Entscheidungsdatum
30.11.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W187 2163368-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Mag. Wilfried EMBACHER, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX, XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm § 8 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
III. In Erledigung der Beschwerde wird festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und dem Beschwerdeführer gemäß § 54 Abs 1 Z 1, § 58 Abs 2 iVm § 55 Abs 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen seiner Erstbefragung gab der Beschwerdeführer an, am XXXX geboren zu sein und führte zu seinem Fluchtgrund aus, dass er nach dem Tod seiner Eltern mit seinem Bruder alleine gewesen sei. In Afghanistan habe er keine Zukunft. Sie hätten ihr Grundstück verkauft, um die Reise des Beschwerdeführers nach Österreich zu finanzieren. Dies sei sein einziger Fluchtgrund.
2. Der Beschwerdeführer wurde einer medizinischen Untersuchung zur Feststellung seines Alters unterzogen. Das daraufhin erstattete medizinische Sachverständigengutachten ergab als fiktives Geburtsdatum des Beschwerdeführers den XXXX. Das Ergebnis der Altersfeststellung wurde dem Beschwerdeführer durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) mit der Möglichkeit zur Stellungnahme schriftlich zur Kenntnis gebracht.
3. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, Tadschike und sunnitischer Moslem zu sein. Er sei in der Provinz Badakhshan geboren und aufgewachsen. Er habe zehn Jahre die Grundschule in Badakhshan besucht und anschließend sechs Monate als Kellner in Kabul gearbeitet. Er wiederholte den Fluchtgrund aus seiner Erstbefragung und führte aus, dass sein Leben nach dem Tod seiner Eltern schwierig gewesen sei. Zudem seien die Taliban in seiner Herkunftsprovinz sehr aktiv gewesen und würden junge Leute rekrutieren. Er selbst sei zwar nicht aufgefordert worden, sich den Taliban anzuschließen, sei aber vorbeugend hierher gekommen. Er habe keine persönlichen Feindschaften in Afghanistan und sei auch nicht von den Taliban bedroht worden. Da die Sicherheitslage sehr schlecht gewesen sei und der Beschwerdeführer keine Zukunft in Afghanistan gehabt habe, hätten er und sein Bruder ihr Grundstück verkauft, um nach Europa zu gelangen.
4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gegen den Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
5. Mit Schreiben vom XXXX erhob der Beschwerdeführer, unterstützt durch den beigegebenen Rechtsberater, fristgerecht vollinhaltlich Beschwerde gegen den spruchgegenständlichen Bescheid.
6. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein des ausgewiesenen Rechtsvertreters und eines Dolmetschers für die Sprache Dari vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung unentschuldigt fern.
Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:
"[...]
Richter: Verstehen Sie den Dolmetscher gut?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?
Beschwerdeführer: Ja, ich bin gesund. Ich habe ein bisschen Stress, aber ich bin gesund.
Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?
Beschwerdeführer: Nein, ich nehme keine Medikamente. Ich bin gesund.
[...]
Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?
Beschwerdeführer: Es war alles die Wahrheit. Ich kann mich daran erinnern.
Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?
Beschwerdeführer: Ich bin am XXXX in der Provinz Badachschan, im Distrikt XXXX geboren.
Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?
Beschwerdeführer: Meine Muttersprache ist Dari. Ich kann aber auch Paschtu, und Englisch. Ich kann diese Sprachen lesen und schreiben. Türkisch und Urdu kann ich nur sprechen. Auf Deutsch kann ich schreiben und lesen.
Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.
Beschwerdeführer: Ich bin ledig. Ich bin sunnitischer Moslem und Tadschike.
Richter: Haben Sie Kinder?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.
Beschwerdeführer: In Afghanistan habe ich in der Provinz Badachschan gelebt, im Bezirk XXXX. In Kabul habe ich auch einige Zeit gelebt und gearbeitet. Sonst nirgends.
Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?
Beschwerdeführer: Wir haben ein Haus gehabt, im Distrikt XXXX. Nachdem eine Flut gekommen ist, wurde das Haus zerstört. Es war ein sehr starker Regen, danach wurden viele Häuser zerstört. Es waren ca. 300 Familien davon betroffen, auch meine Familie war davon betroffen. Nachdem ich meine Familie verloren hatte, musste ich nach Kabul fahren, dort habe ich in einem Restaurant gearbeitet. In der Nähe von diesem Restaurant habe ich auch eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung gehabt, im Ort XXXX. Ich möchte auch eine Kleinigkeit von meiner ersten Einvernahme richtigstellen. Ich habe bei der Einvernahme über meine Ein-Zimmer-Wohnung gesprochen und es wurde protokolliert, dass in diesem Ort nur die Hilfsarbeiter leben, das stimmt nicht. Es leben verschiedene Leute dort, Busfahrer, Restaurantarbeiter und auch Studenten. Es war keine Studenten-WG, Studenten haben Quartiere in der Nähe der Universität, nicht in dem Ort, in dem ich gelebt habe.
Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas anderes?
Beschwerdeführer: Ich bin in der Provinz Badachschan 10 Jahre in die Schule gegangen. In Kabul habe ich in einem Restaurant gearbeitet. Mit diesem Gehalt, das ich von dem Restaurant bekommen habe, konnte ich zwei Kurse, nämlich einen Englischkurs und einen Computerkurs, besuchen. Sonst war ich jeden Tag im Restaurant, um zu arbeiten. Morgens in der Früh mussten wir anfangen, spät in der Nacht, dann sind wir nachhause gegangen.
Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?
Beschwerdeführer: Nein. Ich habe keinen Abschluss.
Richter: Haben Sie noch Verwandte? Wenn ja, wo und wie leben Ihre Verwandten?
Beschwerdeführer: Ich habe zwei Tanten mütterlicherseits in Afghanistan. Sie leben in Kabul, wo genau weiß ich nicht.
Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?
