TE Vwgh Erkenntnis 2018/12/12 Ra 2018/19/0059

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Veröffentlicht am 12.12.2018
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §29;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2018/19/0060

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Stickler, die Hofrätin Dr.in Lachmayer und den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision 1. der M R und 2. des A H beide in L, beide vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Dezember 2017, 1) W193 2163253- 1/7E und 2) W193 2163252-1/7E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Revisionswerber sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Hazara an und sind schiitischen Glaubens. Sie stellten am 8. November 2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Zweitrevisionswerber gab zu seinen Fluchtgründen an, in seiner Heimatprovinz geschlagen worden zu sein, weil er Alkohol getrunken und nicht gefastet habe. Er sei dabei schwer verletzt und zum Tod verurteilt worden, weshalb er in den Iran geflohen sei. Die Erstrevisionswerberin habe sich seit ihrem vierten Lebensjahr im Iran aufgehalten. Dort hätten die Revisionswerber traditionell geheiratet. Die Ehe sei nicht registriert worden. Die Erstrevisionswerberin sei aufgrund der Probleme ihres Ehemannes geflohen, zudem habe sie sich im Iran nicht weiterbilden können. Afghanistan sei für Hazara nicht sicher.

2 Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 13. Juni 2017 wurden die Anträge der Revisionswerber jeweils zur Gänze abgewiesen und Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Es wurde jeweils eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung der Revisionswerber nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

3 Das BFA ging jeweils davon aus, dass ein Familienverfahren zwischen den "Lebensgefährten" nicht vorliege, da die Ehe nach muslimischer Tradition geschlossen und nicht registriert worden sei. Auch habe die Ehe im Herkunftsland noch nicht bestanden, sondern sei im Iran geschlossen worden.

4 In der gegen diese Bescheide erhobenen gemeinsamen Beschwerde brachten die Revisionswerber insbesondere vor, dass das Vorliegen eines Familienverfahrens zu Unrecht verneint worden sei, dem Zweitrevisionswerber im Herkunftsstaat religiöse und politische Verfolgung drohe, und die Erstrevisionswerberin auf Grund ihrer Sozialisierung im Iran und ihrer Eigenschaft als schiitische Hazara bei einer Rückkehr Verfolgung asylrelevanter Intensität ausgesetzt wäre. Zudem hätte das BFA andere Feststellungen zur Situation von aus dem Iran zurückkehrenden Hazara treffen müssen und ergänzende Berichte zur Sicherheitslage in Afghanistan einholen müssen. Das BFA habe es auch unterlassen, einzelfallbezogen die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu prüfen.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerden der Revisionswerber nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei. Begründend führte das BVwG u. a. aus, die Revisionswerber hätten keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können. Anhaltspunkte für eine Verfolgung als Hazara oder als Schiiten oder eine asylrelevante Diskriminierung der Erstrevisionswerberin auf Grund von "westlicher" Orientierung seien nicht hervorgekommen. Die Revisionswerber wären bei einer Rückkehr keiner realen Gefahr ihrer nach Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt. Es seien keine außergewöhnlichen Umstände hervorgekommen, die ein Abschiebehindernis iSv. Art. 3 EMRK, wie etwa eine Hungersnot, darstellen könnten. Eine Rückkehr in die Stadt Kabul sei für die Revisionswerber möglich und zumutbar, da sie gesund und arbeitsfähig seien, die Landessprache sprächen, mit den kulturellen Gepflogenheiten Afghanistans vertraut seien und die Möglichkeit hätten, sich allenfalls durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern. Der Zweitrevisionswerber verfüge bereits über Berufserfahrung. Kabul sei eine für "Normalbürger" vergleichsweise sichere und gut erreichbare Stadt. In Bezug auf die Rückkehrentscheidung führte das BVwG u.a. aus, die Revisionswerber hätten in Österreich "keine Familie, mit der sie zusammenleben", sodass die Ausweisung keinen unzulässigen Eingriff in ihr Recht auf Schutz des Familienlebens darstellten. Das Erkenntnis enthält keine Ausführungen zur Frage des Vorliegens eines Familienverfahrens.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

7 Zur Begründung der Zulässigkeit ihrer außerordentlichen Revision bringen die Revisionswerber vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu einer "westlich" orientierten Lebensweise abgewichen, habe dazu keine ausreichenden Feststellungen getroffen und habe sich begründungslos über erhebliches Parteivorbringen hinweggesetzt. Das BVwG habe auch keine Feststellungen über die Herkunftsregion der Revisionswerber getroffen, was jedoch eine notwendige Voraussetzung für das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul sei. Ebenso fehlten Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage, welche die Erstrevisionswerberin als Frau in Kabul vorfinden werde, insbesondere im Hinblick auf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit zur Existenzsicherung. Auch fehle Rechtsprechung zur Frage des Gegenstandes der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Verhältnis zur Prüfung einer Verletzung des Art. 3 EMRK.

8 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 9 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0433, mwN).

10 Die Erstrevisionswerberin hat im Verfahren u.a. geltend gemacht, ihr drohe als liberal sozialisierte Rückkehrerin nach Afghanistan asylrelevante Verfolgung. Das angefochtene Erkenntnis enthält jedoch keine Feststellungen zu diesem Vorbringen bzw. zur Situation der Frauen in Afghanistan. Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt erkannt, dass schon infolge des gänzlichen Fehlens von für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Feststellungen der Anforderung, dass jedenfalls die wesentlichen Punkte der diesbezüglichen Feststellungen in der Begründung der Entscheidung eines Verwaltungsgerichts selbst enthalten sein müssen, nicht entsprochen und maßgeblich gegen die Verwaltungsgerichte treffende Begründungspflicht verstoßen wird. Damit wird es dem Verwaltungsgerichtshof verunmöglicht, die angefochtene Entscheidung in der vom Gesetz geforderten Weise einer nachprüfenden Kontrolle zu unterziehen (vgl. VwGH 6.9.2018, Ra 2018/18/0152, mwN).

11 Die Revisionswerber haben in ihrer Beschwerde auch die Annahme des BFA, es liege kein Familienverfahren vor, substantiell bestritten. Das BVwG hat es gänzlich unterlassen, sich mit diesem Vorbringen auseinanderzusetzen. Dieser Verfahrensmangel ist schon deshalb relevant, weil für den Fall, dass - entgegen der Rechtsansicht des BFA - vom Vorliegen der Familienangehörigeneigenschaft der Revisionswerber auszugehen wäre, bei Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten an einen der beiden Revisionswerber gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 der andere Familienangehörige den gleichen Schutzumfang erhalten würde.

12 Das angefochtene Erkenntnis war folglich wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.

13 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 12. Dezember 2018

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018190059.L00.1

Im RIS seit

30.01.2019

Zuletzt aktualisiert am

13.03.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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