TE Bvwg Erkenntnis 2018/6/27 W172 2163535-1

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Veröffentlicht am 27.06.2018
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Entscheidungsdatum

27.06.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W172 2163535-1/14E

Schriftliche Ausfertigung des am 27.06.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin MORITZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX .1997, StA. Afghanistan, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst, 1170 Wien, Wattgasse 48/3, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.06.2017, Zl. 1067901407-150482601, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.06.2018 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch: "BF") stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am XXXX 2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 i. d.g.F. (im Folgenden auch: "AsylG 2005").

Am XXXX .2015 erfolgte die Erstbefragung des Beschwerdeführers durch die LPD Burgenland.

2. Der Beschwerdeführer wurde am 09.03.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: "BFA") niederschriftlich einvernommen.

3. Mit oben im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 13.06.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und es wurde gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (im Folgenden auch: "BFA-VG") eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden auch: "FPG") erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

4. Gegen alle Spruchpunkte dieses Bescheides wurde vom Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde mit oben im Spruch genannten Schriftsatz vom 03.07.2017 erhoben.

5.1. Am 27.06.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.

In diese Verhandlung wurden Unterlagen und darauf aufbauende aktuelle Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan (s. weiter unten Pkt. II.1.2.) eingeführt.

Ferner wurden die vom Beschwerdeführer beantragten Auskunftspersonen

XXXX (im Folgenden auch: "AP1"), XXXX (im Folgenden auch: "AP2"),

XXXX (im Folgenden auch: "AP3"), XXXX (im Folgenden auch: "AP4") und Mag. Gudrun NACHSCHATT (im Folgenden auch: "AP5") einvernommen.

Am Schluss dieser Verhandlung wurde die gegenständliche Entscheidung mündlich verkündet.

5.2. In der mündlichen Verhandlung wurden folgende - verfahrenswesentliche - Angaben getätigt (AP: Auskunftsperson, BF: Beschwerdeführer, D: Dolmetscherin, RI: Richter):

"BF: Befragt gebe ich an, dass ich seit ca. dreieinhalb Jahren in Österreich lebe. Das erste Jahr lebte ich in XXXX , dann eine Zeitlang im XXXX in einer WG. Diese WG wurde geschlossen. Jetzt lebe ich in einer anderen WG, auch im XXXX . Ich lebe mit anderen Personen in dieser WG. Sie stammen aus verschiedenen Nationen, unter ihnen sind aber keine Österreicher. Ich habe viele Freunde, habe aber keine Liebesbeziehung zu einer Frau oder auch zu einem Mann. An Kursen besuchte ich solche bis einschließlich den B1-Kurs. Auch habe ich in der Schule den Kurs B1-plus gemacht. Dies im Rahmen eines Basisbildungskurses an der VHS 20. An berufsqualifizierenden Kursen habe ich im ersten Jahr eine Berufsschule für Mechaniker besucht, ich sollte KFZ-Mechaniker werden. Da ich keine Dokumente hatte, wurde ich aber nirgendswo aufgenommen. Ich war auch beim AMS. Da ich aber meine Zeit so nicht verschwenden wollte, wollte ich erst die deutsche Sprache lernen und besuchte daher verschiedene Sprachkurse. Als Berufswunsch in Österreich gebe ich an, dass ich gerne in einem Kindergarten oder als Koch arbeiten möchte. Dazu möchte ich eine Lehre machen. Ich bin zwar bei keinem Verein Mitglied, arbeite aber für den Verein "Neustart". Dort habe ich bei einem Fest mitgeholfen und war an der Organisation beteiligt. Ich habe auch als Security-Kraft bei diesem Fest fungiert. Ich habe aber nur einen Tag für diese Fest gearbeitet. An weiteren gemeinnützigen Tätigkeiten habe ich bei einem Theater mitgeholfen. Dort habe ich für 50 Leute gekocht und habe auch hinter der Bühne viel mitgeholfen. Ich habe auch beim Tag der offenen Türe in meiner Unterkunft gekocht. Im Moment arbeite ich als Betreuer bei den Kinderfreunden. Ich meine, dass ich seit ca. zwei Monaten dort beschäftigt bin. Ich habe schon voriges Jahr bei den Kinderfreunden als Parkbetreuer gearbeitet. Die Tätigkeit bei den Kinderfreunden ist unentgeltlich und ehrenamtlich. Ich arbeite 10 Stunden pro Woche dort.

RI: Wie war die religiöse Einstellung Ihrer Familie?

BF: Befragt gebe ich an, dass mein Vater ein wenig religiös war, auch meine Mutter hat gebetet. Wir wurden religiös erzogen, aber meine Eltern waren nicht so streng religiös wie die anderen. Befragt, worin dieser Unterschied bestand, gebe ich an, das konnte man sehen. Nachgefragt, ob ich dies näher erklären könnte, gebe ich an, dass meine Mutter zuhause kein Kopftuch getragen hat. Meine Schwestern sind manchmal ohne Kopftuch in die Schule gegangen. Ich musste z.B. auch nicht unbedingt in die Moschee zum Beten gehen. Mein Vater tat dies zwar, aber er hat mich dazu nicht gezwungen. Ich habe mich nicht als gläubiger Mensch empfunden, weil ich mich mit dem Lernen beschäftigt habe. Befragt gebe ich an, dass ich drei Geschwister habe, zwei Schwestern und einen Bruder. Zum Zeitpunkt meiner Flucht war meine ältere Schwester 16 Jahre alt, nun wird sie wohl 19 Jahre alt sein. Sie lebt jetzt im Iran. Ich weiß nicht, ob sie jetzt noch eine Schule besucht.

[...]

RI: Was für eine Schule haben Sie in Afghanistan besucht?