Beschwerdeführer: Am ersten Tag, an dem ich nach Österreich gekommen bin, habe ich in XXXX gelebt. Dort bin ich in das Gymnasium gegangen. Nachdem ich gemerkt habe, dass es zu schwer für mich war, habe ich die Schule gewechselt und bin in ein Jugend College gegangen. Das habe ich abgeschlossen. Ich bin auch nachXXXX übersiedelt. Ich habe auch bis B1 ein Jugend College absolviert. Ich hatte eine kurze Computerausbildung, für ca. 3 Monate. Ich habe einen Abschluss als "Full Stack Web Developer". Nachdem ich diesen Kurs beendet habe, habe ich auch ein paar Bewerbungen geschrieben, um einen Job zu finden. Ich habe an verschiedene Firmen geschrieben, bis jetzt habe ich leider keine positive Antwort bekommen aber ich versuche es weiter bis ich einen Praktikumsplatz finde. Ich habe versucht ehrenamtlich zu helfen. Wo es möglich war, habe ich ehrenamtlich geholfen. Ich habe auch E-Mails, wo bestätigt wird, dass ich dort geholfen habe. Ich muss sagen, dass ich in den ca. 3 Jahren sehr viel hier gelernt habe. Ich war auch bei XXXX, und habe dort auch einen Aufnahmetest gehabt. Ich hoffe immer noch, dass ich eine positive Antwort bekomme. Ich würde gerne bei XXXX arbeiten. Die Familie, die heute anwesend ist, habe ich vor ca. 2 Jahren kennengelernt. Ich muss ehrlich sagen, dass mir die Familie sehr geholfen hat, z.B. beim Lernen für Mathematik. An den Feiertagen bin ich meistens mit der Familie zusammen gewesen. Auch in der Weihnachtszeit war ich bei der Familie, Ostern habe ich auch bei der Familie verbracht.
Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?
Beschwerdeführer: Ja, ich habe viele Freunde und Bekannte. Es gibt von meiner ehemaligen Gymnasiumzeit viele Freunde. Ich kenne viele Freunde, von der Tochter der Familie. Wenn ich bei Geburtstagsfeiern und ähnlichen mitgegangen bin, habe ich Leute kennengelernt.
Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?
Beschwerdeführer: Ja. Bevor ich nach XXXX gezogen bin, habe ich in einer Mannschaft Fußball gespielt. Zurzeit spiele ich auch in einer Mannschaft namens "XXXX". Ich habe jetzt auch die Erlaubnis bei offiziellen Spielen dabei zu sein und mitzuspielen.
Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!
Beschwerdeführer: Ich muss ehrlich sagen, in dieser Situation, in der ich in Afghanistan war, war eine sehr schlechte Situation. Ich habe schlechte Sachen miterlebt. Ich habe Leute gesehen, die ermordet wurden. Ich kann Ihnen ein Beispiel geben. An einem Tag und der darauffolgenden Nacht gab es eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten. Im oberen Stockwerk meiner Wohnung gab es sunnitische junge Männer die getötet wurden. Ich habe Glück gehabt in dieser Nacht. Ein Grund, warum ich noch lebe, war, dass ich kein Student bin. Die Auseinandersetzung hat auf der Universität begonnen, weshalb sie zuerst Studenten töten wollten. Da die Leute wussten, dass bei uns auch einige Studenten wohnen, wurde das Haus angegriffen. Ich kann Ihnen auch ein anderes Beispiel erzählen. Eines Tages war ich bei einem Freund in seinem Geschäft, der als Schneider gearbeitet hat. Plötzlich ist jemand aufgetaucht und hat vor unseren Augen auf jemanden geschossen. Ich muss ehrlich sagen, besonders dieses Ereignis hat bis heute eine mentale Wirkung in mir. Deshalb, wenn ich jetzt eine Waffe sehe, habe ich das Gefühl, dass jetzt auf mich geschossen wird. Ein Freund von mir hat mir erzählt, dass er selber mit seinen Augen gesehen hat, dass einige Leute gekommen sind und einen Verkehrspolizisten auf der Straße erschossen haben. Wenn jemand so einfach einen Verkehrspolizisten töten kann, bin ich als einfacher Mensch stark gefährdet. In dem Ort, in dem ich in Kabul gelebt habe, gab es auch ein anderes Problem, weil es Leute gab, die pädophil waren. Niemand weiß, wo diese Leute wohnen und wer sie sind. Meistens sind es Busfahrer. Ich habe vor dieser Sache immer Angst gehabt, deswegen konnte ich nicht gut schlafen. Besonders nach dem Ereignis, das zwischen Sunniten und Schiiten gewesen ist, war meine geistige und mentale Situation noch schlechter. Deswegen konnte ich dort nicht mehr leben. Da ich in jungen Jahren dort gewesen bin, habe ich noch mehr Angst gehabt, besonders vor dieser sexuellen Sache. Wie Sie vielleicht wissen, besonders in der Provinz Badachschan, ist die Sicherheitslage sehr gefährlich, weil die Daesch und die Taliban anwesend sind.
Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?
Beschwerdeführer: Ich muss ehrlich sagen, ich bin zwei Mal sehr ernst bedroht worden. Es kamen Leute in mein Zimmer, dass ich das Gefühl gehabt habe, dass sie irgendwas Sexuelles von mir wollen. Ich habe Angst gehabt und es ist mir in dieser Nacht gelungen von dort zu flüchten. Der Grund war, dass dieses Zimmer, das ich gehabt habe, nicht an einem sehr guten Ort war und damit praktisch jeder hineinkommen konnte. Ich glaube, ich kann hier eine zweite Chance für mein Leben bekommen, weil in dieser Nacht, in der die Schiiten die Sunniten angegriffen haben, wäre es sicher möglich gewesen, dass ich getötet worden wäre oder an dem Tag, an dem ich in dem Geschäft meines Freundes war, wäre es auch möglich gewesen, dass mich die Kugel getroffen hätte.
Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan bedroht?
Beschwerdeführer: Wenn ich jetzt sein würde, kenne ich niemanden dort. Ich kann dort nicht noch einmal anfangen. Damit meine ich, wenn ich dort bin, kommen alle Ereignisse wieder in meinen Kopf. Ich fühle mich dort nicht sicher. Obwohl das meine Heimat ist, kann mich der Staat nicht schützen, aus diesem Grund werde ich mich dort nicht sicher fühlen. Wenn ich z.B. in Afghanistan angegriffen werde oder auf mich geschossen wird. Zu wem soll ich gehen um eine Anzeige zu erstatten? Ich habe hier gelernt, dass wenn man nur einen Kugelschreiber von irgendwo stiehlt, das angezeigt wird. So etwas gibt es in Afghanistan nicht. Aus diesem Grund habe ich in Österreich Schutz gesucht.
Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?
Beschwerdeführer: Von Afghanistan bin ich nach Pakistan, von Pakistan in den Iran, von Iran in die Türkei, von der Türkei nach Griechenland, von Griechenland nach Mazedonien, dann weiter nach Serbien, Ungarn und dann nach Österreich. Das Ganze war schlepperunterstützt.
Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?
