TE Bvwg Erkenntnis 2018/11/19 W211 1304507-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.11.2018
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Entscheidungsdatum

19.11.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z6
FPG §55 Abs4

Spruch

W211 1304507-2/37E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a SIMMA LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. - IV. als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt V. wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass dieser zu lauten hat:

"Gemäß § 55 Abs. 1 und 2 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung."

III. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt VI. stattgegeben und dieser ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger der Russischen Föderation, kam mit ihrer Mutter und drei Geschwistern aus Tschetschenien nach Österreich, wo für sie am XXXX2004 ein Asylantrag gestellt wurde.

Mit Bescheid vom XXXX2006 wies das Bundesasylamt den Asylantrag der beschwerdeführenden Partei ab, erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation für zulässig und wies die beschwerdeführende Partei aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation aus.

Gegen diesen Bescheid wurde rechtzeitig Berufung erhoben.

Am XXXX2007 gab der Unabhängige Bundesasylsenat der Berufung statt und gewährte der beschwerdeführenden Partei gemäß § 7 iVm § 10 AsylG Asyl. Gemäß § 12 AsylG wurde festgestellt, dass ihr damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der Mutter der beschwerdeführenden Partei Asyl gewährt wurde und ihr daher im Rahmen des Familienverfahrens Asyl zu gewähren sei.

2. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom XXXX2015 wurde die beschwerdeführende Partei nach § 278 (b) Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Die belangte Behörde forderte die beschwerdeführende Partei am XXXX2016 schriftlich zur Stellungnahme wegen eines eingeleiteten Aberkennungsverfahrens auf. Eine solche Stellungnahme wurde mit 12.09.2016 abgegeben.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom XXXX2016 erkannte die belangte Behörde den der beschwerdeführenden Partei mit Erkenntnis vomXXXX2007 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG ab. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG wurde ihr der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihr gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die beschwerdeführende Partei eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen und es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 6 FPG wurde gegen die beschwerdeführende Partei ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 55 Abs. 4 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt V.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.).

Gegen diesen Bescheid wurde rechtzeitig Beschwerde eingebracht.

Mit Beschluss vom XXXX2016 erkannte das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu.

Die beschwerdeführende Partei wurde am XXXX2018 aus der Strafhaft entlassen.

AmXXXX2018 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Anwesenheit der beschwerdeführenden Partei, ihrer Vertretung, einer Vertrauensperson sowie einer Zeugin eine mündliche Verhandlung durch. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

Aufgrund einer Aktualisierung wurde den Parteien mit Schreiben vom XXXX2018 neue Länderinformation zugeschickt; eine Stellungnahme langte zu diesen nicht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die beschwerdeführende Partei ist ein männlicher Staatsangehöriger der Russischen Föderation.

1.2. Für sie wurde amXXXX2004 ein Asylantrag in Österreich gestellt und wurde ihr am XXXX2007 vom Unabhängigen Bundesasylsenat gemäß § 7 iVm § 10 AsylG Asyl im Familienverfahren gewährt.

1.3. Die beschwerdeführende Partei hatte in Inguschetien vier Jahre die Schule besucht. Nach ihrer Ankunft in Österreich besuchte sie eine Hauptschule, wobei sie die polytechnische Schule nicht abgeschlossen hat. Sie arbeitete daraufhin geringfügig im Mai 2010 und von Juli bis September 2010 und ca. eine Woche im Mai 2012 als freier Dienstnehmer bei einem Packservice sowie im Jahr 2013 im September und Oktober bei einer Personalleasingfirma (siehe Versicherungsdatenauszug vom 07.11.2016, AS 219).

Die beschwerdeführende Partei hat eine Lebensgefährtin und mit dieser zwei leibliche Töchter, XXXX, geboren am XXXX, und XXXX, geboren am XXXX2014. Die Obsorge kommt betreffend die jüngere Tochter jedenfalls beiden Eltern zu, betreffend die ältere Tochter meinen die beschwerdeführende Partei und ihre Lebensgefährtin, dass sie auch beiden zukäme; eine Mitteilung der BH XXXXvom XXXX2016 geht jedoch davon aus, dass sie alleine der Mutter zukommt (AS 235). Die Lebensgefährtin und die Töchter der beschwerdeführenden Partei haben in Österreich den Status von Asylberechtigten. Die jüngere Tochter der beschwerdeführenden Partei hat Herzprobleme und geht damit mittlerweile zweimal im Jahr zu einer Ultraschallkontrolle. Mit sieben Jahren ist eine weitere Operation zur Erweiterung der Ader vorgesehen (vgl. Vhdlg Protokoll).

