TE Bvwg Beschluss 2018/12/7 W228 2193642-1

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Veröffentlicht am 07.12.2018
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Entscheidungsdatum

07.12.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W228 2193642-1/4E

W228 2193651-1/4E

W228 2193654-1/4E

W228 2193657-1/4E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald WÖGERBAUER über die Beschwerden der XXXX , geboren am XXXX .1984 (BF1), des XXXX , geboren am XXXX .1976 (BF2), des XXXX , geboren am XXXX .2009 (BF3), sowie des XXXX , geboren am XXXX .2013 (BF4), BF2 Staatsangehörigkeit Afghanistan, BF1, BF3 und BF4 Staatsangehörigkeit fraglich, BF3 und BF4 vertreten durch die Mutter XXXX als gesetzliche Vertreterin, alle vertreten durch den Rechtsanwalt Mag. XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2018, Zlen: XXXX beschlossen:

A) In Erledigung der Beschwerden werden die angefochtenen Bescheide

behoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang

Die BF1 und der BF2 sind illegal in die Republik Österreich eingereist und haben am 23.09.2015 gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz gestellt.

Gleichzeitig wurde jeweils ein Antrag auf internationalen Schutz für

den BF3, am XXXX .2009 geborenes Kind der BF1 und des BF2, und für

den BF4, am XXXX .2013 geborenes Kind der BF1 und des BF2, gestellt.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 23.09.2015 gab die BF1 an, dass sie im Iran keine Identität gehabt habe. Sie habe 30 Jahre lang deshalb ein Problem gehabt und habe sie nicht gewollt, dass ihre Kinder dasselbe Problem hätten.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 23.09.2015 gab der BF2 an, dass er bereits als Kleinkind Afghanistan verlassen habe und dort niemanden mehr habe. Den Iran habe er schließlich verlassen, weil seine Frau und seine Kinder im Iran keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen hätten.

Die BF1 wurde am 13.11.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie an, dass sie im Iran geboren sei und immer dort gelebt habe. Sie habe den Iran schließlich aufgrund ihrer Staatenlosigkeit verlassen. Als ihre Kinder älter geworden seien und zur Schule gehen hätten müssen, sei die Staatenlosigkeit zum Problem geworden. Von Seiten der iranischen Behörden sei ihrem Mann angeboten worden, nach Syrien in den Krieg zu ziehen, damit die Kinder die Schule besuchen könnten. Zu ihrem Alltag im Iran befragt, führte die BF2 aus, dass sie die meiste Zeit zuhause gewesen sei. Wenn sie unterwegs gewesen sei, habe sie Angst vor den iranischen Behörden gehabt. Zu ihrem Alltag in Österreich befragt, führte die BF1 aus, dass ihre Kinder ohne Probleme die Schule besuchen könnten und sie für die Zukunft planen könne.

Der BF2 wurde am 13.11.2017 ebenfalls beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er im Alter von einem Jahr mit seinen Eltern von Afghanistan in den Iran gegangen sei und fortan dort gelebt habe. Er habe den Iran schließlich verlassen, weil seine Frau und seine Kinder staatenlos seien. Als seine Söhne groß genug gewesen seien um die Schule zu besuchen, habe ihm die iranische Behörde vorgeschlagen, in den Krieg nach Syrien zu ziehen. Über seinen Alltag im Iran befragt, führte der BF2 aus, dass er arbeiten gegangen sei und seine Frau sei zuhause gewesen, habe die Hausarbeit erledigt und auf die Kinder aufgepasst. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würden die afghanischen Behörde seine Frau und die Kinder nicht akzeptieren, da sie keine Afghanen, sondern staatenlos seien. Sie hätten außerdem niemanden in Afghanistan und hätte seine Frau Angst, das Land kennenzulernen.

Mit nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 20.03.2018 wurden die Anträge der BF1, des BF2, des BF3 und des BF4 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde jeweils Feststellungen zu den Personen der BF, zu deren Fluchtgrund, zur Situation im Falle der Rückkehr und zur Situation im Herkunftsstaat. Es wurde ausgeführt, dass eine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan nicht glaubhaft gemacht werden habe können. Es seien auch keine Gründe hervorgekommen, die eine Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden.