Beschwerdeführer: Das Geld hat am Anfang mein Bruder in Afghanistan bezahlt. Ich glaube ca. 5.000 Dollar.
Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!
Beschwerdeführer: Ein Grund war, dass ich bei meinen vergangenen Einvernahmen nicht alles erklären konnte, da zu wenig Zeit war. Nachdem ich den negativen Bescheid bekommen habe, bin ich darauf gekommen, dass ich damals entweder nicht genug Zeit hatte oder es nicht gut übersetzt wurde und deswegen einen negativen Bescheid bekam. Deswegen habe ich Beschwerde erhoben. Gott sei Dank, hatte ich heute genug Zeit, um alles zu erzählen.
Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?
Beschwerdeführer: Wie ich schon sagte, wenn es nach mir ginge würde ich niemals nach Afghanistan fahren. Diese Sachen, die damals in Afghanistan passiert sind, wenn ich dort bin kommt alles noch einmal zurück zu mir. Das möchte ich nicht noch einmal erleben. Ich möchte nicht, dass sich dadurch meine mentale Situation verschlechtert.
Der Rechtsvertreter legt 8 Empfehlungsschreiben, die Bestätigung des Abschlusses "Full Stack Web Developer" vom XXXX, Bestätigungen der beiden Fußballvereine samt Spielerpass, Bestätigung Abschluss einer Mathematikprüfung, Bewerbung bei der XXXX für ehrenamtliche Tätigkeiten, Bewerbung bei XXXX, Bewerbung um Volontariat mit Antwortschreibung.
Rechtsvertreter: Sind Sie nach dem Erdrutsch in Ihrem Heimatdorf und der Flucht nach Kabul noch einmal in Ihr Heimatdorf zurückgekehrt?
Beschwerdeführer: Nach der Flut war ich noch einmal in meinem Heimatdorf, da ich meine Familie verloren habe. Ich habe noch einmal ein Monat dort gelebt.
Rechtsvertreter: Wie hat sich die Situation in diesem Monat dargestellt?
Beschwerdeführer: Es war alles kaputt. 300 Familien haben dadurch ihre Häuser verloren.
Rechtsvertreter: Wie lange haben Sie Ihre Arbeit in Kabul ausgeübt und ist Ihnen etwas übergeblieben?
Beschwerdeführer: Ich habe pro Monat 2.000 Afghani bekommen, davon musste ich mein Zimmer bezahlen. Auch diese zwei Kurse habe ich davon finanziert. Es blieb nichts übrig.
Rechtsvertreter: Hat es jemals Konsequenzen aus den Vorfällen in dem Wohnheim gegeben?
Beschwerdeführer: Nein, es ist nichts geschehen. Ich weiß nur, dass diese zwei Studenten, die getötet wurden, am nächsten Morgen abgeholt wurden. Es fand keine Untersuchung oder Aufklärung statt.
Rechtsvertreter: Haben Sie noch Kontakt zu jemanden aus Kabul?
Beschwerdeführer: Nein. Seit 3 Jahren bin ich von dort weg.
Rechtsvertreter: Was ist mit Ihrem Bruder?
Beschwerdeführer: Ja, mein Bruder lebt immer noch in Afghanistan, in der Provinz Badach-schan.
Rechtsvertreter: Haben Sie Kontakt zu ihm?
Beschwerdeführer: Manchmal, aber nicht regelmäßig. Er hat keinen Zugang zu Internet und dadurch ist die Kontaktaufnahme schwierig.
Rechtsvertreter: Wie geht es Ihrem Bruder? Kann er Ihnen wirtschaftlich helfen?
Beschwerdeführer: Ich glaube nicht, weil wenn er selber über die Runden kommen kann, würde ich mich für ihn freuen. Mehr kann er nicht geben.
Rechtsvertreter: Schildern Sie uns bitte auf Deutsch einen Tagesablauf.
Beschwerdeführer (auf Deutsch): Ich bin seit zwei Jahren in XXXX. Am Wochenende gehe ich zum Fußballtraining. Ich bin mit der Familie XXXX am Wochenende in XXXX oder im XXXX. Jetzt spiele ich in einer Mannschaft und jetzt darf ich auch an Spielen teilnehmen. Ich suche eine Arbeit oder etwas. Ich möchte immer beschäftigt sein. Ich habe auch geplant verschiedene Bewerbungen an Firmen zu schicken. Ich brauche 3 Monate Praktikum und kann nach diesen 3 Monaten arbeiten. Ich möchte auch B2 machen.
Der Beschwerdeführer stellt keine weiteren Beweisanträge vor.
Richter: Haben Sie den Dolmetscher gut verstanden?
Beschwerdeführer: Ja.
[...]".
7. Mit Schriftsatz vom 17.7.2018 legte der Beschwerdeführer weitere Unterlagen zur Integration vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX, ist afghanischer Staatsangehöriger, geboren am XXXX und somit volljährig. Er stellte am XXXXden gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er spricht zudem Paschtu und Englisch und kann diese Sprachen sowohl lesen als auch schreiben. Zudem verfügt der Beschwerdeführer über Sprachkenntnisse in Türkisch und Urdu. Er ist ledig und hat keine Kinder. Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Badakhshan. Er ist dort im afghanischen Familienverband aufgewachsen und mit den afghanischen Sitten und Traditionen vertraut. Die Eltern des Beschwerdeführers sind bereits verstorben.
Der Beschwerdeführer besuchte in seiner Heimatprovinz zehn Jahre die Grundschule und arbeitete anschließend in Kabul als Kellner. Während seines Aufenthalts in Kabul besuchte er einen Englisch- und Computerkurs.
Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt Anfang 2015 und reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen nach Europa.
Der Beschwerdeführer hat Verwandte in Afghanistan. Sein verheirateter Bruder sowie seine zwei Tanten mütterlicherseits leben in Kabul. Der Beschwerdeführer hat zu seinem Bruder unregelmäßigen Kontakt.
Der Beschwerdeführer ist gesund und benötigt weder ärztliche Behandlung noch Medikamente.
1.2 Zu seinen Fluchtgründen und der Rückkehr nach Afghanistan
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt im Jahr 2015 verlassen und reiste im selben Jahr nach Europa.
Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich weder bedroht noch verfolgt.
Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan weder auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit als Tadschike noch auf Grund seiner Religionszugehörigkeit als sunnitischer Moslem eine konkret gegen ihn gerichtete psychische bzw physische Gewalt.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt war oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan, zu befürchten hätte.
1.3 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich
Der Beschwerdeführer hält sich seit April 2015 durchgehend in Österreich auf.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich weder Verwandte noch sonstige Familienangehörige.
Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über zahlreiche soziale Kontakte, hat viele österreichische Freunde und ist bereits sehr gut in die österreichische Gesellschaft integriert. Seit April 2016 steht der Beschwerdeführer in engem Kontakt mit einer österreichischen Familie, die ihn bei der Wohnungssuche, Bildungsfragen, Behördengängen und Alltagsangelegenheiten unterstützt hat. Der Beschwerdeführer besucht diese Familie regelmäßig und verbringt sämtliche Feierlichkeiten und Festtage im Kreis dieser Familie. An den Wochenenden unternimmt der Beschwerdeführer Ausflüge mit der Familie. Die Familienmitglieder beschreiben den Beschwerdeführer selbst als einen Teil ihrer Familie.
Der Beschwerdeführer lebt seit Juni 2016 in einer eigenen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus und ist in seiner Hausgemeinschaft bestens integriert. Er nimmt an Festen der Hausbewohner teil und leistet Freiwilligenarbeit bei der Betreuung der Wohnhausanlage. Der Beschwerdeführer wird sowohl von seinen Nachbarn als auch von seiner Unterkunftgeberin sehr geschätzt.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich mehrere Deutschkurse besucht. Im März 2017 absolvierte er die ÖSD-Prüfung auf dem Niveau A2, im Oktober 2017 bestand er die ÖSD-Prüfung auf dem Niveau B1. Es wird festgestellt, dass die Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers bereits sehr gut sind.
Der Beschwerdeführer besuchte unmittelbar nach seiner Einreise in Österreich im April 2015 bis Juni 2016 die sechste Klasse eines Gymnasiums. Anschließend nahm er bis Jänner 2018 für die Dauer von eineinhalb Jahren an einem Jugendcollege auf der Kursstufe B1 teil, wo er wöchentlich zwölf Stunden Deutsch als Zweitsprache und acht Stunden Pflicht- und Wahlfächer in den unterschiedlichsten Fächern absolvierte. Im August 2017 bestand der Beschwerdeführer die Prüfung des Jugendcolleges im Fach Mathematik auf dem Niveau B1.2.
Im Anschluss an die Absolvierung des Jugendcolleges machte der Beschwerdeführer eine mehrmonatige IT-Fachausbildung, die er im März 2018 mit dem Titel "Full Stack Web Developer" erfolgreich abschloss. Nach Abschluss seiner Fachausbildung absolvierte der Beschwerdeführer ein dreimonatiges Volontariat in einem IT-Unternehmen. Das Unternehmen stellte dem Beschwerdeführer schriftlich eine Weiterbeschäftigung in Aussicht.
Der Beschwerdeführer ist seit Sommer 2017 Mitglied in einem örtlichen Fußballverein. Er verfügt seit Februar 2018 über einen Spielerpass des XXXX und nimmt seitdem mit seiner Mannschaft regelmäßig an Fußballturnieren der Amateurliga teil.
Unter Berücksichtigung der Persönlichkeitskonstellation des Beschwerdeführers, dessen Lebens- und Ausbildungsverlaufs seit seiner Einreise und seinen Zukunftsperspektiven ist von einer positiven Prognose auszugehen.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers
Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 2.3.2017, Stand: 30.1.2018):
1.4.1 Aktualisierung der Sicherheitslage - Q1.2018
Landesweit haben in den letzten Monaten Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (The Guardian; vgl. BBC 29.1.2018). Die Gewalt Aufständischer gegen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen hat in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban erhöhen ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (Asia Pacific 30.1.2018).
Im Stadtzentrum und im Diplomatenviertel wurden Dutzende Hindernisse, Kontrollpunkte und Sicherheitskameras errichtet. Lastwagen, die nach Kabul fahren, werden von Sicherheitskräften, Spürhunden und weiteren Scannern kontrolliert, um sicherzustellen, dass keine Sprengstoffe, Raketen oder Sprengstoffwesten transportiert werden. Die zeitaufwändigen Kontrollen führen zu langen Wartezeiten; sollten die korrekten Papiere nicht mitgeführt werden, so werden sie zum Umkehren gezwungen. Ebenso werden die Passagiere in Autos von der Polizei kontrolliert (Asia Pacific 30.1.2018).
Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie 29.1.2018
Am Montag den 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der Islamische Staat bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).
Quellen zufolge operiert der IS in den Bergen der östlichen Provinz Nangarhar (The Guardian 29.1.2018); die Provinzhauptstadt Jalalabad wird als eine Festung des IS erachtet, dessen Kämpfer seit 2015 dort aktiv sind (BBC 24.1.2018). Nachdem der IS in Ostafghanistan unter anhaltenden militärischen Druck gekommen war, hatte dieser immer mehr Angriffe in den Städten für sich beansprucht. Nationale und internationale Expert/innen sehen die Angriffe in den Städten als Überlappung zwischen dem IS und dem Haqqani-Netzwerk (einem extremen Arm der Taliban) (NYT 28.1.2018).
Angriff im Regierungs- und Diplomatenviertel in Kabul am 27.1.2018
Bei einem der schwersten Angriffe der letzten Monate tötete am Samstag den 27.1.2018 ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 28.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (The Guardian 27.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Der Vorfall ereignete sich im Regierungs- und Diplomatenviertel und wird als einer der schwersten seit dem Angriff vom Mai 2017 betrachtet, bei dem eine Bombe in der Nähe der deutschen Botschaft explodiert war und 150 Menschen getötet hatte (Reuters 28.1.2018).
Die Taliban verlautbarten in einer Aussendung, der jüngste Angriff sei eine Nachricht an den US-amerikanischen Präsidenten, der im letzten Jahr mehr Truppen nach Afghanistan entsendete und Luftangriffe sowie andere Hilfestellungen an die afghanischen Sicherheitskräfte verstärkte (Reuters 28.1.2018).
Angriff auf die NGO Save the Children am 24.1.2018
Am Morgen des 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden dabei getötet und zwölf weitere verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich 50 Mitarbeiter/innen im Gebäude. Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018).
Der jüngste Angriff auf eine ausländische Hilfseinrichtung in Afghanistan unterstreicht die wachsende Gefahr, denen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in Afghanistan ausgesetzt sind (The Guardian 24.1.2018).
Das Gelände der NGO Save the Children befindet sich in jener Gegend von Jalalabad, in der sich auch andere Hilfsorganisationen sowie Regierungsgebäude befinden (BBC 24.1.2018). In einer Aussendung des IS werden die Autobombe und drei weitere Angriffe auf Institutionen der britischen, schwedischen und afghanischen Regierungen (Reuters 24.1.2018).
Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul am 20.1.2018
Der Angriff bewaffneter Männer auf das Luxushotel Intercontinental in Kabul, wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018). Fünf bewaffnete Männer mit Sprengstoffwesten hatten sich Zutritt zu dem Hotel verschafft (DW 21.1.2018). Die exakte Opferzahl ist unklar. Einem Regierungssprecher zufolge sollen 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet worden sein. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden (BBC 21.1.2018). Alle Fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).
Wie die Angreifer die Sicherheitsvorkehrungen durchbrechen konnten, ist Teil von Untersuchungen. Erst seit zwei Wochen ist eine private Firma für die Sicherheit des Hotels verantwortlich. Das Intercontinental in Kabul ist trotz des Namens nicht Teil der weltweiten Hotelkette, sondern im Besitz der afghanischen Regierung. In diesem Hotel werden oftmals Hochzeiten, Konferenzen und politische Zusammentreffen abgehalten (BBC 21.1.2018). Zum Zeitpunkt des Angriffes war eine IT-Konferenz im Gange, an der mehr als 100 IT-Manager und Ingenieure teilgenommen hatten (Reuters 20.1.2018; vgl. NYT 21.1.2018).
Insgesamt handelte es sich um den zweiten Angriff auf das Hotel in den letzten acht Jahren (NYT 21.1.2018). Zu dem Angriff im Jahr 2011 hatten sich ebenso die Taliban bekannt (Reuters 20.1.2018).
Unter den Opfern waren ausländische Mitarbeiter/innen der afghanischen Fluggesellschaft Kam Air, u.a. aus Kirgisistan, Griechenland (DW 21.1.2018), der Ukraine und Venezuela. Die Fluglinie verbindet jene Gegenden Afghanistans, die auf dem Straßenweg schwer erreichbar sind (NYT 29.1.2018).
1.4.2 Aktualisierung der Sicherheitslage - Q4.2017
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil - der Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Kräften und Regierungskräften hält landesweit an (UN GASC 20.12.2017). Zur Verschlechterung der Sicherheitslage haben die sich intensivierende Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften beigetragen (SIGAR 30.10.2017; vgl. SCR 30.11.2017).
Die afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte verstärkten deutlich ihre Luftoperationen (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die in 22 Provinzen registriert wurden. So haben sich im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) Luftangriffe um 73% gegenüber dem Vorjahreswert erhöht (UN GASC 20.12.2017). Der Großteil dieser Luftangriffe wurde in der südlichen Provinz Helmand und in der östlichen Provinz Nangarhar erfasst (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die als Hochburgen des IS und der Taliban gelten (SIGAR 30.10.2017). Verstärkte Luftangriffe hatten wesentliche Auswirkungen und führten zu hohen Opferzahlen bei Zivilist/innen und regierungsfeindlichen Elementen (UN GASC 20.12.2017). Zusätzlich ist die Gewalt in Ostafghanistan auf die zunehmende Anzahl von Operationen der ANDSF und der Koalitionskräfte zurück zu führen (SIGAR 30.10.2017). Landesweit kam es immer wieder zu Sicherheitsoperationen, bei denen sowohl aufständische Gruppierungen als auch afghanische Sicherheitskräfte Opfer zu verzeichnen hatten (Pajhwok 1.12.2017; TP 20.12.2017; Xinhua 21.12.2017; Tolonews 5.12.2017; NYT11.12.2017). Den Vereinten Nationen zufolge hat sich der Konflikt seit Anfang des Jahres verändert, sichvon einer asymmetrischen Kriegsführung entfernt und in einen traditionellen Konflikt verwandelt, der von bewaffneten Zusammenstößen zwischen regierungsfeindliche Elementen und der Regierung gekennzeichnet ist. Häufigere bewaffnete Zusammenstöße werden auch als verstärkte Offensive der ANDSF-Operationen gesehen um die Initiative von den Taliban und dem ISKP zu nehmen - in diesem Quartal wurde im Vergleich zum Vorjahreine höhere Anzahl an bewaffneten Zusammenstößen erfasst (SIGAR 30.10.2017).
Sicherheitsrelevante Vorfälle
In den ersten acht Monaten wurden insgesamt 16.290 sicherheitsrelevante Vorfälle von den Vereinten Nationen (UN) registriert; in ihrem Berichtszeitraum (15.6. bis 31.8.2017) für das dritte Quartal, wurden 5.532 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert - eine Erhöhung von 3% gegenüber dem Vorjahreswert. Laut UN haben sich bewaffnete Zusammenstöße um 5% erhöht und machen nach wie vor 64% aller registrierten Vorfälle aus. 2017 gab es wieder mehr lange bewaffnete Zusammenstöße zwischen Regierung und regierungsfeindlichen Gruppierungen. Im Gegensatz zum Vergleichszeitraums des Jahres 2016, verzeichnen die UN einen Rückgang von 3% bei Anschlägen mit Sprengfallen [IEDs - improvised explosive device], Selbstmordangriffen, Ermordungen und Entführungen - nichtsdestotrotz waren sie Hauptursache für zivile Opfer. Die östliche Region verzeichnete die höchste Anzahl von Vorfällen, gefolgt von der südlichen Region (UN GASC 21.9.2017).
Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden in Afghanistan von 1.1.-31.8.2017 19.636 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (Stand: 31.8.2017) (INSO o.D.).
Zivilist/innen
Im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des letzten Jahres registrierte die UNAMA zwischen 1.1. und 30.9.2017 8.019 zivile Opfer (2.640 Tote und 5.379 Verletzte). Dies deutet insgesamt einen Rückgang von fast 6% gegenüber dem Vorjahreswert an (UNAMA 10.2017); konkret hat sich die Anzahl getöteter Zivilist/innen um 1% erhöht, während sich die Zahl verletzter Zivilist/innen um 9% verringert hat (UN GASC 20.12.2017). Wenngleich Bodenoffensiven auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer waren - führte der Rückgang der Anzahl von Bodenoffensiven zu einer deutlichen Verringerung von 15% bei zivilen Opfern. Viele Zivilist/innen fielen Selbstmordattentaten, sowie komplexen Angriffen und IEDs zum Opfer - speziell in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Kandahar und Faryab (UNAMA 10.2017).