BF: Ich habe zehn Jahre lang die Schule XXXX besucht. Es war eine Grundschule. Befragt nach meinem damaligen Berufswunsch gebe ich an, dass ich damals noch nicht daran gedacht habe. Befragt, ob ich vielleicht eine höhere Schule oder auch eine Universität dann besuchen wollte, bejahe ich dies, doch habe ich an einen Berufswunsch noch nicht gedacht, weil dies noch zu früh war. Befragt zu meiner älteren Schwester gebe ich an, dass auch sie die Grundschule besuchte, aber eine andere Schule als ich. Befragt, ob meine Eltern einverstanden gewesen wären, ob meine Schwestern eine höhere Schule besuchen würden oder eine Berufsausbildung machen würden, gebe ich an, ja vielleicht. Befragt, ob meine Schwestern auch daran interessiert gewesen wären, gebe ich an, dass ich dies annehme, ich habe aber nicht danach gefragt. Meine ältere Schwester war nicht besonders religiös, sie hat normal gebetet. Nachgefragt, was ich mit "normal beten" meine, gebe ich an, dass streng religiöse Menschen sehr streng fünfmal am Tag beten, doch wer hat dazu so viel Zeit, jeden Tag fünfmal zu beten. Diese Menschen nehmen auch den Hijab sehr streng.

RI: Hatten Sie schon damals in Afghanistan Probleme mit dem Islam gehabt?

BF: Nein, ich habe mich damit noch nicht beschäftigt, ich war auf das Lernen konzentriert. Aber der Vorsteher unserer Gasse fragte meinen Vater, warum sein Sohn, also ich, nicht in die Moschee ginge (Anmerkung der Dolmetscherin: Jede Gasse hat einen Vorsteher sowie ein Dorf einen Dorfvorsteher). Befragt, wie sich mein Beschluss bildete, aus der islamischen Glaubensgemeinschaft auszutreten, gebe ich an, dass ich nach längerer Zeit daran dachte. Am Anfang habe ich noch nicht an den Austritt gedacht. Ich dachte aber dann, dass es im Islam immer Krieg ist, es werden viele Menschen getötet. Sie wissen sicher vom Vorfall mit der Frau Farkhonda. Nach diesem Vorfall habe ich den Islam nicht mehr gemocht. Ich habe hier in Österreich weder eine Moschee besucht, noch gefastet. Ich meine, ich habe in den letzten zwei Jahren weder gefastet, noch eine Moschee besucht. Ich glaube zwar an Gott, aber nicht an den Islam. Gott ist der Schöpfer und es gibt nur einen Gott. Befragt zum Vorfall mit Frau Farkhonda gebe ich an, dass dieser in Kabul war. Ich erfuhr davon im Fernsehen. Ich glaube, Frau Farkhonda ist zu einem Mullah gegangen, damit er ihr ein Amulett macht. (Anmerkung der Dolmetscherin: Ein Koran-Spruch wird in einem Amulett verarbeitet, wobei dieses dann mit einer Kette oder einem Armband oder auch nur in der Tasche getragen wird). Ich weiß nicht, ob der Mullah oder Frau Farkhonda den Koran verbrannt hat. Sie wurde dann von den Menschen geschlagen, gefoltert und getötet, weil sie dachten, Frau Farkhonda habe den Koran verbrannt. Meine Meinung dazu ist, selbst wenn Frau Farkhonda den Koran verbrannt hatte, sollte sie nicht derart gefoltert und getötet werden. Nicht einmal ein Tier würde dies einem anderen Tier antun. Befragt gebe ich an, dass ich glaube, dass dieser Vorfall 2015 war, ich habe ihn im Fernsehen gesehen. Befragt, warum ich nicht schon damals aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten bin und nicht erst jetzt, ein paar Tage vor der Verhandlung, gebe ich an, dass ich damals keine Stelle wusste, wo ich mich hierfür hätte hinwenden sollen, ich kenne mich ja in Österreich nicht so gut aus. Befragt, ob dieser Vorfall der Auslöser war, dass ich weder gefastet noch in die Moschee gegangen bin, gebe ich an, das war nicht der Fall. Ich habe auch noch gefastet, bin aber nicht mehr in die Moschee gegangen. Seit zwei Jahren gehe ich aber nicht mehr in die Moschee und faste auch nicht mehr. Befragt, ob ich beabsichtige, zum Christentum überzutreten, antworte ich, dass ich das noch nicht weiß. In Österreich kann man auch bekenntnislos sein, ich glaube aber an Gott."

[...]

RI: Sie wollten mir noch Näheres über Ihre gemeinnützigen Tätigkeiten anführen?

BF: Ich habe bei "Vienna Design" als Koch mitgeholfen. Ich habe eine Vielzahl von derartigen Beschäftigungen gemacht, mir fallen sie im Moment nicht ein. Ich verweise auf die Bestätigungen, die ich vorgelegt habe. Ich habe auch einem Workshop für Kinder mitgeholfen. In meiner Freizeit lerne ich Deutsch, mache Musikkurse, Thai-Boxen, zeichne und male und gehe schwimmen.

