu behindern (FH 27.1.2016). Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt (FH 27.1.2016; vgl. auch:

CSR 8.11.2016).

Im Strafgesetzbuch gibt es keine Definition für Apostasie. Laut der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, für Frauen lebenslange Haft, sofern sie die Apostasie nicht bereuen. Ein Richter kann eine mindere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Zu Verfolgung von Apostasie und Blasphemie existieren keine Berichte - dennoch hatten Individuen, die vom Islam konvertierten, Angst vor Konsequenzen. Christen berichteten, dass sie aus Furcht vor Vergeltung, Situationen vermieden, in denen es gegenüber der Regierung so aussehe, als ob sie missionieren würden (USDOS 10.8.2016).

Nichtmuslimische Minderheiten, wie Sikh, Hindu und Christen, sind sozialer Diskriminierung und Belästigung ausgesetzt, und in manchen Fällen, sogar Gewalt. Dieses Vorgehen ist jedoch nicht systematisch (USDOS 10.8.2016). Dennoch bekleiden Mitglieder dieser Gemeinschaften vereinzelt Ämter auf höchster Ebene (CSR 8.11.2016). Im Mai 2014 bekleidete ein Hindu den Posten des afghanischen Botschafters in Kanada (RFERL 15.5.2014). Davor war Sham Lal Bathija als hochrangiger Wirtschaftsberater von Karzai tätig (The New Indian Express16.5.2012).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Bildungsplan einrichten und umsetzen, der auf den Bestimmungen des Islams basiert; auch sollen religiöse Kurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime ist es nicht erforderlich den Islam an öffentlichen Schulen zu lernen (USDOS 10.8.2016).

Nicht-muslimische religiöse Minderheiten werden durch das geltende Recht diskriminiert. So gilt die sunnitische-hanafitische Rechtsprechung für alle afghanischen Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer Religion (AA 9.2016). Für die religiöse Minderheit der Schiiten gilt in Personenstandsfragen das schiitische Recht (USDOS 10.8.2016).

Militante Gruppen haben sich unter anderem als Teil eines größeren zivilen Konfliktes gegen Moschen und Gelehrte gerichtet. Konservative soziale Einstellungen, Intoleranz und das Unvermögen oder die Widerwilligkeit von Polizeibeamten individuelle Freiheiten zu verteidigen bedeuten, dass jene, die religiöse und soziale Normen brechen, anfällig für Misshandlung sind (FH 27.1.2016).

Blasphemie - welche anti-islamische Schriften oder Ansprachen beinhaltet, ist ein Kapitalverbrechen im Rahmen der gerichtlichen Interpretation des islamischen Rechtes. Ähnlich wie bei Apostasie, gibt das Gericht Blasphemisten drei Tage um ihr Vorhaben zu widerrufen oder sie sind dem Tod ausgesetzt (CRS 8.11.2016).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin der zwei anderen abrahamitischen Religionen, Christentum und Judentum, ist. Einer Muslima ist nicht erlaubt einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind legal, solange das Paar nicht öffentlich ihren nicht-muslimischen Glauben deklariert (USDOS 10.8.2016).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan

-

CIA - Central Intelligence Agency (21.11.2016): The World Factbook

-

Afghanistan,

https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/af.html, Zugriff 29.11.2016

-

CRS - Congressional Research Service (8.11.2016): Afghanistan:

Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy, https://www.fas.org/sgp/crs/row/RL30588.pdf, Zugriff 30.11.2016

-

FH - Freedom House (28.4.2015): Freedom of the Press 2015 - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/311145/449187_de.html, Zugriff 21.10.2015

-

Max Planck Institut (27.1.2004): Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan,

http://www.mpipriv.de/files/pdf4/verfassung_2004_deutsch_mpil_webseite.pdf, Zugriff 28.11.2016

-

RFERL - Radio Free Europe/Radio Liberty (15.5.2014): First Afghan Hindu Envoy Takes Pride In Serving His Country, http://gandhara.rferl.org/content/article/25386024.html, Zugriff 29.11.2016