Die Mutter, zwei Brüder und eine Schwester der beschwerdeführenden Partei leben in Österreich (AS 203). Sie haben den Status von Asylberechtigten inne.

In der Russischen Föderation verfügt die beschwerdeführende Partei über drei Tanten väterlicherseits, die verheiratet sind. Außerdem gibt es zumindest noch einen Cousin in Tschetschenien (vgl. Vhdlg Protokoll).

Die beschwerdeführende Partei spricht fließend Deutsch, aber auch Russisch und Tschetschenisch (vgl. Vhdlg Protokoll)

Die beschwerdeführende Partei ist gesund.

Sie bezieht Leistungen vom AMS (vgl. Vhdlg Protokoll) und ist nicht berufstätig. Sie liest viel, geht mit ihrer Lebensgefährtin spazieren, sie bringt die Kinder in den Kindergarten und in die Schule und holt sie wieder ab, sie kümmert sich gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin um ihre Töchter.

Die beschwerdeführende Partei befand sich ab XXXX2015 in Untersuchungshaft und von XXXX2016 bis XXXX2018 in Strafhaft (vgl. Strafvollzugsbericht der JA XXXX vom XXXX2018).

Sie hat im Gefängnis in der Bäckerei gearbeitet und kann sich eine Ausbildung und berufliche Tätigkeit als Bäckermeister vorstellen (vgl. Vhdlg Protokoll).

Die beschwerdeführende Partei arbeitete während ihrer Freiheitsstrafe ab XXXX2016 in der anstaltseigenen Wäscherei und anschließend in der Bäckerei und wurde ab XXXX2017 in einen Betrieb zur Arbeit eingeteilt, wo sie aber aufgrund psychischer Probleme abgelöst und danach nicht mehr beschäftigt wurde. Das Verhalten der beschwerdeführenden Partei gab in der Justizanstalt zu keiner Beanstandung Anlass (Führungsbericht der JA XXXX vom XXXX2018). Die beschwerdeführende Partei erhielt regelmäßig Besuch von ihrer Familie in der Justizanstalt; es wurde ein stabiles Umfeld durch die Familie gewährleistet, in welches sie entlassen wurde. Freigänge während der Haft verliefen problemlos (Bericht des Sozialen Dienstes der JA XXXX, AV des BVwG vom XXXX2018).

Nach einer Stellungnahme von DERAD vom XXXX2018 fanden durch den Verein drei Gespräche mit der beschwerdeführenden Partei statt; die durchaus positive Beurteilung durch den Verein führte zuerst zu einer Lockerung der Haftbedingungen; das dritte Gespräch diente der Einschätzung zur Anregung einer eventuellen gerichtlichen Weisung zur weiteren Betreuung während der Bewährungszeit. Anhand eines ersten Abklärungsgesprächs im März 2016 attestierte DERAD der beschwerdeführenden Partei eine zu unterstützende Einstellung, die im Widerspruch zu der einschlägig extremistischen Ideologie steht. Im zweiten Gespräch mehrere Monate danach hält DERAD im Protokoll fest, dass die beschwerdeführende Partei im Gespräch große Bereitschaft für einen kontroversen Diskurs über theologische wie ideologische Inhalte zeigt. Sie zeigt sich umgänglich, ist freundlich, respektvoll und höflich, auch wenn man ihr Weltbild infrage stellt. Zum Schluss heißt es weiter, dass DERAD nach diesem Gespräch von keiner unmittelbaren Gefahr von der beschwerdeführenden Partei ausgeht. Sie zeigt an mehreren Stellen des Gesprächs eine selbstreflexive Haltung und porträtiert ihren eigenen Gesinnungswandel, der sich im Laufe ihres geistigen Reifeprozesses allmählich vollzog hat. Auch im dritten Gespräch am XXXX2018 wurde notiert, dass die beschwerdeführende Partei dort ansetzt, wo sie in den Gesprächen zuvor abgeschlossen hatte. Dabei geht sie noch einmal konkret auf ihre Haltung zu dschihadistischen Gruppierungen wie dem sogenannten Islamischen Staat ein, der mit seiner Kriegsführung - laut der beschwerdeführenden Partei - klar gegen islamische Prinzipien verstoße und daher abzulehnen sei. Nach dem letzten intensiven Gespräch begründet die beschwerdeführende Partei ihre Bereitschaft, eigene Erfahrungen aus der tschetschenischen Community mit dem Verein zu teilen und möchte damit einen Beitrag zur Extremismusprävention und Deradikalisierung leisten. Als Fazit wird durch DERAD angeführt, dass damit anhand der Expertise des Vereins, der im Auftrag der Justiz seit mehreren Jahren Abklärungsgespräche mit muslimischen Insassen österreichweit in allen Justizanstalten durchführt, die beschwerdeführende Partei im Rahmen einer radikal extremistischen Weltanschauung als nicht gefährlich eingestuft wird (Stellungnahme DEARD vom XXXX2018).