AP1: Ich kenne den BF seit Jänner 2016. Ich war damals kurzzeitig Betreuerin im Haus XXXX , wo er gewohnt hat. Als ich den Standort wechselte, habe ich weiterhin Kontakt mit ihm gehabt. Ich habe deswegen diesen Kontakt weitergepflegt, weil ich das Gefühl hatte, dass er mir vertraut. Ihm ging es nicht so gut. Er wirkte stark belastet und hat sich damals zurückgezogen. Es äußerte sich bei ihm in einer mimischen Starre, das heißt, er zeigte keine Emotionen. Er war auch keine Person, die sich wegen Probleme an andere wendete. Ich und eine andere Betreuerin, die heute aber nicht da ist, widmeten sich dann ihm. Er war zwar 18 Jahre alt, schaute aber jünger aus. Da das Haus XXXX sehr groß ist, gibt es dort nicht genügend Schutzräume. Dies gilt vor allem für junge Asylwerber. Bei diesem Haus handelt es sich um jenes XXXX . Ich arbeite dort nicht mehr, ich bin Betreuerin für Minderjährige. Ich habe auch deswegen den Kontakt zum BF gepflegt, weil ich meinte, er brauche eine Beschäftigung, ich vermittelte ihm dann das Thai-Boxen, wo ich auch dort selbst trainiere. Üblicherweise pflege ich nicht weitere Kontakte mit Asylwerbern, aber es gibt einige Personen, zu denen ich einen Kontakt aufrechterhalte, wenn diese im Training sind, hat man sich gesehen. Ich möchte noch ein weiteres Projekt erwähnen, nämlich die Organisation eines Urlaubes mit einer Gruppe von 15 Leuten am Neufelder See. Zwei ehemalige Betreuer, die nicht mehr im Haus XXXX arbeiten, haben dies in Absprache mit diesem Heim organisiert. Zielgruppe waren Leute wie der BF, die das ganze Jahr in der Schule waren. Sie haben verdient, Urlaub zu machen, das Haus hat dazu nicht die Möglichkeiten.

AP2: Ich bin sozialpädagogische Betreuerin in der WG der XXXX , wo der BF seit einem Jahr lebt.

AP3: Ich habe eine Patenschaft im Rahmen des XXXX -Projektes "Commit" im Juni 2016 bei ihm übernommen. Dieses Projekt dient dazu, junge Flüchtlinge mit Erwachsenen zusammenzukommen. Beruflich bin ich derzeit im Krankenhaus XXXX als Projektmanagerin, Spezialgebiet Bau beschäftigt. Ich bin Diplomingenieurin bzw. ausgebildete Architektin. Ich bin zwar seit einem Jahr nicht mehr in Wien, aber immer noch in Kontakt mit dem BF. Wenn ich mich wegen meiner Englischkurse in Wien aufhalte, dann sehen wir uns. Im Übrigen verweise ich auch auf meine schriftlichen Bestätigungen, die heute vorgelegt worden sind.

AP4: Ich bin Thai-Box-Trainer. Der BF ist vor gut zwei Jahren über die AP1 zur Gruppe gekommen. Seitdem er zur Gruppe gestoßen ist, kommt er immer regelmäßig und sehr pünktlich. Schon nach kurzer Zeit konnte er bereits an einem Turnier im Jahr 2016 teilnehmen.

AP5: Ich bin derzeit Pensionistin, früher war ich in der XXXX tätig, zuständig für XXXX . Am 1.7. werde ich dann vom XXXX zur XXXX entsandt. Ich kenne den BF am längsten von den hier anwesenden Personen, nämlich seit Dezember 2015. Mit Freundinnen und Freunden wollten wir damals etwas für junge Flüchtlinge tun. Es ergab sich dann dies mit Flüchtlingen aus dem Haus XXXX . Ca. einmal im Monat unternehmen wir mit jungen Flüchtlingen Ausflüge, gehen wandern, kochen, schwimmen, Radtouren, etc. Der BF ist immer dabei, außer er hat wichtige Gründe, wie z.B. kochen oder in der Kinderbetreuung tätig. Ich weise noch darauf hin, beim Kochen meinte ich, den einmaligen Event, wo er für ca. 50 Leute etwas kochte. Er ist sehr sozial, hilfsbereit, ein sportlicher junger Mann. Er ist immer auch bei den Picknicks dabei, auch bei der Frage wer nun einkaufen geht. Er ist sehr wissbegierig und sehr weitgehend integriert. Er wartet nun auf einen legalen Aufenthaltsstatus, damit er endlich arbeiten gehen kann. Er will zwar Kindergärtner werden, doch dafür braucht man noch sehr lang, deswegen will er nun Koch werden.

RV: Was hat Ihre neue religiöse Einstellung für Auswirkung auf Ihren Alltag?

BF: Ich fühle mich jetzt wohler als früher, als ich noch Moslem war. Ich trinke Alkohol und esse Schweinefleisch, auch wenn mir dieses nicht so gut schmeckt. Ich habe viele weibliche Freundinnen. Sie sind aber nicht alle hier. Das ist Alles.

RV: Sie gaben an, dass Ihr Berufswunsch Kindergärtner wäre. Was für Werte wollen Sie in diesem Beruf den Kindern weitergeben, vor allem beim Vergleich zu Afghanistan? Was ist Ihrer Meinung nach für die Kinder wichtig, was sollen sie lernen?

BF: Das Wichtigste ist bei der Erziehung die Liebe. Ich kenne mich aber bei der Erziehung noch nicht so gut aus, dazu muss ich noch was lernen. Ich möchte Kindern Gutes beibringen.

RV: Sie kommen aus einer relativ liberalen Familie. Vor dem Hintergrund der Unterschiede im Frauenbild zwischen Österreich und Afghanistan, wie ist Ihre Haltung dazu?

BF: Ich bin hundertprozentig der Meinung, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Viele Afghanen denken wie die Taliban, wonach Frauen und Mädchen nicht lernen dürfen. Ich bin nicht dieser Meinung. Meiner Meinung nach, sollten Frauen und Mädchen über ihr Leben selbst bestimmen.

RV an die Auskunftspersonen: Wie nehmen Sie den BF im Alltag wahr?