-

The New Indian Express (16.5.2012): 'I greeted Manmohan, and he was delighted',

http://www.newindianexpress.com/thesundaystandard/article350359.ece?service=print, Zugriff 5.11.2015

-

USCIRF - U.S. Commission on International Religious Freedom (4.2016): 2016 Country Reports: Tier 2; Afghanistan, http://www.uscirf.gov/sites/default/files/USCIRF_Tier2_Afghan.pdf, Zugriff 30.11.2016

-

USDOS - US Department of State (10.8.2016): 2016 Report on International Religious Freedom - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/328423/469202_de.html, , Zugriff 29.11.2016

Christen und Konversionen zum Christentum

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert (AA 9.2016). Ihre Zahl kann nicht verlässlich angegeben werden, da Konvertiten sich nicht öffentlich bekennen (AA 2.3.2015; vgl. auch: USDOS.10.8.2016).

Nichtmuslim/innen, z.B. Sikhs, Hindus und Christen, sind Belästigungen ausgesetzt und in manchen Fällen sogar Gewalt. Nachdem Religion und Ethnie stark miteinander verbunden sind, ist es schwierig die vielen Vorfälle nur als Vorfälle wegen religiöser Identität zu kategorisieren (USDOS 10.8.2016).

Die gesellschaftliche Einstellung gegenüber konvertierten Christen ist ablehnend. Zu einer Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis, die speziell Christen diskriminiert, kommt es in Afghanistan in der Regel schon deshalb nicht, weil sich Christen nicht offen zu ihrem Glauben bekennen (AA 9.2016). Konversion wird als Akt der Abtrünnigkeit und Verbrechen gegen den Islam gesehen, der mit dem Tod bestraft werden könnte (AA 9.2016; vgl. USDOS 10.8.2016) - sofern die Konversion nicht widerrufen wird (USDOS 10.8.2016). Keiner wurde bisher aufgrund von Konversion durch den afghanischen Staat hingerichtet (AA 9.2016).

Die Christen verlautbarten, dass die öffentliche Meinung gegenüber Missionierung feindlich ist. Es gibt keine öffentlichen Kirchen (CRS 8.11.2016). Für christliche Afghan/innen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens. Zu Gottesdiensten, die in Privathäusern von internationalen NGOs abgehalten werden, erscheinen sie meist nicht oder werden aus Sicherheitsgründen nicht eingeladen. Christliche Gottesdienste für die internationale Gemeinschaft finden u.a. in verschiedenen Botschaften sowie auf dem Gelände der internationalen Truppen statt (AA 9.2016). Einem Bericht einer kanadischen christlichen Organisation zufolge, wächst die Zahl der Hauskirchen in Afghanistan. In diesem Bericht wird angedeutet, dass einige Mitglieder des Parlaments selbst das Christentum angenommen und an christlichen Gottesdiensten teilgenommen haben (The Voice of the Martyrs Canada 5.4.2012).

Einige Konversionsfälle von Christen haben zu harten Strafen geführt und dadurch internationale Aufmerksamkeit erlangt (CRS 8.11.2016). Die im Libanon geborenen Rula Ghani, Ehefrau von Staatspräsident Ashraf Ghanis, entstammt einer christlich-maronitischen Familie (NPR 19.2.2015; vgl. BBC 15.10.2014).

Berichten zufolge gibt es ein christliches Spital in Kabul (NYP 24.4.2014; vgl. CNN 24.4.2014).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan

-

BBC (15.10.2014): Afghanistan first lady Rula Ghani moves into the limelight, http://www.bbc.com/news/world-asia-29601045, Zugriff 23.10.2015

-

CNN (24.4.2014): Afghanistan Violence, http://editionBild kann nicht dargestellt werden

.cnnBild kann nicht dargestellt werden

.com/Bild kann nicht dargestellt werden

2014/Bild kann nicht dargestellt werden

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world/Bild kann nicht dargestellt werden

asia/Bild kann nicht dargestellt werden

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stan-violence/Bild kann nicht dargestellt werden

, Zugriff 23.10.2015

-

The Voice of the Martyrs Canada (05.04.2012): Christianity growing, https://www.vomcanada.com/af-2012-04-05.htm, Zugriff 23.10.2015