Weiter geht aus einem Schreiben der Sozialen Initiative - Jugendcoaching vom XXXX2018 hervor, dass die beschwerdeführende Partei Jugendcoaching in der Justizanstalt in Anspruch genommen hat und dort als höflicher und interessierter junger Mann wahrgenommen wurde. Sie habe gut über die Ursachen der Haftstrafe reflektieren können (Schreiben der Sozialen Initiative vom XXXX2018).

Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung am Bundesverwaltungsgericht streitet die beschwerdeführende Partei eine Radikalisierung und einen Aufenthalt in Syrien ab.

1.4. Die beschwerdeführende Partei wurde mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX2015 nach § 278 (b) Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt (siehe Urteil des LG, AS 79ff).

Das Landesgericht XXXX stellte dazu fest, dass die beschwerdeführende Partei schuldig ist, dass sie sich von März 2014 bis etwa Oktober/November 2014 als Mitglied an der terroristischen Vereinigung Islamischer Staat, eines auf längere Zeit angelegten Zusammenschlusses von mehr als zwei Personen, der darauf ausgerichtet war und ist, dass von einem oder mehreren Mitgliedern dieser Vereinigung eine oder mehrere terroristische Straftaten ausgeführt werden, beteiligt hat, indem sie auf dem Landweg von Österreich (XXXX) aus über Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die Türkei nach Syrien reiste, sich vor Ort in Syrien anderen Mitgliedern der genannten terroristischen Vereinigung anschloss, sich zumindest zur Ausbildung für bewaffnete Einsätze zur Verfügung stellte und logistische Hilfs- und Unterstützungstätigkeiten leistete, wobei sie sich im Rahmen der kriminellen Ausrichtung der terroristischen Vereinigung in dem Wissen beteiligte, dass sie dadurch die Vereinigung und deren strafbare Handlungen fördert.