AP4: Die Thai-Box-Gruppe ist eine gemischtgeschlechtliche Gruppe. Wir betreiben dort einen sehr körperbetonten Vollkontaktsport. Er hat damit keine Probleme. Z.B. beim Grillen auf der Donauinsel wird auch Alkohol getrunken, Frauen und Männer gehen mit der hier üblichen Badebekleidung schwimmen. Er hat damit keine Probleme.

AP2: Ich sehe jeden Tag den BF als Betreuerin. Ich habe den BF beim Ramadan gesehen, den er nicht ausübte. Er übt auch sonst keine Religion aus.

AP5: Vor ca. zwei Jahren wollten wir essen gehen. Normalerweise freuen sich die Asylwerber sehr und melden sich dann auch gleich. Diesmal blieben aber die Meldungen aus. Erst nach einiger Zeit gab ein Asylwerber an, er könne erst ab 21 Uhr. Dann meldeten sich auch die anderen Asylwerber, die auch mitteilten, dass sie erst ab 21 Uhr könnten. Es stellte sich heraus, dass Ramadan damals war. Im letzten und im heurigen Jahr hatten die Asylwerber damit kein Problem mehr, das heißt, sie hatten auch schon während des Ramadan vor 21 Uhr Zeit.

AP3: Ich kann bestätigen, dass er dieses und letztes Jahr keinen Ramadan abgehalten hat. 2016 feierte er auch zusammen mit meiner Familie Weihnachten.

AP1: Ich bestätige auch, dass der BF Alkohol trinkt. Er hat auch einen hohen Respekt vor Frauen. Auch ich erlebe, dass er mit Respekt mit mir umgeht, eine Haltung die ich oft bei Österreichern vermisse. Bezüglich seiner Mitwirkung beim Theater führe ich an, dass eine Mitbewohnerin, die den BF auch kennt, Varietees organisiert, wo Künstler mit unterschiedlichen Nummern auftreten. Er half beim Kochen und beim Sachen hin- und hertragen. Dabei war auch eine Nummer, wo auch Nacktszenen vorkamen. Er hatte damit keine Probleme. Wir sprachen auch danach über die Vorstellung und auch über die Nacktszene, es gab aber bei ihm keine Vorbehalte darüber.

6. In das Verfahren wurden neben den vom BFA und vom Bundesverwaltungsgericht eingeführten (s. weiter unten) u.a. folgende entscheidungsrelevante Bescheinigungsmittel vorgelegt, nämlich:

-

Schreiben des Vaters des Beschwerdeführers über die Situation;

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Schulbesuchsbestätigungen aus Afghanistan;

-

Kursbesuchsbestätigungen u.a. betreffend Basisbildung A2+;

-

Sportauszeichnungen;

-

Schulbesuchsbestätigungen bezüglich des Lehrberufs Kraftfahrzeugtechnik;

-

Bestätigung über den Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich vom 19.06.2018 sowie

-

eine Vielzahl von Referenz- und Unterstützungsschreiben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person und zum Vorbringen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den oben im Spruch wiedergegebenen Namen, ist am 16.09.1997 in Mazar-e Sharif in Afghanistan geboren, Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Tadschiken sowie war moslemischen Glaubensbekenntnis Seine Muttersprache ist Dari. An Schulausbildung weist er zehn Jahre Grundschulbesuchsbestätigung auf. Er übte keinen Beruf aus. In seinem Herkunftsstaat lebte er zuletzt in Mazar-e Sharif bis zu seiner Ausreise im März/April 2015. An Familienangehörigen leben in Afghanistan noch seine Eltern, sein jüngerer Bruder und seine zwei jüngeren Schwestern. Er und seine Familienangehörigen weisen kein Vermögen auf.

Darüberhinaus werden die oben von der mündlichen Verhandlung wiedergegebenen Abschnitte (s. oben Pkt. I.5.2.) zum Inhalt der Feststellungen erhoben.

1.2. Zur politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:

"Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018:

Religionsfreiheit

Etwa 99.7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84.7-89.7% Sunniten (CIA 21.11.2016; vgl. USCIRF 4.2016). Schätzungen zufolge, sind etwa 10-19% der Bevölkerung Schiiten (AA 9.2016; vgl. auch: CIA 21.10.2016). Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (AA 9.2016).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert, dies gilt allerdings ausdrücklich nur für Anhänger/innen anderer Religionen als dem Islam. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen (AA 9.2016; vgl. auch: Max Planck Institut 27.1.2004). Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionsauswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan daher für Muslime nicht. Darüber hinaus ist die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach Scharia-Recht auch strafbewehrt (AA 9.11.2016).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 verbessert, wird aber noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformierte Muslime behindert. Blasphemie und Abtrünnigkeit werden als Kapitalverbrechen angesehen. Nichtmuslimische Religionen sind erlaubt, doch wird stark versucht, deren Missionierungsbestrebungen zu behindern (FH 27.1.2016). Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt (FH 27.1.2016; vgl. auch:

CSR 8.11.2016).

Im Strafgesetzbuch gibt es keine Definition für Apostasie. Laut der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, für Frauen lebenslange Haft, sofern sie die Apostasie nicht bereuen. Ein Richter kann eine mindere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Zu Verfolgung von Apostasie und Blasphemie existieren keine Berichte - dennoch hatten Individuen, die vom Islam konvertierten, Angst vor Konsequenzen. Christen berichteten, dass sie aus Furcht vor Vergeltung, Situationen vermieden, in denen es gegenüber der Regierung so aussehe, als ob sie missionieren würden (USDOS 10.8.2016).