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NPR - National Public Radio (19.2.2015): For The First Time, An Afghan First Lady Steps Into The Spotlight, http://www.npr.org/sections/parallels/2015/02/19/386950128/for-the-first-time-an-afghan-first-lady-steps-into-the-spotlight, Zugriff 23.10.2015

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NYP - The New York Post (24.4.2014):

http://nypost.com/2014/04/24/3-foreigners-killed-in-attack-at-afghan-hospital/, 23.10.2015

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USDOS - US Department of State (10.8.2016): 2016 Report on International Religious Freedom - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/328423/469202_de.html, , Zugriff 29.11.2016

Vom Islam abgefallene Personen (Apostaten)

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass Apostasie (Arabisch: ridda) in der klassischen Scharia als ‚Weggehen' vom Islam verstanden werde und ein Apostat (Arabisch: murtadd) ein Muslim sei, der den Islam verleugne. Apostasie müsse nicht unbedingt bedeuten, dass sich der Apostat einer neuen Glaubensrichtung anschließe:

[...]

Artikel 2 der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan vom Jänner 2004 legt die ‚heilige Religion des Islam' als Religion Afghanistans fest. Angehörige anderer Glaubensrichtungen steht es frei, innerhalb der Grenzen des Gesetzes ihren Glauben und ihre religiösen Rituale auszuüben. Gemäß Artikel 3 der Verfassung darf kein Gesetz in Widerspruch zu den Lehren und Vorschriften des Islam stehen. Laut Artikel 7 ist Afghanistan indes verpflichtet, die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen, zwischenstaatlicher Vereinbarungen, internationaler Vertragswerke, deren Vertragsstaat Afghanistan ist, sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einzuhalten. Artikel 130 der Verfassung schreibt vor, dass die Gerichte bei der Beurteilung von Fällen die Bestimmungen der Verfassung und anderer Gesetze zu berücksichtigen haben. Wenn es jedoch zu einem Fall keine Bestimmungen in der Verfassung oder anderen Gesetzen gibt, so haben die Gerichte entsprechend der (sunnitischen) hanafitischen Rechtssprechungstradition innerhalb der Grenzen der Verfassung auf eine Art und Weise zu entscheiden, welche am besten geeignet ist, Gerechtigkeit zu gewährleisten:

[...]

Bezug nehmend auf den soeben zitierten Artikel 130 der afghanischen Verfassung schreibt Landinfo im August 2014, dass dieser Artikel hinsichtlich Apostasie und Blasphemie relevant sei, da Apostasie und Blasphemie weder in der Verfassung noch in anderen Gesetzen behandelt würden. (Landinfo, 26. August 2014, S. 2). Im afghanischen Strafgesetzbuch existiere keine Definition von Apostasie (Landinfo, 4. September 2013, S. 10; USDOS, 10. August 2016, Section 2). Die US Commission on International Religious Freedom (USCIRF) schreibt, dass das Strafgesetzbuch den Gerichten ermögliche, Fälle, die weder im Strafgesetz noch in der Verfassung explizit erfasst seien, darunter Blasphemie, Apostasie und Konversion, gemäß dem Scharia-Recht der Hanafi-Rechtsschule und den sogenannten ‚hudud'-Gesetzen, die Vergehen gegen Gott umfassen würden, zu entscheiden (USCIRF, 26. April 2017). Die Scharia zähle Apostasie zu den sogenannten ‚hudud'-Vergehen (USDOS, 10. August 2016, Section 2) und sehe für Apostasie wie auch für Blasphemie die Todesstrafe vor (Landinfo, 26. August 2014, S. 2).

Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), eine staatliche Einrichtung der USA zur Beobachtung der Situation hinsichtlich der Meinungs- Gewissens- und Glaubensfreiheit im Ausland, schreibt in ihrem Jahresbericht vom April 2017, dass staatlich sanktionierte religiöse Führer sowie das Justizsystem dazu ermächtigt seien, islamische Prinzipien und das Scharia-Recht (gemäß Hanafi-Rechtslehre) auszulegen. Dies führe zuweilen zu willkürlichen und missbräuchlichen Auslegungen und zur Verhängung schwerer Strafen, darunter der Todesstrafe (USCIRF, 26. April 2017).