Zivile Opfer, die regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben wurden, sind um 37% zurückgegangen: Von insgesamt 849 waren 228 Tote und 621 Verletzte zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden, um 7%: von den 1.150 zivilen Opfer starben 225, während 895 verletzt wurden. Die restlichen Opfer konnten keiner Tätergruppe zugeschrieben werden (UNAMA 10.2017).
High-profile Angriffe
Am 31.10.2017 sprengte sich ein Selbstmordattentäter in der "Green Zone" der Hauptstadt Kabul in die Luft. Der angebliche Täter soll Quellen zufolge zwischen 12-13 Jahren alt gewesen sein. Mindestens vier Menschen starben bei dem Angriff und ein Dutzend weitere wurden verletzt. Dies war der erste Angriff in der "Green Zone" seit dem schweren Selbstmordattentat im Mai 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017). Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall Ende Oktober 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017; UN GASC 20.12.2017)
Am 20.10.2017 sprengte sich ein Angreifer in der Shia Imam Zamam Moschee in Kabul in die Luft; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet und 45 weitere verletzt. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017; UN GASC 20.12.2017). In dem Distrikt Solaina, in der westlichen Provinz Ghor, wurde ebenso eine Moschee angegriffen - in diesem Fall handelt es sich um eine sunnitische Moschee. Die tatsächliche Opferzahl ist umstritten: je nach Quellen sind zwischen 9 und 39 Menschen bei dem Angriff gestorben (Independent 20.10.2017; vgl. NYT 20.10.2017; al Jazeera 20.10.2017).
Am 19.10.2017 wurde im Rahmen eines landesweit koordinierten Angriffes der Taliban 58 afghanische Sicherheitskräfte getötet: ein militärisches Gelände, eine Polizeistationen und ein militärischer Stützpunkt in Kandahar wären beinahe überrannt worden (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017). Einige Tage vor diesem Angriff töteten ein Selbstmordattentäter und ein Schütze mindestens 41 Menschen, als sie ein Polizeiausbildungszentrum in der Provinzhauptstadt Gardez stürmten (Provinz Paktia) (BBC 21.10.2017). In der Woche davor wurden 14 Offiziere der Militärakademie auf dem Weg nach Hause getötet, als ein Selbstmordattentäter den Minibus in die Luft sprengte in dem sie unterwegs waren (NYT 20.10.2017). Die afghanische Armee und Polizei haben dieses Jahrschwere Verlusten aufgrund der Taliban erlitten (BBC 21.10.2017).
Am 7.11.2017 griffen als Polizisten verkleidete Personen/regierungsfeindliche Kräfte eine Fernsehstation "Shamshad TV" an; dabei wurde mindestens eine Person getötet und zwei Dutzend weitere verletzt. Die afghanischen Spezialkräfte konnten nach drei Stunden Kampf, die Angreifer überwältigen. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Guardian 7.11.2017; vgl. NYT 7.11.2017; UN GASC 20.12.2017). (Guardian 7.11.2017)
Bei einem Selbstmordangriff im November 2017 wurden mindestens neun Menschen getötet und einige weitere verletzt; die Versammelten hatten einem Treffen beigewohnt, um den Gouverneur der Provinz Balkh - Atta Noor - zu unterstützen; auch hier bekannte sich der ISzu diesem Selbstmordattentat (Reuters 16.11.2017; vgl. UN GASC 20.12.2017)
Interreligiöse Angriffe "Green Zone" in Kabul
Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt (Reuters 6.8.2017).
Eine Erweiterung der sogenannten Green Zone ist geplant; damit wird Verbündeten der NATO und der US-Amerikaner ermöglicht, auch weiterhin in der Hauptstadt Kabul zu bleiben ohne dabei Risiken ausgesetzt zu sein. Kabul City Compound - auch bekannt als das ehemalige Hauptquartier der amerikanischen Spezialkräfte, wird sich ebenso innerhalb der Green Zone befinden. Die Zone soll hinkünftig vom Rest der Stadt getrennt sein, indem ein Netzwerk an Kontrollpunkten durch Polizei, Militär und privaten Sicherheitsfirmen geschaffen wird. Die Erweiterung ist ein großes öffentliches Projekt, das in den nächsten zwei Jahren das Zentrum der Stadt umgestalten soll; auch sollen fast alle westlichen Botschaften, wichtige Ministerien, sowie das Hauptquartier der NATO und des US-amerikanischen Militärs in dieser geschützten Zone sein. Derzeit pendeln tagtäglich tausende Afghaninnen und Afghanen durch diese Zone zu Schulen und Arbeitsplätzen (NYT 16.9.2017).
Nach einer Reihe von Selbstmordattentaten, die hunderte Opfer gefordert haben, erhöhte die afghanische Regierung die Sicherheit in der zentralen Region der Hauptstadt Kabul - dieser Bereich ist Sitz ausländischer Botschaften und Regierungsgebäude. Die Sicherheit in diesem diplomatischen Bereich ist höchste Priorität, da, laut amtierenden Polizeichef von Kabul, das größte Bedrohungsniveau in dieser Gegend verortet ist und eine bessere Sicherheit benötigt wird. Die neuen Maßnahmen sehen 27 neue Kontrollpunkte vor, die an 42 Straßen errichtet werden. Eingesetzt werden mobile Röntgengeräte, Spürhunde und Sicherheitskameras. Außerdem werden 9 weitere Straßen teilweise gesperrt, während die restlichen sechs Straßen für Autos ganz gesperrt werden. 1.200 Polizist/innen werden in diesem Bereich den Dienst verrichten, inklusive spezieller Patrouillen auf Motorrädern. Diese Maßnahmen sollen in den nächsten sechs Monaten schrittweise umgesetzt werden (Reuters 6.8.2017).
Ein erweiterter Bereich, die sogenannte "Blue Zone" soll ebenso errichtet werden, die den Großteil des Stadtzentrums beinhalten soll - in diesem Bereich werden strenge Bewegungseinschränkungen, speziell für Lastwagen, gelten. Lastwagen werden an einem speziellen externen Kontrollpunkt untersucht. Um in die Zone zu gelangen, müssen sie über die Hauptstraße (die auch zum Flughafen führt) zufahren (BBC 6.8.2017; vgl. Reuters 6.8.2017).
ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte
Informationen zur Stärke der ANDSF und ihrer Opferzahlen werden von den US amerikanischen Kräften in Afghanistan (USFOR-A) geheim gehalten; im Bericht des US Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR) werden Schätzungen angegeben:
Die Stärke der ANDSF ist in diesem Quartal zurückgegangen; laut USFOR-A Betrug die Stärke der ANDSF mit Stand August 2017 etwa 320.000 Mann - dies deutet einen Rückgang von 9.000 Mann gegenüber dem vorhergehenden Quartal an. Dennoch erhöhte sich der Wert um
3.500 Mann gegenüber dem Vorjahr (SIGAR 30.10.2017). Die Schwundquote der afghanischen Nationalpolizei war nach wie vor ein großes Anliegen; die Polizei litt unter hohen Opferzahlen (UN GASC 20.12.2017). Im Rahmen eines Memorandum of Understanding (MoU) zwischen dem afghanischen Verteidigungs- und Innenministerium wurde die afghanische Grenzpolizei (Afghan Border Police) und die afghanische Polizei für zivile Ordnung (Afghan National Civil Order Police) dem Verteidigungsministerium übertragen (UN GASC 20.12.2017). Um sogenanntem "Geisterpersonal" vorzubeugen, werden seit 1.1.2017 Gehälter nur noch an jenes Personal im Innen- und Verteidigungsministerium ausbezahlt, welches ordnungsgemäß registriert wurde (SIGAR 30.10.2017)
Regierungsfeindliche Gruppierungen:
Taliban
Die Taliban waren landesweit handlungsfähig und zwangen damit die Regierung erhebliche Ressourcen einzusetzen, um den Status Quo zu erhalten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive im April, haben die Taliban - im Gegensatz zum Jahr 2016 - keine größeren Versuche unternommen Provinzhauptstädte einzunehmen. Nichtsdestotrotz, gelang es den Taliban zumindest temporär einige Distriktzentren zu überrennen und zu halten; dazu zählen der Distrikt Taywara in der westlichen Provinz Ghor, die Distrikte Kohistan und Ghormach in der nördlichen Provinz Faryab und der Distrikt Jani Khel in der östlichen Provinz Paktia. Im Nordosten übten die Taliban intensiven Druck auf mehrere Distrikte entlang des Autobahnabschnittes Maimana-Andkhoy in der Provinz Faryab aus; die betroffenen Distrikte waren: Qaramol, Dawlat Abad, Shirin Tagab und Khwajah Sabz Posh. Im Süden verstärkten die Taliban ihre Angriffe auf Distrikte, die an die Provinzhauptstädte von Kandahar und Helmand angrenzten (UN GASC 21.9.2017).
IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh
Die Operationen des ISIL-KP in Afghanistan sind weiterhin auf die östliche Region Afghanistans beschränkt - nichtsdestotrotz bekannte sich die Gruppierung landesweit zu acht nennenswerten Vorfällen, die im Berichtszeitraum von den UN registriert wurden. ISIL-KP verdichtete ihre Präsenz in der Provinz Kunar und setze ihre Operationen in Gegenden der Provinz Nangarhar fort, die von den ANDSF bereits geräumt worden waren. Angeblich wurden Aktivitäten des ISIL-KP in den nördlichen Provinzen Jawzjan und Sar-e Pul, und den westlichen Provinzen Herat und Ghor berichtet (UN GASC 21.9.2017).
Im sich zuspitzenden Kampf gegen den ISIL-KP können sowohl die ANDSF, als auch die Koalitionskräfte auf mehrere wichtige Erfolge im zweiten Quartal verweisen (SIGAR 31.7.2017): Im Juli wurde im Rahmen eines Luftangriffes in der Provinz Kunar der ISIL-KP-Emir, Abu Sayed, getötet. Im August wurden ein weiterer Emir des ISIL-KP, und drei hochrangige ISIL-KP-Führer durch einen Luftangriff getötet. Seit Juli 2016 wurden bereits drei Emire des ISIL-KP getötet (Reuters 13.8.2017); im April wurde Sheikh Abdul Hasib, gemeinsam mit 35 weiteren Kämpfern und anderen hochrangigen Führern in einer militärischen Operation in der Provinz Nangarhar getötet (WT 8.5.2017; vgl. SIGAR 31.7.2017). Ebenso in Nangarhar, wurde im Juni der ISIL-KP-Verantwortliche für mediale Produktionen, Jawad Khan, durch einen Luftangriff getötet (SIGAR 31.7.2017; vgl.: Tolonews 17.6.2017).
Politische Entwicklungen
Die Vereinten Nationen registrierten eine Stärkung der Nationalen Einheitsregierung. Präsident Ghani und CEO Abdullah einigten sich auf die Ernennung hochrangiger Posten - dies war in der Vergangenheit Grund für Streitigkeiten zwischen den beiden Führern gewesen (UN GASC 21.9.2017).
Die parlamentarische Bestätigung einiger war nach wie vor ausständig; derzeit üben daher einige Minister ihr Amt kommissarisch aus. Die unabhängige afghanische Wahlkommission (IEC) verlautbarte, dass die Parlaments- und Distriktratswahlen am 7. Juli 2018 abgehalten werden (UN GASC 21.9.2017).
1.4.3 Aktualisierung der Sicherheitslage - Q3.2017
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil; die Regierung und die Taliban wechselten sich während des Berichtszeitraumes bei Kontrolle mehrerer Distriktzentren ab - auf beiden Seiten waren Opfer zu beklagen (UN GASC 21.9.2017). Der Konflikt in Afghanistan ist gekennzeichnet von zermürbenden Guerilla-Angriffen, sporadischen bewaffneten Zusammenstößen und gelegentlichen Versuchen Ballungszentren zu überrennen. Mehrere Provinzhauptstädte sind nach wie vor in der Hand der Regierung; dies aber auch nur aufgrund der Unterstützung durch US-amerikanische Luftangriffe. Dennoch gelingt es den Regierungskräften kleine Erfolge zu verbuchen, indem sie mit unkonventionellen Methoden zurückschlagen (The Guardian 3.8.2017). Der afghanische Präsident Ghani hat mehrere Schritte unternommen, um die herausfordernde Sicherheitssituation in den Griff zu bekommen. So hielt er sein Versprechen den Sicherheitssektor zu reformieren, indem er korrupte oder inkompetente Minister im Innen- und Verteidigungsministerium feuerte, bzw. diese selbst zurücktraten; die afghanische Regierung begann den strategischen 4-Jahres Sicherheitsplan für die ANDSF umzusetzen (dabei sollen die Fähigkeiten der ANDSF gesteigert werden, größere Bevölkerungszentren zu halten); im Rahmen des Sicherheitsplanes sollen Anreize geschaffen werden, um die Taliban mit der afghanischen Regierung zu versöhnen; Präsident Ghani bewilligte die Erweiterung bilateraler Beziehungen zu Pakistan, so werden unter anderem gemeinsamen Anti-Terror Operationen durchgeführt werden (SIGAR 31.7.2017). Zwar endete die Kampfmission der US-Amerikaner gegen die Taliban bereits im Jahr 2014, dennoch werden, laut US-amerikanischem Verteidigungsminister, aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage 3.000 weitere Soldaten nach Afghanistan geschickt. Nach wie vor sind über 8.000 US-amerikanische Spezialkräfte in Afghanistan, um die afghanischen Truppen zu unterstützen (BBC 18.9.2017).
ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte
Laut einem Bericht des amerikanischen Verteidigungsministeriums behielten die ANDSF, im Berichtszeitraum 1.12.2016-31.5.2017 trotz aufständischer Gruppierungen, auch weiterhin Kontrolle über große Bevölkerungszentren: Die ANDSF waren im Allgemeinen fähig große Bevölkerungszentren zu schützen, die Taliban davon abzuhalten gewisse Gebiete für einen längeren Zeitraum zu halten und auf Talibanangriffe zu reagieren. Die ANDSF konnten in städtischen Gebieten Siege für sich verbuchen, während die Taliban in gewissen ländlichen Gebieten Erfolge erzielen konnten, in denen die ANDSF keine dauernde Präsenz hatten. Spezialeinheiten der afghanischen Sicherheitskräfte (ASSF - Afghan Special Security Forces) leiteten effektiv offensive Befreiungsoperationen (US DOD 6.2017).
Bis Ende April 2017 lag die Truppenstärke der afghanischen Armee [ANA - Afghan National Army] bei 90,4% und die der afghanischen Nationalpolizei [ANP - Afghan National Police] bei 95,1% ihrer Sollstärke (UN GASC 20.6.2017).
High-profile Angriffe
Als sichere Gebiete werden in der Regel die Hauptstadt Kabul und die regionalen Zentren Herat und Mazar-e Sharif genannt. Die Wahrscheinlichkeit, hier Opfer von Kampfhandlungen zu werden, ist relativ geringer als zum Beispiel in den stark umkämpften Provinzen Helmand, Nangarhar und Kunduz (DW 31.5.2017).
Hauptstadt Kabul
Kabul wird immer wieder von Attentaten erschüttert (DW 31.5.2017).
Am 31.5.2017 kamen bei einem Selbstmordattentat im hochgesicherten Diplomatenviertel Kabuls mehr als 150 Menschen ums Leben und mindestens 300 weitere wurden schwer verletzt als ein Selbstmordattentäter einen Sprengstoff beladenen Tanklaster mitten im Diplomatenviertel in die Luft sprengte (FAZ 6.6.2017; vgl. auch:
al-Jazeera 31.5.2017; The Guardian 31.5.2017; BBC 31.5.2017; UN News Centre 31.5.2017). Bedeutend ist der Angriffsort auch deswegen, da dieser als der sicherste und belebteste Teil der afghanischen Hauptstadt gilt. Kabul war in den Wochen vor diesem Anschlag relativ ruhig (al-Jazeera 31.5.2017).
Zunächst übernahm keine Gruppe Verantwortung für diesen Angriff; ein Talibansprecher verlautbarte nicht für diesen Vorfall verantwortlich zu sein (al-Jazeera 31.5.2017). Der afghanische Geheimdienst (NDS) macht das Haqqani-Netzwerk für diesen Vorfall verantwortlich (The Guardian 2.6.2017; vgl. auch: Fars News 7.6.2017); schlussendlich bekannte sich der Islamische Staat dazu (Fars News 7.6.2017).
Nach dem Anschlag im Diplomatenviertel in Kabul haben rund 1.000 Menschen, für mehr Sicherheit im Land und eine Verbesserung der Sicherheit in Kabul demonstriert (FAZ 2.6.2017). Bei dieser Demonstration kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften (The Guardian 2.6.2017); dabei wurden mindestens sieben Menschen getötet und zahlreiche verletzt (FAZ 2.6.2017).
Auf der Trauerfeier für einen getöteten Demonstranten- den Sohn des stellvertretenden Senatspräsidenten - kam es am 3.6.2017 erneut zu einem Angriff, bei dem mindestens 20 Menschen getötet und 119 weitere verletzt worden waren. Polizeiberichten zufolge, waren während des Begräbnisses drei Bomben in schneller Folge explodiert (FAZ 3.6.2017; vgl. auch: The Guardian 3.6.2017); die Selbstmordattentäter waren als Trauergäste verkleidet (The Guardian 3.6.2017). Hochrangige Regierungsvertreter, unter anderem auch Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, hatten an der Trauerfeier teilgenommen (FAZ 3.6.2017; vgl. auch: The Guardian 3.6.2017).
Herat
Anfang Juni 2017 explodierte eine Bombe beim Haupteingang der historischen Moschee Jama Masjid; bei diesem Vorfall wurden mindestens 7 Menschen getötet und 15 weitere verletzt (Reuters 6.6.2017; vgl. auch: TMN 7.6.2017). Zu diesem Vorfall hat sich keine Terrrorgruppe bekannt (TMN 7.6.2017; vgl. auch: US News 12.6.2017). Sirajuddin Haqqani - stellvertretender Leiter der Taliban und Führer des Haqqani Netzwerkes - verlautbarte, die Taliban wären für diese Angriffe in Kabul und Herat nicht verantwortlich (WP 12.6.2017).
Mazar-e Sharif
Auf der Militärbase Camp Shaheen in der nördlichen Stadt Mazar-e Sharif eröffnete Mitte Juni 2017 ein afghanischer Soldat das Feuer auf seine Kameraden und verletzte mindestens acht Soldaten (sieben US-amerikanische und einen afghanischen) (RFE/RL 17.6.2017).
Die Anzahl solcher "Insider-Angriffe" [Anm.: auch green-on-blue attack genannt] hat sich in den letzten Monaten erhöht. Unklar ist, ob die Angreifer abtrünnige Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte sind oder ob sie Eindringlinge sind, die Uniformen der afghanischen Armee tragen (RFE/RL 17.6.2017). Vor dem Vorfall im Camp Shaheen kam es dieses Jahr zu zwei weiteren registrierten Insider-Angriffen: der erste Vorfall dieses Jahres fand Mitte März auf einem Militärstützpunkt in Helmand statt: ein Offizier des afghanischen Militärs eröffnete das Feuer und verletzte drei US-amerikanische Soldaten (LWJ 11.6.2017; vgl. auch: al-Jazeera 11.6.2017).