Gegen verfahrensgegenständlich angefochtene Bescheide vom 20.03.2018 erhoben die BF1, der BF2, der BF3 und der BF4 mit Schriftsatz der rechtsfreundlichen Vertretung vom 18.04.2018 Beschwerde. Begründend wurde ausgeführt, dass die BF1, der BF3 und der BF4 staatenlos seien und sei es ihnen daher unmöglich gewesen, im Iran Dokumente zu erhalten. Bei der BF1 handle es sich um eine selbstbewusste gebildete Frau, die bereits im Iran Wert auf ein selbstbestimmtes Leben gelegt habe, welches ihr jedoch einerseits aufgrund ihres Geschlechts und andererseits aufgrund ihrer Staatenlosigkeit weitgehend versagt gewesen sei. In Österreich führe die BF1 das Leben, das ihr im Iran verweht gewesen sei. Nicht nachvollzogen werden könne der Umstand, dass die belangte Behörde bei der BF1, dem BF3 und dem BF4 die afghanische Staatsangehörigkeit feststelle. Diese Annahme beruhe auf einem mangelhaften Ermittlungsverfahren. Aufgrund der Staatenlosigkeit der BF1, des BF3 und des BF4 sei deren Ausweisung nach Afghanistan rechtlich nicht zulässig. Des Weiteren sei festzuhalten, dass die BF1 die in Afghanistan herrschenden frauendiskriminierenden Sitten und Gesetze ablehne. Mit dem in Afghanistan herrschenden Frauenbild habe das Leben der BF1 nichts gemein, weshalb es für sie unvorstellbar sei, dorthin zurückzukehren. Die belangte Behörde habe es völlig unterlassen, die Situation von Frauen in Afghanistan in ihrer Entscheidung zu berücksichtigen. Es sei davon auszugehen, dass der BF1 aufgrund ihrer westlichen Lebensweise in Afghanistan asylrelevante Verfolgung drohe.

Die Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakten langten am 26.04.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die BF1 und der BF2 sind illegal in die Republik Österreich eingereist und haben am 23.09.2015 gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz gestellt.

Gleichzeitig wurde jeweils ein Antrag auf internationalen Schutz für

den BF3, am XXXX .2009 geborenes Kind der BF1 und des BF2, und für

den BF4, am XXXX .2013 geborenes Kind der BF1 und des BF2, gestellt.

Die belangte Behörde hat es in den gegenständlich angefochtenen Bescheiden unterlassen, sich mit dem Vorbringen der BF betreffend die Staatenlosigkeit der BF1, BF3 und BF4 auseinanderzusetzen und hat begründungslos die afghanische Staatsangehörigkeit der BF1, BF3 und BF4 festgestellt.

Die belangte Behörde hat es weiters unterlassen, konkrete Feststellungen hinsichtlich der individuellen Situation der BF, insbesondere der minderjährigen BF3 und BF4, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zu treffen. Sie hat insbesondere keine ausreichenden Feststellungen hinsichtlich der Situation von Kindern bzw. Minderjährigen in Afghanistan getroffen.

Die belangte Behörde hat es zudem unterlassen, die individuelle Situation der BF1 als Frau in Afghanistan zu erörtern. Sie hat es unterlassen festzustellen, inwieweit bei der BF1 eine verfahrensrelevante fundierte westliche Gesinnung oder ein relevanter westlicher Lebensstil abzuleiten ist.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen ergeben sich aus den Verfahrensakten, insbesondere aus den Bescheiden vom 20.03.2018.

3. Rechtliche Beurteilung:

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I 2013/33 idgF, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl I Nr. 10/2013 idgF, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Eine derartige Regelung wird in den einschlägigen Normen (VwGVG, BFA-VG, AsylG) nicht getroffen und es liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

Die zentrale Regelung zur Frage der Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte bildet § 28 VwGVG.

"§ 28. (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

(3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist."

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.

Zu A) Zurückverweisung der Beschwerde:

Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt nach dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063 insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat oder, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat oder, wenn die Verwaltungsbehörde Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden.

Das Bundesamt hat betreffend mehrerer wesentlicher Verfahrensfragen den entscheidungsrelevanten Sachverhalt nicht bzw. nicht ausreichend ermittelt, hat verfahrenswesentliche Feststellungen nicht getroffen und entsprechende Länderfeststellungen den gegenständlichen Bescheiden nicht zu Grunde gelegt.

Zunächst ist festzuhalten, dass sich die belangte Behörde in keiner Weise mit dem Vorbringen, wonach die BF1, BF3 und BF4 staatenlos seien, auseinandergesetzt hat. Im gesamten Verfahren wurde die Staatenlosigkeit von BF1, BF3 und BF4 gleichlautend vorgebracht, die belangte Behörde hat dieses Vorbringen jedoch nicht berücksichtigt und die Feststellung getroffen, dass die BF1, BF3 und BF4 die afghanische Staatsangehörigkeit besitzen. Auf Seite 112 des angefochtenen Bescheides betreffend die BF1 wird ausgeführt, dass sich die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit auf die diesbezüglichen Angaben im Zuge der bisherigen Befragungen stützen. Die BF1 brachte jedoch zu keinem Zeitpunkt des Verfahren vor, dass sie die afghanische Staatsbürgerschaft besitze. Wie in der Beschwerde zurecht ausgeführt wurde, handelt ihr Kernvorbringen vielmehr davon, dass sie und die BF3 und BF4 staatenlos seien, sie als Staatenlose im Iran gelebt hätten und dieser Umstand der Grund für ihre Ausreise aus dem Iran gewesen sei. Aufgrund welcher Erhebungen die belangte Behörde dennoch die afghanische Staatsangehörigkeit der BF1, BF3 und BF4 feststellt, erschließt sich mangels dahingehender Begründung nicht.