Nichtmuslimische Minderheiten, wie Sikh, Hindu und Christen, sind sozialer Diskriminierung und Belästigung ausgesetzt, und in manchen Fällen, sogar Gewalt. Dieses Vorgehen ist jedoch nicht systematisch (USDOS 10.8.2016). Dennoch bekleiden Mitglieder dieser Gemeinschaften vereinzelt Ämter auf höchster Ebene (CSR 8.11.2016). Im Mai 2014 bekleidete ein Hindu den Posten des afghanischen Botschafters in Kanada (RFERL 15.5.2014). Davor war Sham Lal Bathija als hochrangiger Wirtschaftsberater von Karzai tätig (The New Indian Express16.5.2012).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Bildungsplan einrichten und umsetzen, der auf den Bestimmungen des Islams basiert; auch sollen religiöse Kurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime ist es nicht erforderlich den Islam an öffentlichen Schulen zu lernen (USDOS 10.8.2016).

Nicht-muslimische religiöse Minderheiten werden durch das geltende Recht diskriminiert. So gilt die sunnitische-hanafitische Rechtsprechung für alle afghanischen Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer Religion (AA 9.2016). Für die religiöse Minderheit der Schiiten gilt in Personenstandsfragen das schiitische Recht (USDOS 10.8.2016).

Militante Gruppen haben sich unter anderem als Teil eines größeren zivilen Konfliktes gegen Moschen und Gelehrte gerichtet. Konservative soziale Einstellungen, Intoleranz und das Unvermögen oder die Widerwilligkeit von Polizeibeamten individuelle Freiheiten zu verteidigen bedeuten, dass jene, die religiöse und soziale Normen brechen, anfällig für Misshandlung sind (FH 27.1.2016).

Blasphemie - welche anti-islamische Schriften oder Ansprachen beinhaltet, ist ein Kapitalverbrechen im Rahmen der gerichtlichen Interpretation des islamischen Rechtes. Ähnlich wie bei Apostasie, gibt das Gericht Blasphemisten drei Tage um ihr Vorhaben zu widerrufen oder sie sind dem Tod ausgesetzt (CRS 8.11.2016).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin der zwei anderen abrahamitischen Religionen, Christentum und Judentum, ist. Einer Muslima ist nicht erlaubt einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind legal, solange das Paar nicht öffentlich ihren nicht-muslimischen Glauben deklariert (USDOS 10.8.2016).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan

-

CIA - Central Intelligence Agency (21.11.2016): The World Factbook

-

Afghanistan,

https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/af.html, Zugriff 29.11.2016

-

CRS - Congressional Research Service (8.11.2016): Afghanistan:

Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy, https://www.fas.org/sgp/crs/row/RL30588.pdf, Zugriff 30.11.2016

-

FH - Freedom House (28.4.2015): Freedom of the Press 2015 - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/311145/449187_de.html, Zugriff 21.10.2015

-

Max Planck Institut (27.1.2004): Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan,

http://www.mpipriv.de/files/pdf4/verfassung_2004_deutsch_mpil_webseite.pdf, Zugriff 28.11.2016

-

RFERL - Radio Free Europe/Radio Liberty (15.5.2014): First Afghan Hindu Envoy Takes Pride In Serving His Country, http://gandhara.rferl.org/content/article/25386024.html, Zugriff 29.11.2016

-

The New Indian Express (16.5.2012): 'I greeted Manmohan, and he was delighted',

http://www.newindianexpress.com/thesundaystandard/article350359.ece?service=print, Zugriff 5.11.2015

-

USCIRF - U.S. Commission on International Religious Freedom (4.2016): 2016 Country Reports: Tier 2; Afghanistan, http://www.uscirf.gov/sites/default/files/USCIRF_Tier2_Afghan.pdf, Zugriff 30.11.2016

-

USDOS - US Department of State (10.8.2016): 2016 Report on International Religious Freedom - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/328423/469202_de.html, , Zugriff 29.11.2016

Christen und Konversionen zum Christentum

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert (AA 9.2016). Ihre Zahl kann nicht verlässlich angegeben werden, da Konvertiten sich nicht öffentlich bekennen (AA 2.3.2015; vgl. auch: USDOS.10.8.2016).

Nichtmuslim/innen, z.B. Sikhs, Hindus und Christen, sind Belästigungen ausgesetzt und in manchen Fällen sogar Gewalt. Nachdem Religion und Ethnie stark miteinander verbunden sind, ist es schwierig die vielen Vorfälle nur als Vorfälle wegen religiöser Identität zu kategorisieren (USDOS 10.8.2016).

Die gesellschaftliche Einstellung gegenüber konvertierten Christen ist ablehnend. Zu einer Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis, die speziell Christen diskriminiert, kommt es in Afghanistan in der Regel schon deshalb nicht, weil sich Christen nicht offen zu ihrem Glauben bekennen (AA 9.2016). Konversion wird als Akt der Abtrünnigkeit und Verbrechen gegen den Islam gesehen, der mit dem Tod bestraft werden könnte (AA 9.2016; vgl. USDOS 10.8.2016) - sofern die Konversion nicht widerrufen wird (USDOS 10.8.2016). Keiner wurde bisher aufgrund von Konversion durch den afghanischen Staat hingerichtet (AA 9.2016).

Die Christen verlautbarten, dass die öffentliche Meinung gegenüber Missionierung feindlich ist. Es gibt keine öffentlichen Kirchen (CRS 8.11.2016). Für christliche Afghan/innen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens. Zu Gottesdiensten, die in Privathäusern von internationalen NGOs abgehalten werden, erscheinen sie meist nicht oder werden aus Sicherheitsgründen nicht eingeladen. Christliche Gottesdienste für die internationale Gemeinschaft finden u.a. in verschiedenen Botschaften sowie auf dem Gelände der internationalen Truppen statt (AA 9.2016). Einem Bericht einer kanadischen christlichen Organisation zufolge, wächst die Zahl der Hauskirchen in Afghanistan. In diesem Bericht wird angedeutet, dass einige Mitglieder des Parlaments selbst das Christentum angenommen und an christlichen Gottesdiensten teilgenommen haben (The Voice of the Martyrs Canada 5.4.2012).