In den Entscheidungsgründen wird unter anderem angeführt, dass die beschwerdeführende Partei bereits im Jahr 2011 aus nicht mehr feststellbaren Motiven mit jedenfalls religiösem Hintergrund nach Pakistan gereist ist, und zwar von Österreich über die Türkei, von wo aus sie mit einem Flugzeug weiter in den Iran reiste, um von dort auf dem Landweg nach Pakistan weiterzureisen, wo sie nach ihrer Einreise, zumal sie kein gültiges Visum vorweisen konnte, von den pakistanischen Behörden wegen des Verdachts terroristischer Aktivitäten festgenommen wurde und für einige Monate in Pakistan inhaftiert war. Die beschwerdeführende Partei konnte am XXXX2012, nach dem sich das österreichische Außenamt für ihre Freilassung eingesetzt hatte, wieder nach Österreich zurückkehren. Im März 2014 entschloss sich die beschwerdeführende Partei zu einer Reise nach Syrien, um sich dort Mitgliedern des Islamischen Staats anzuschließen. Sie hatte von XXXX und anderen Orten Österreichs aus ihre Reise nach Syrien soweit geplant, dass die Route durchorganisiert war und sie über Kontaktaufnahmemöglichkeiten zu Mitgliedern des damals noch Islamischen Staats im Irak und in der Levante bzw. Islamischer Staat in Syrien, nunmehr Islamischer Staat, verfügte. Das Ziel der Reise war, sich dem Islamischen Staat als Mitglied anzuschließen. Am XXXX2014 setzte sich die beschwerdeführende Partei von ihrem damaligen Wohnort aus in Bewegung und reiste über Ungarn, Rumänien, Bulgarien in die Türkei, wo sie am XXXX2014 ankam und kurze Zeit später nach Syrien weiterreiste. Die beschwerdeführende Partei hatte zuvor in Österreich mit Mittelsmännern Kontakt aufgenommen und wurde sie bei Ankunft etwa in der zweiten Hälfte des Monats März 2014 in Syrien von Mitgliedern des Islamischen Staats in Empfang genommen. Als die beschwerdeführende Partei in der zweiten Hälfte des Monats März 2014 an einem nicht mehr näher feststellbaren Ort in Syrien, der jedenfalls den Machtbereich des ISIL/ISIS zugehörig war, angekommen ist, wurde sie von Mitgliedern des ISIL/ISIS, die ihre Ankunft, die zuvor von Österreich aus kommuniziert worden war, erwartet hatten, in Empfang genommen. Sie beteiligte sich in den darauffolgenden Monaten bis etwa Oktober/November 2014 in Syrien an der terroristischen Vereinigung dadurch, dass sie sich, nachdem sie von Österreich nach Syrien gereist war, im Rahmen ihrer kriminellen und terroristischen Ausrichtung zumindest zur Ausbildung für bewaffnete Einsätze zur Verfügung stellte und vor Ort zumindest logistische Hilfs- und Unterstützungstätigkeiten zur Förderung der allgemeinen Organisationsabläufe leistete, womit die Vereinigung und deren strafbare Handlungen gefördert wurden.

Beweiswürdigend führte das Landesgericht XXXX insbesondere aus, dass bei der Reise 2011 nach Pakistan auffällig gewesen ist, dass sich die beschwerdeführende Partei nicht auf offiziellem Wege mit einem Einreisevisum nach Pakistan begab, sondern ohne Visum auf dem Landweg vom Iran aus. Die Verantwortung der beschwerdeführenden Partei, in Pakistan eine Koranschule besuchen zu wollen, ist ausgehend davon, dass sie weder englisch noch arabisch spricht, in Zweifel zu ziehen. Ein Ziel der Reise nach Pakistan konnte jedoch nicht festgestellt werden. Was sich allerdings aus der illegalen Einreise des Angeklagten nach Pakistan relevant ableiten lässt, ist der Umstand, dass die beschwerdeführende Partei in ihren Handlungen von Überzeugungen getragen ist, die für sie eine immens hohe Bedeutung haben müssen. In Bezug auf ihre Reisebewegungen nach Syrien wurde ausgeführt, dass die beschwerdeführende Partei behauptet habe, deshalb in die Türkei gereist zu sein, da sie sich mit einem tschetschenischen Mädchen, das in Istanbul gelebt habe und das sie über Internet und Telekommunikation kennengelernt habe, treffen und verehelichen wollte. Unter anderem wird diese Darstellung jedoch dadurch gänzlich unglaubwürdig, dass die beschwerdeführende Partei nicht in der Lage gewesen ist, irgendwelche näheren Daten zu diesem Mädchen, außer einen Vornamen, anzuführen. Sie behauptete, mit dieser Ehefrau in Istanbul über mehrere Monate zusammen gelebt zu haben und dadurch Kontakt zu Freunden tschetschenischer Herkunft gehabt zu haben, ist aber nicht in der Lage gewesen, nähere Angaben zu diesem Mädchen zu machen. Es ist davon auszugehen, dass die beschwerdeführende Partei alles daran gesetzt hätte, diese Person als Zeugin für das gegenständliche Verfahren namhaft zu machen, was nicht geschehen ist. Die diesbezüglichen Erklärungsversuche sind wenig überzeugend. Ein weiteres aufschlussreiches Indiz stellte ein Lichtbild der beschwerdeführenden Partei dar, welches sie posierend vor einer IS-Flagge zeigt. Darüber hinaus zeigt ein weiteres Lichtbild die beschwerdeführende Partei in einer Aufmachung, die den klaren Rückschluss dahingehend zulässt, dass sie sich vor Ort zumindest zur Ausbildung für Kampfeinsätze zur Verfügung gestellt hat und für diese Ausbildung zumindest schon erste Schritte unternommen wurden. Das Lichtbild zeigt die beschwerdeführende Partei in paramilitärischer Aufmachung und mit einer Schutzbrille, die üblicherweise bei Schießübungen getragen wird. Die aufgezeigten Indizien werden durch die überaus glaubwürdige und mutige Aussage der anonymen Zeugin untermauert. Die Zeugin vermittelte nicht den Eindruck, dass sie die Belastung der beschwerdeführenden Partei aus einem Revanchegedanken tätigte, sondern war ihre Aussagemotivation klar erkennbar von der Einstellung getragen, dass es ihre Verpflichtung ist, einen Beitrag zur Überführung von Straftätern zu leisten. Aufgrund des persönlichen Eindrucks, den die Zeugin bei Gericht hinterließ, schien es dem Schöffengericht völlig ausgeschlossen, dass ihre Ängstlichkeit nur gespielt war, vielmehr war das Schöffengericht überzeugt, dass die Zeugin auf überaus mutige und beachtenswerte Weise ihre Belastung betreffend die beschwerdeführende Partei aufrecht hielt.