§ 3 Abs. 1 AsylG 2005 sieht die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nur vor, wenn dem Fremden im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht. Der Herkunftsstaat ist gemäß § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG 2005 jener Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Fremde besitzt; nur im Falle der Staatenlosigkeit gilt der Staat seines früheren gewöhnlichen Aufenthaltes als Herkunftsstaat. Für den Fall des Vorliegens von Staatenlosigkeit bei den BF1, BF3 und BF4 wäre sohin der Iran als deren Herkunftsstaat anzusehen und wäre eine mögliche asylrelevante Verfolgung bezogen auf den Iran zu prüfen. Eine Ausweisung nach Afghanistan wäre im Falle der Staatenlosigkeit der BF1, BF3 und BF4 unzulässig.

Wenn die belangte Behörde - wie im angefochtenen Bescheid - von einer afghanischen Staatsangehörigkeit der BF3 und BF4 ausgeht, so ist festzuhalten, dass die im angefochtenen Bescheid wiedergegebenen Länderberichte unter anderem nur allgemeine Ausführungen zur Situation von Kindern in Afghanistan enthalten. Aus den in den gegenständlichen Bescheiden zu Grunde gelegten Länderfeststellungen geht insbesondere hervor, dass die Menschenrechtssituation von Kindern in Afghanistan insgesamt Anlass zur Sorge gebe. So wird ausgeführt, dass körperliche Züchtigungen und Übergriffe im familiären Umfeld, in Schulen oder durch die afghanische Polizei verbreitet seien und der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in weiten Teilen Afghanistans nach wie vor ein großes Problem sei. Der sexuelle Missbrauch von Jungen sei weit verbreitet, eine polizeiliche Aufklärung finde nicht statt. Die Länderberichte nennen Kinderarbeit als Problem. Die Regierung zeige auch nur geringe Bemühungen, Kinderarbeit zu verhindern oder Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen zu befreien. Rund 22% der Kinder in Afghanistan würden einer Arbeit nachzugehen haben. Betreffend die Ausbildungssituation wären Defizite zu erkennen. Den gegenständlichen Länderinformationen ist insbesondere weiters auch zu entnehmen, dass viele Kinder in Afghanistan unterernährt seien und ca. 10% der Kinder vor ihrem fünften Lebensjahr sterben würden.

In seiner Begründung, insbesondere zur Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten, setzt sich das BFA jedoch nicht weiter mit der Situation von Minderjährigen in Afghanistan insgesamt und diesbezüglich auch nicht mit den in den angefochtenen Bescheiden zitierten Länderberichten auseinander, bzw. würdigt auf die Informationen der den angefochtenen Bescheiden zugrunde gelegten Länderfeststellungen aufbauend, nicht ausreichend die individuelle konkrete Situation der Familie bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan. Vielmehr beschränkt sich das BFA in diesem Zusammenhang auf eine allgemeine Ausführung, dass die BF nicht zu befürchten hätten, dass sie nach ihrer Rückkehr in eine existenzbedrohende bzw. wirtschaftlich ausweglose Lage geraten könnten. Dafür, dass die BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wären, würde es keine hinreichenden Anhaltspunkte geben.

Insofern geht das BFA aber auf die Minderjährigkeit des BF3 und des BF4 nicht ausreichend ein. Es unterlässt jegliche vertiefende bzw. individuelle Auseinandersetzung mit den in den angefochtenen Bescheiden zugrunde gelegten kinderspezifischen Länderberichten und der Frage, ob der BF3 und der BF4, im Zeitpunkt der Entscheidungen des BFA neun und fünf Jahre alt, im Falle einer Rückkehr eine Verletzung ihrer gemäß Art. 2 und Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte droht (vgl. hiezu jüngst VfGH 21.9.2017, E 2130/2017 ua.; 11.10.2017 E 1734/2017 ua.; 11.10.2017 1803/2017 ua.). Die Entscheidung betreffend die minderjährigen BF3 und BF4 ist somit begründungslos ergangen. Diese Begründungslosigkeit schlägt auch auf die Entscheidungen der BF1 und BF2 durch, da ein anderes Ergebnis bei nur einem im vorigen Satz genannten BF zwangsläufig auch auf die restlichen BF umzulegen ist.