Einige Konversionsfälle von Christen haben zu harten Strafen geführt und dadurch internationale Aufmerksamkeit erlangt (CRS 8.11.2016). Die im Libanon geborenen Rula Ghani, Ehefrau von Staatspräsident Ashraf Ghanis, entstammt einer christlich-maronitischen Familie (NPR 19.2.2015; vgl. BBC 15.10.2014).

Berichten zufolge gibt es ein christliches Spital in Kabul (NYP 24.4.2014; vgl. CNN 24.4.2014).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan

-

BBC (15.10.2014): Afghanistan first lady Rula Ghani moves into the limelight, http://www.bbc.com/news/world-asia-29601045, Zugriff 23.10.2015

-

CNN (24.4.2014): Afghanistan Violence, http://edition.cnn.com/2014/04/24/world/asia/afghanistan-violence/, Zugriff 23.10.2015

-

The Voice of the Martyrs Canada (05.04.2012): Christianity growing, https://www.vomcanada.com/af-2012-04-05.htm, Zugriff 23.10.2015

-

NPR - National Public Radio (19.2.2015): For The First Time, An Afghan First Lady Steps Into The Spotlight, http://www.npr.org/sections/parallels/2015/02/19/386950128/for-the-first-time-an-afghan-first-lady-steps-into-the-spotlight, Zugriff 23.10.2015

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NYP - The New York Post (24.4.2014):

http://nypost.com/2014/04/24/3-foreigners-killed-in-attack-at-afghan-hospital/, 23.10.2015

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USDOS - US Department of State (10.8.2016): 2016 Report on International Religious Freedom - Afghanistan, http://www.ecoi.net/local_link/328423/469202_de.html, , Zugriff 29.11.2016

Vom Islam abgefallene Personen (Apostaten)

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass Apostasie (Arabisch: ridda) in der klassischen Scharia als ‚Weggehen' vom Islam verstanden werde und ein Apostat (Arabisch: murtadd) ein Muslim sei, der den Islam verleugne. Apostasie müsse nicht unbedingt bedeuten, dass sich der Apostat einer neuen Glaubensrichtung anschließe:

[...]

Artikel 2 der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan vom Jänner 2004 legt die ‚heilige Religion des Islam' als Religion Afghanistans fest. Angehörige anderer Glaubensrichtungen steht es frei, innerhalb der Grenzen des Gesetzes ihren Glauben und ihre religiösen Rituale auszuüben. Gemäß Artikel 3 der Verfassung darf kein Gesetz in Widerspruch zu den Lehren und Vorschriften des Islam stehen. Laut Artikel 7 ist Afghanistan indes verpflichtet, die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen, zwischenstaatlicher Vereinbarungen, internationaler Vertragswerke, deren Vertragsstaat Afghanistan ist, sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einzuhalten. Artikel 130 der Verfassung schreibt vor, dass die Gerichte bei der Beurteilung von Fällen die Bestimmungen der Verfassung und anderer Gesetze zu berücksichtigen haben. Wenn es jedoch zu einem Fall keine Bestimmungen in der Verfassung oder anderen Gesetzen gibt, so haben die Gerichte entsprechend der (sunnitischen) hanafitischen Rechtssprechungstradition innerhalb der Grenzen der Verfassung auf eine Art und Weise zu entscheiden, welche am besten geeignet ist, Gerechtigkeit zu gewährleisten:

[...]

Bezug nehmend auf den soeben zitierten Artikel 130 der afghanischen Verfassung schreibt Landinfo im August 2014, dass dieser Artikel hinsichtlich Apostasie und Blasphemie relevant sei, da Apostasie und Blasphemie weder in der Verfassung noch in anderen Gesetzen behandelt würden. (Landinfo, 26. August 2014, S. 2). Im afghanischen Strafgesetzbuch existiere keine Definition von Apostasie (Landinfo, 4. September 2013, S. 10; USDOS, 10. August 2016, Section 2). Die US Commission on International Religious Freedom (USCIRF) schreibt, dass das Strafgesetzbuch den Gerichten ermögliche, Fälle, die weder im Strafgesetz noch in der Verfassung explizit erfasst seien, darunter Blasphemie, Apostasie und Konversion, gemäß dem Scharia-Recht der Hanafi-Rechtsschule und den sogenannten ‚hudud'-Gesetzen, die Vergehen gegen Gott umfassen würden, zu entscheiden (USCIRF, 26. April 2017). Die Scharia zähle Apostasie zu den sogenannten ‚hudud'-Vergehen (USDOS, 10. August 2016, Section 2) und sehe für Apostasie wie auch für Blasphemie die Todesstrafe vor (Landinfo, 26. August 2014, S. 2).

Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), eine staatliche Einrichtung der USA zur Beobachtung der Situation hinsichtlich der Meinungs- Gewissens- und Glaubensfreiheit im Ausland, schreibt in ihrem Jahresbericht vom April 2017, dass staatlich sanktionierte religiöse Führer sowie das Justizsystem dazu ermächtigt seien, islamische Prinzipien und das Scharia-Recht (gemäß Hanafi-Rechtslehre) auszulegen. Dies führe zuweilen zu willkürlichen und missbräuchlichen Auslegungen und zur Verhängung schwerer Strafen, darunter der Todesstrafe (USCIRF, 26. April 2017).