Die Internationale Humanistische und Ethische Union (International Humanist and Ethical Union, IHEU), ein Zusammenschluss von über 100 nichtreligiösen humanistischen und säkularen Organisationen in mehr als 40 Ländern, bemerkt in ihrem im November 2016 veröffentlichten‚ Freedom of Thought Report 2016', dass sich die Gerichte bei ihren Entscheidungen weiterhin auf Auslegungen des islamischen Rechts nach der Hanafi-Rechtslehre stützen würden. Das Office of Fatwa and Accounts innerhalb des Obersten Gerichtshofs Afghanistans würde die Hanafi-Rechtsprechung auslegen, wenn ein Richter Hilfe dabei benötige, zu verstehen, wie die Rechtsprechung umzusetzen sei:

[...]

Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network (AAN), einer unabhängigen, gemeinnützige Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, die Analysen zu politischen Themen in Afghanistan und der umliegenden Region erstellt, bemerkte in einem Expertengespräch vom Mai 2016 (veröffentlicht im Juni 2016) Folgendes bezüglich der Rechtspraxis:

‚Zwar gibt es drei parallele Rechtssysteme (staatliches Recht, traditionelles Recht und islamisches Recht/Scharia), doch letztendlich ziehen sich viele Richter, wenn die Lage irgendwie politisch heikel wird, auf das zurück, was sie selber als Scharia ansehen, statt sich etwa auf die Verfassung zu berufen. Die Scharia ist nicht gänzlich kodifiziert, obwohl verschiedenste Rechtskommentare etc. existieren, und zudem gibt es zahlreiche Widersprüche in den Lehrmeinungen. (ACCORD, Juni 2016, S. 10)

Michael Daxner, Sozialwissenschaftler, der das Teilprojekt C9 ‚Sicherheit und Entwicklung in Nordost-Afghanistan' des Sonderforschungsbereichs 700 der Freien Universität Berlin leitet, bemerkte beim selben Expertengespräch vom Mai bezüglich der Auslegung des islamischen Rechts und islamischer Prinzipien:

‚Sehr oft stammen die liberalsten Auslegungen von Personen, die etwa an einer Einrichtung wie der Al-Azhar in Kairo studiert haben und daher mit den Rechtskommentaren vertraut sind. Man kann sich indes kaum vorstellen, wie wenig theologisch und religionswissenschaftlich versiert die Geistlichen auf den unteren Ebenen sind. Wenn ein Rechtsgelehrter anwesend ist, der etwa von der Al-Azhar kommt, kann er die Sache auch ein Stück weit zugunsten des Beschuldigten drehen, denn je mehr glaubwürdige Kommentare dem Scharia-Text zugefügt werden, desto besser sieht es für die Betroffenen aus. (ACCORD, Juni 2016, S. 10)

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) geht in seinen im April 2016 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender wie folgt auf die strafrechtlichen Konsequenzen von Apostasie bzw. Konversion vom Islam ein:

‚Eine Konversion vom Islam wird als Apostasie betrachtet und gemäß den Auslegungen des islamischen Rechts durch die Gerichte mit dem Tod bestraft. Zwar wird Apostasie im afghanischen Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich als Straftat definiert, fällt jedoch nach allgemeiner afghanischer Rechtsauffassung unter die nicht weiter definierten ‚ungeheuerlichen Straftaten', die laut Strafgesetzbuch nach der islamischen Hanafi-Rechtslehre bestraft werden und in den Zuständigkeitsbereich der Generalstaatsanwaltschaft fallen.