Weiters ist festzuhalten, dass auch hinsichtlich der BF1 wesentliche verfahrensrelevante Abklärungen unterlassen worden sind. So hätte das BFA - wenn es von einer afghanischen Staatsangehörigkeit der BF1 ausgeht - mit der BF1 ihre individuelle Situation als Frau in Afghanistan zu erläutern gehabt. Das BFA hat der BF1 im Zuge der Einvernahme am 13.11.2017 jedoch überhaupt keine Fragen bezüglich einer möglichen "westlichen Orientierung" gestellt. Es wurden keinerlei diesbezügliche Abklärungen vorgenommen.

Im angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde zwar allgemeine Feststellungen zur Situation von Frauen in Afghanistan getroffen, sie hat diese Feststellungen jedoch in keiner Weise mit der konkreten Situation der BF1 in Verbindung gebracht und finden sich weder in der Beweiswürdigung noch in der rechtlichen Beurteilung diesbezügliche Ausführungen. Die belangte Behörde setzt sich nicht weiter mit der Situation von Frauen in Afghanistan insgesamt und diesbezüglich auch nicht mit den in den angefochtenen Bescheiden zitierten Länderberichten auseinander, bzw. würdigt auf die Informationen der den angefochtenen Bescheiden zugrunde gelegten Länderfeststellungen aufbauend, in keiner Weise die individuelle konkrete Situation der B1 bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan. Die belangte Behörde hätte aufgrund der allgemeinen Situation von Frauen in Afghanistan amtswegig zu erheben gehabt, ob im Fall der BF1 eine Gefährdung aufgrund einer möglichen westlichen Gesinnung vorliegt. Den von der belangten Behörde herangezogenen Länderfeststellungen ist zu entnehmen, dass die Verteidigung der Rechte der Frauen in einem Land, indem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt ist und von der traditionellen Stammeskultur bestimmt ist, nur eingeschränkt möglich sei bzw. staatliche Akteure nicht gewillt seien die Rechte der Frauen zu schützen und Richter durch die Gemeinschaft unter Druck gesetzt werden würden Täter freizulassen. Die belangte Behörde hätte bei offensichtlichen Zweifeln an dieser Situation aufgrund ihrer Ermittlungspflicht noch entsprechende Nachforschungen und Nachfragen in Verfahren zu tätigen gehabt hätte.

Bereits im erstinstanzlichen Verfahren ist zu ermitteln und festzuhalten, inwieweit bei der BF1 eine verfahrensrelevante fundierte westliche Gesinnung oder ein relevanter westlicher Lebensstil abzuleiten ist. Das Unterlassen jeglicher hierauf bezogenen Abklärungstätigkeit stellt im gegenständlichen Verfahren einen weiteren wesentlichen Verfahrensmangel dar.

Der von der Verwaltungsbehörde ermittelte Sachverhalt ist somit in mehreren Punkten grundlegend ergänzungsbedürftig.

Das BFA wird somit die oben angeführten Ermittlungen nachzuholen haben.

Die Vornahme solcherart verfahrenswesentlicher Abklärungen kann nicht gänzlich zur erstmaligen bzw. vollständigen Ermittlung im Beschwerdeverfahren an das BVwG delegiert werden. Eine solcherart gänzliche erstmalige Vornahme in den angeführten Punkten verfahrenswesentlich durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine solcherart auch darauf aufbauende erstmalige Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann jedenfalls nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dies insbesondere auch unter besonderer Berücksichtigung des Umstandes, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als Spezialbehörde im Rahmen der Staatendokumentation für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig ist und eine sämtliche verfahrensrelevanten Aspekte abdeckende Prüfung des Antrages nicht erst beim BVwG beginnen und zugleich enden soll.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt als bloß ansatzweise ermittelt erweist, sodass grundlegende und geeignete Ermittlungen und darauf aufbauende Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteiverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich.

Auf Grundlage der neuen Ermittlungsergebnisse wird das BFA nach Vornahme von entsprechenden Abklärungen und unter Zugrundelegung von aktuellen, die oben angeführten Punkte abklärenden Länderfeststellungen, neue Bescheide zu erlassen haben.

Das Bundesverwaltungsgericht hat daher die angefochtenen Bescheide mit Beschluss aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

In der Beurteilung durch das Bundesverwaltungsgericht wurde ausgeführt, dass im erstbehördlichen Verfahren notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt keine grundsätzliche Rechtsfrage vor, vielmehr orientiert sich der vorliegende Beschluss an der aktuellen Rechtsprechung (26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063 und 24.02.2016, Zl. Ra 2015/08/0209) des Verwaltungsgerichtshofes zur Anwendung des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Familienverfahren,
Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W228.2193642.1.00

Zuletzt aktualisiert am

29.01.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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