Die Internationale Humanistische und Ethische Union (International Humanist and Ethical Union, IHEU), ein Zusammenschluss von über 100 nichtreligiösen humanistischen und säkularen Organisationen in mehr als 40 Ländern, bemerkt in ihrem im November 2016 veröffentlichten‚ Freedom of Thought Report 2016', dass sich die Gerichte bei ihren Entscheidungen weiterhin auf Auslegungen des islamischen Rechts nach der Hanafi-Rechtslehre stützen würden. Das Office of Fatwa and Accounts innerhalb des Obersten Gerichtshofs Afghanistans würde die Hanafi-Rechtsprechung auslegen, wenn ein Richter Hilfe dabei benötige, zu verstehen, wie die Rechtsprechung umzusetzen sei:

[...]

Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network (AAN), einer unabhängigen, gemeinnützige Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, die Analysen zu politischen Themen in Afghanistan und der umliegenden Region erstellt, bemerkte in einem Expertengespräch vom Mai 2016 (veröffentlicht im Juni 2016) Folgendes bezüglich der Rechtspraxis:

‚Zwar gibt es drei parallele Rechtssysteme (staatliches Recht, traditionelles Recht und islamisches Recht/Scharia), doch letztendlich ziehen sich viele Richter, wenn die Lage irgendwie politisch heikel wird, auf das zurück, was sie selber als Scharia ansehen, statt sich etwa auf die Verfassung zu berufen. Die Scharia ist nicht gänzlich kodifiziert, obwohl verschiedenste Rechtskommentare etc. existieren, und zudem gibt es zahlreiche Widersprüche in den Lehrmeinungen. (ACCORD, Juni 2016, S. 10)

Michael Daxner, Sozialwissenschaftler, der das Teilprojekt C9 ‚Sicherheit und Entwicklung in Nordost-Afghanistan' des Sonderforschungsbereichs 700 der Freien Universität Berlin leitet, bemerkte beim selben Expertengespräch vom Mai bezüglich der Auslegung des islamischen Rechts und islamischer Prinzipien:

‚Sehr oft stammen die liberalsten Auslegungen von Personen, die etwa an einer Einrichtung wie der Al-Azhar in Kairo studiert haben und daher mit den Rechtskommentaren vertraut sind. Man kann sich indes kaum vorstellen, wie wenig theologisch und religionswissenschaftlich versiert die Geistlichen auf den unteren Ebenen sind. Wenn ein Rechtsgelehrter anwesend ist, der etwa von der Al-Azhar kommt, kann er die Sache auch ein Stück weit zugunsten des Beschuldigten drehen, denn je mehr glaubwürdige Kommentare dem Scharia-Text zugefügt werden, desto besser sieht es für die Betroffenen aus. (ACCORD, Juni 2016, S. 10)

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) geht in seinen im April 2016 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender wie folgt auf die strafrechtlichen Konsequenzen von Apostasie bzw. Konversion vom Islam ein:

‚Eine Konversion vom Islam wird als Apostasie betrachtet und gemäß den Auslegungen des islamischen Rechts durch die Gerichte mit dem Tod bestraft. Zwar wird Apostasie im afghanischen Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich als Straftat definiert, fällt jedoch nach allgemeiner afghanischer Rechtsauffassung unter die nicht weiter definierten ‚ungeheuerlichen Straftaten', die laut Strafgesetzbuch nach der islamischen Hanafi-Rechtslehre bestraft werden und in den Zuständigkeitsbereich der Generalstaatsanwaltschaft fallen.

Damit wird Apostasie als Straftat behandelt, obwohl nach der afghanischen Verfassung keine Handlung als Straftat eingestuft werden darf, sofern sie nicht als solche gesetzlich definiert ist. (UNHCR, 19. April 2016, S. 61)

Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem im August 2016 veröffentlichten Länderbericht zur internationalen Religionsfreiheit (Berichtsjahr 2015), dass laut Hanafi-Rechtlehre Männer bei Apostasie mit Enthauptung und Frauen mit lebenslanger Haft zu bestrafen seien, sofern die Betroffenen keine Reue zeigen würden. Richter könnten zudem geringere Strafen verhängen, wenn Zweifel am Vorliegen von Apostasie bestünden. Laut der Auslegung des islamischen Rechts durch die Gerichte würde der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion Apostasie darstellen. In diesem Fall habe die betroffene Person drei Tage Zeit, um die Konversion zu widerrufen. Widerruft sie nicht, so habe sie die für Apostasie vorgesehene Strafe zu erhalten. Die genannten Entscheidungsempfehlungen würden in Bezug auf Personen gelten, die geistig gesund und vom Alter her ‚reif' seien. Dieses Alter werde im Zivilrecht mit 18 Jahren (bei Männern) bzw. 16 Jahren (bei Frauen) festgelegt. Gemäß islamischem Recht erreiche eine Person dieses Alter, sobald sie Anzeichen von Pubertät zeige:

[...]