Bei der Strafzumessung wurde erschwerend kein Umstand, mildernd die Unbescholtenheit der beschwerdeführenden Partei gewertet. Weiter erschien dem Gericht die verhängte Strafe im Hinblick auf die Persönlichkeit der beschwerdeführenden Partei, die nicht den Eindruck eines aus bloßer Naivität heraus handelnden Täters vermittelte, sondern nach eingehender Reflexion in hohem Ausmaß hinter der Ideologie des Islamischen Staats zu stehen scheint, und unter Bedachtnahme auf die Auswirkungen der Strafe auf das künftige Leben des Täters sowie aus generalpräventiven Gründen schuldangemessen und dem Unrechtsgehalt der Tat entsprechend (siehe Auszüge aus dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX2015 zu XXXX, im Verwaltungsakt AS 79ff).

1.5. Es wird festgestellt, dass der weitere Aufenthalt der beschwerdeführenden Partei in Österreich eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die beschwerdeführende Partei unter anderem wegen ihres Vaters in Tschetschenien oder in der Russischen Föderation einer Gefährdung unterliegen würde.

Es wird jedoch festgestellt, dass die beschwerdeführende Partei wegen ihrer strafgerichtlichen Verurteilung in Österreich in Tschetschenien einer Gefährdung unterliegen würde. Die beschwerdeführende Partei kann sich jedoch dieser Gefährdung durch eine Umsiedlung in einen anderen Teil der Russischen Föderation, außerhalb des Föderationskreises Nordkaukasus, entziehen.

1.6. Im Folgenden werden wesentliche Feststellungen zur allgemeinen Situation in der Russischen Föderation und in Tschetschenien getroffen:

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation, Länderinformationsblatt Russische Föderation, 31.08.2018, Auszüge:

Politische Lage

Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

? AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

? GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

? ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

? Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

? SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

? AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

? BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

? Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

? EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

? GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

? SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

? AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

? Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

? Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

? DW - Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt",

https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018

? ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

? SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

? SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

? Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

? Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

? SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018

? SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

? AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

? AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

? EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

? FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

? ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

? US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013):

Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art "alternativer Justiz". Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).

Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen und daher auch zu einem generellen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. In Tschetschenien werden Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitsbehörden mit Straffreiheit begangen (US DOS 20.4.2018, vgl. HRW 7.2018, AI 22.2.2018).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Quellen:

? AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

? AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

? EASO - European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 2.8.2018

? EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

? DIS - Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 2.8.2018

? HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018

? ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

? SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018

? US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen "fremdländischen" Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch "ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden "unantastbaren Polizeieinheiten" zu tun haben" (EASO 3.2017).

Quellen:

? AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

? BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):

Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

? EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

? HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018

? Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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