Damit wird Apostasie als Straftat behandelt, obwohl nach der afghanischen Verfassung keine Handlung als Straftat eingestuft werden darf, sofern sie nicht als solche gesetzlich definiert ist. (UNHCR, 19. April 2016, S. 61)

Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem im August 2016 veröffentlichten Länderbericht zur internationalen Religionsfreiheit (Berichtsjahr 2015), dass laut Hanafi-Rechtlehre Männer bei Apostasie mit Enthauptung und Frauen mit lebenslanger Haft zu bestrafen seien, sofern die Betroffenen keine Reue zeigen würden. Richter könnten zudem geringere Strafen verhängen, wenn Zweifel am Vorliegen von Apostasie bestünden. Laut der Auslegung des islamischen Rechts durch die Gerichte würde der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion Apostasie darstellen. In diesem Fall habe die betroffene Person drei Tage Zeit, um die Konversion zu widerrufen. Widerruft sie nicht, so habe sie die für Apostasie vorgesehene Strafe zu erhalten. Die genannten Entscheidungsempfehlungen würden in Bezug auf Personen gelten, die geistig gesund und vom Alter her ‚reif' seien. Dieses Alter werde im Zivilrecht mit 18 Jahren (bei Männern) bzw. 16 Jahren (bei Frauen) festgelegt. Gemäß islamischem Recht erreiche eine Person dieses Alter, sobald sie Anzeichen von Pubertät zeige:

[...]

Auch der Bericht von Landinfo vom September 2013 behandelt unter Berufung auf verschiedene Quellen die rechtlichen Folgen von Apostasie. Das Strafrecht sehe gemäß Scharia die Todesstrafe für erwachsene zurechnungsfähige Männer vor, die den Islam freiwillig verlassen hätten. Diese Rechtsauffassung gelte sowohl für die schiitisch-dschafaritische als auch für die (in Afghanistan dominierende) sunnitisch-hanafitische Rechtsschule. Nach einer Einschätzung in einer Entscheidung des britischen Asylum and Immigration Tribunal aus dem Jahr 2008 sei das Justizwesen in Afghanistan mehrheitlich mit islamischen Richtern besetzt, die den Doktrinen der hanafitischen bzw. dschafaritischen Rechtssprechung folgen würden, welche die Hinrichtung von muslimischen Konvertiten empfehlen würden. Die Strafen für Frauen im Falle von Apostasie seien indes weniger schwer: sie würden ‚gefangen gehalten'. Die sunnitischhanafitische Rechtslehre sehe dabei eine mildere Bestrafung vor als die schiitischdschafaritische. Während letztere vorsehe, dass (weibliche) Apostatinnen täglich jeweils zu den Gebetszeiten ausgepeitscht würden, sehe die hanafitische Lehre vor, dass sie jeden dritten Tag geschlagen würden, um sie zu zur Rückkehr zum Islam zu bewegen. Neben Frauen seien auch Kinder, androgyne Personen und nichtgebürtige Muslime im Fall von Apostasie von der Todesstrafe ausgenommen. Bezüglich der Anwendung der Scharia und der strafrechtlichen Konsequenzen für Apostasie liege kein Erfahrungsmaterial speziell zu Afghanistan vor. Zugleich sei Landinfo der Auffassung, es gebe Grund zur Annahme, dass etwaige gerichtliche Entscheidungen in diesem Bereich unterschiedlich ausgefallen seien, jedoch den soeben beschriebenen Richtlinien entsprechen würden, wobei die Variationen eventuell weniger ausgeprägt sein könnten. Dies gelte auch für die zivilrechtlichen Folgen von Apostasie. Wie Landinfo bemerkt, könne in Afghanistan gemäß Verfassung und religiösen Rechtsmeinungen die Todesstrafe verhängt werden, wenn ein Fall von Konversion vor Gericht komme. Dies gelte sowohl für das staatliche als auch für das traditionelle Rechtssystem:

[...]

Dem USDOS zufolge seien aus dem Berichtsjahr 2015 keine Fälle von tätlichen Übergriffen, Inhaftierungen, Festnahmen oder Strafverfolgung wegen Apostasie bekannt (USDOS, 10. August 2016, Section 2).

UNHCR schreibt in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender Folgendes über zivilrechtliche und gesellschaftliche Folgen einer (vermeintlichen) Apostasie bzw. Konversion:

‚Geistig zurechnungsfähige männliche Bürger über 18 Jahren und weibliche Bürger über 16 Jahren, die vom Islam konvertieren und ihre Konversion nicht innerhalb von drei Tagen widerrufen, riskieren die Ann

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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