Auch der Bericht von Landinfo vom September 2013 behandelt unter Berufung auf verschiedene Quellen die rechtlichen Folgen von Apostasie. Das Strafrecht sehe gemäß Scharia die Todesstrafe für erwachsene zurechnungsfähige Männer vor, die den Islam freiwillig verlassen hätten. Diese Rechtsauffassung gelte sowohl für die schiitisch-dschafaritische als auch für die (in Afghanistan dominierende) sunnitisch-hanafitische Rechtsschule. Nach einer Einschätzung in einer Entscheidung des britischen Asylum and Immigration Tribunal aus dem Jahr 2008 sei das Justizwesen in Afghanistan mehrheitlich mit islamischen Richtern besetzt, die den Doktrinen der hanafitischen bzw. dschafaritischen Rechtssprechung folgen würden, welche die Hinrichtung von muslimischen Konvertiten empfehlen würden. Die Strafen für Frauen im Falle von Apostasie seien indes weniger schwer: sie würden ‚gefangen gehalten'. Die sunnitischhanafitische Rechtslehre sehe dabei eine mildere Bestrafung vor als die schiitischdschafaritische. Während letztere vorsehe, dass (weibliche) Apostatinnen täglich jeweils zu den Gebetszeiten ausgepeitscht würden, sehe die hanafitische Lehre vor, dass sie jeden dritten Tag geschlagen würden, um sie zu zur Rückkehr zum Islam zu bewegen. Neben Frauen seien auch Kinder, androgyne Personen und nichtgebürtige Muslime im Fall von Apostasie von der Todesstrafe ausgenommen. Bezüglich der Anwendung der Scharia und der strafrechtlichen Konsequenzen für Apostasie liege kein Erfahrungsmaterial speziell zu Afghanistan vor. Zugleich sei Landinfo der Auffassung, es gebe Grund zur Annahme, dass etwaige gerichtliche Entscheidungen in diesem Bereich unterschiedlich ausgefallen seien, jedoch den soeben beschriebenen Richtlinien entsprechen würden, wobei die Variationen eventuell weniger ausgeprägt sein könnten. Dies gelte auch für die zivilrechtlichen Folgen von Apostasie. Wie Landinfo bemerkt, könne in Afghanistan gemäß Verfassung und religiösen Rechtsmeinungen die Todesstrafe verhängt werden, wenn ein Fall von Konversion vor Gericht komme. Dies gelte sowohl für das staatliche als auch für das traditionelle Rechtssystem:

[...]

Dem USDOS zufolge seien aus dem Berichtsjahr 2015 keine Fälle von tätlichen Übergriffen, Inhaftierungen, Festnahmen oder Strafverfolgung wegen Apostasie bekannt (USDOS, 10. August 2016, Section 2).

UNHCR schreibt in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender Folgendes über zivilrechtliche und gesellschaftliche Folgen einer (vermeintlichen) Apostasie bzw. Konversion:

‚Geistig zurechnungsfähige männliche Bürger über 18 Jahren und weibliche Bürger über 16 Jahren, die vom Islam konvertieren und ihre Konversion nicht innerhalb von drei Tagen widerrufen, riskieren die Annullierung ihrer Ehe und eine Enteignung ihres gesamten Grund und sonstigen Eigentums. Außerdem können sie von ihren Familien und Gemeinschaften zurückgewiesen werden und ihre Arbeit verlieren.

Berichten zufolge herrscht in der öffentlichen Meinung eine feindliche Einstellung gegenüber missionarisch tätigen Personen und Einrichtungen. Rechtsanwälte, die Angeklagte vertreten, denen Apostasie zur Last gelegt wird, können Berichten zufolge selbst der Apostasie bezichtigt und mit dem Tod bedroht werden. [...]

Darüber hinaus besteht für Personen, denen Verstöße gegen die Scharia wie Apostasie, Blasphemie, einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen oder Ehebruch (zina) vorgeworfen werden, nicht nur die Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung, sondern auch der gesellschaftlichen Ächtung und Gewalt durch Familienangehörige, andere Mitglieder ihrer Gemeinschaften, die Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte (AGEs). (UNHCR, 19. April 2016, S. 61-62)

Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass die Situation von Apostaten, die hin zu einer anderen Religion konvertieren, eine andere sei als jene von Atheisten oder säkular eingestellten Personen. Mit dem Negieren bzw. Bezweifeln der Existenz Gottes würden keine Erwartungen an ein bestimmtes Verhalten im Alltag einhergehen. Eine Konversion zu einer Religion hingegen sei mit Verhaltensvorschriften, kirchlichen Traditionen und Ritualen zu verbinden, die schwieriger zu verbergen seien:

[...]

Die IHEU bemerkt in ihrem Bericht vom November 2016, dass nur sehr wenige Fälle von ‚Ungläubigen' bzw. Apostaten verzeichnet würden, was wahrscheinlich jedoch bedeute, dass viele Konvertiten und Andersgläubige zu viel Angst davor hätten, ihren Glauben öffentlich kundzutun. Der Übertritt vom Islam werde selbst von vielen Personen, die sich allgemein zu demokratischen Werten bekennen würden, als Tabu angesehen. (IHEU, 1. November 2016)

Laut einem Artikel von BBC News vom Jänner 2014 stelle Konversion bzw. Apostasie in Afghanistan nach islamischem Recht eine Straftat dar, die mit der Todesstrafe bedroht sei. In manchen Fällen würden die Leute jedoch die Sache selbst in die Hand nehmen und einen Apostaten zu Tode prügeln, ohne dass die Angelegenheit vor Gericht gelange:

[...]

Weiters bemerkt BBC News, dass für gebürtige Muslime ein Leben in der afghanischen Gesellschaft eventuell möglich sei, ohne dass sie den Islam praktizieren würden oder sogar dann, wenn sie ‚Apostaten' bzw. ‚Konvertiten' würden. Solche Personen seien in Sicherheit, solange sie darüber Stillschweigen bewahren würden. Gefährlich werde es dann, wenn öffentlich bekannt werde, dass ein Muslim aufgehört habe, an die Prinzipien des Islam zu glauben. Es gebe kein Mitleid mit Muslimen, die ‚Verrat an ihrem Glauben' geübt hätten, indem sie zu einer anderen Religion konvertiert seien oder aufgehört hätten, an den einen Gott und an den Propheten Mohammed zu glauben. In den meisten Fällen werde ein Apostat von sein

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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