Entscheidungsdatum
31.08.2018Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L521 2151100-1/35E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.03.2017, Zl. 1087144810-151351424, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 08.03.2018 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 15.09.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Gratwein am Tag der Antragstellung gab der Beschwerdeführer an, den im Spruch genannten Namen zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXXin Bagdad geboren und habe dort zuletzt auch gelebt, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, Moslem und ledig.
Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, den Irak am 20.07.2015 legal von Bagdad ausgehend im Luftweg zunächst in die Autonome Region Kurdistan und dann mit dem Reisebus in die Türkei verlassen zu haben. Nach einem kurzen Aufenthalt in Istanbul sei er schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland gelangt und dort von freiwilligen Helfern empfangen worden. In der Folge sei er mit der Fähre auf das Festland gefahren und anschließend mit verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln nach Österreich verbracht worden.
Zu den Gründen seiner Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass im Irak Krieg herrsche. Er sei persönlich nicht bedroht worden, habe sich jedoch nicht sicher gefühlt. Er sei vom Wehrdienst befreit gewesen und nie inhaftiert worden, mehr könne er nicht angeben. Im Fall einer Rückkehr habe er keine Sanktionen zu befürchten, er habe einfach Angst.
2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 02.03.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich einvernommen.
Eingangs bestätigte der Beschwerdeführer, einvernahmefähig zu sein und die arabische Sprache zu verstehen. Zur Person und seinen Lebensumständen befragt gab der Beschwerdeführer an, er bekenne sich zum Islam der schiitischen Glaubensrichtung, sei ledig und habe keine Kinder. Im Irak habe er zwölf Jahre die Schule besucht und zuletzt in einem Supermarkt gearbeitet. Seine Mutter sei verstorben, sein Vater und sein jüngster Bruder würden sich in Bagdad im Bezirk XXXX leben, ein weiterer Bruder lebe ebenfalls in Bagdad und sein dritter Bruder in den Vereinigten Staaten. Er habe ferner zwei Schwestern, welche sich ebenfalls in Bagdad aufhalten würden. Sein Verhältnis zur Familie sei gut und er stehe mit dieser in Kontakt.
Den Irak habe er verlassen, da zwei er von zwei schiitischen Personen zur Teilnahme am Kampf gegen die Milizen des Islamischen Staates aufgefordert worden sei. Er habe eine Adresse und ein Datum erhalten, an dem er sich melden müssen. Er habe die Aufforderung ignoriert. In der Folge sei er am 02.06.2016 von drei Personen in seinem Geschäft aufgesucht worden, die ihn mit Gewalt überzeugen hätten wollen. Nachdem er abgelehnt habe, hätten sich versucht, ihn mit Gewalt in ein Fahrzeug zu bringen. Er habe flüchten können und sei auf der Flucht niedergeschossen worden. Er sei in Ohnmacht gefallen und im Spital wieder aufgewacht.
Nach Details nachgefragt legte der Beschwerdeführer dar, er sei im Spital von der Polizei einvernommen worden. Zunächst sei er von Schmerzen im Spital erwacht, dann habe er eine Narkose bekommen, sei operiert wurden und am nächsten Tag wieder aufgewacht. Die drei Personen hätten einen langen Bart getragen und Waffen bei sich geführt. Er sei von diesen nicht geschlagen, sondern mit der Faust bedroht worden. Zum Fahrzeug sei er zunächst mitgegangen und habe sich willig gezeigt, um dann flüchten zu können. Er sei dabei an der Hand festgehalten worden, der Griff sei dann aber gelockert worden. Auf der Straße habe er etwa 20 Meter entlanglaufen können, bis er getroffen worden sei.
Die Personen hätten der al-Haschd asch-Scha?bi angehört. Im Fall der Rückkehr fürchte er sich vor den Milizen.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.03.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte die belangte Behörde nach der Wiedergabe der Einvernahme des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person aus, der Beschwerdeführer sei keiner Verfolgung durch staatliche Organe ausgesetzt gewesen. Dass er von Mitgliedern schiitischer Milizen persönlich bedroht worden sei, werde nicht geglaubt. Der Beschwerdeführer sei im Fall einer Rückkehr keiner Gefährdung durch staatliche Organe ausgesetzt und es könne nicht festgestellt werden, dass er im Fall einer Rückkehr einer Bedrohung durch schiitische Milizen ausgesetzt wäre. Der Beschwerdeführer verfüge über familiäre Anknüpfungspunkte im Irak und sei ihm eine Rückkehr zumutbar und möglich.
In der Beweiswürdigung wird diesbezüglich dargelegt, der Beschwerdeführer habe sich widersprüchlich geäußert und etwa zunächst angegeben, geschlagen worden zu sein, dies auf Nachfrage jedoch verneint. Die geschilderte Flucht könne nicht nachvollzogen werden, außerdem habe der Beschwerdeführer nicht darlegen können, welche Verletzungen er aufgrund des Schusses erlitten habe. Es sei lebensfremd, wenn ein Schwerverletzter in ein Spital eingeliefert werde und später nicht wisse, welche Verletzungen er erlitten habe. Die vom Beschwerdeführer präsentierte Narbe lasse keinen Schluss darauf zu, ob diese auf eine Schussabgabe durch Milizionäre zurückzuführen sei. Schließlich habe der Beschwerdeführer anlässlich der Erstbefragung gänzlich andere Angaben getätigt. Das Vorbringen des Beschwerdeführers erweise sich damit im Hinblick auf die behauptete Furcht vor Verfolgung als nicht glaubhaft.
In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Dem Beschwerdeführer sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da er im Irak über genügend Anknüpfungspunkte verfüge und keine reale Gefahr einer Verletzung in elementaren Rechte sowie keine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohe. Dem Beschwerdeführer sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen.
4. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.03.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
5. Gegen den dem Beschwerdeführer am 13.03.2017 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege der beigegebenen Rechtsberatungsorganisation fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen und die Rückkehrentscheidung aufzuheben. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.
In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach Wiederholung seiner bereits vorgebrachten Ausreisegründe im Wesentlichen vor, das belangte Bundesamt habe die angefochtene Entscheidung auf unvollständige Länderberichte gestützt und insbesondere Ermittlungen zur Lage von Personen unterlassen, die sich schiitischen Milizen nicht anschließen würden und die westlich orientiert wären. Dem Bundesamt werde außerdem eine Verletzung des Rechts auf Parteiengehör angelastet, da die in der Beweiswürdigung erörterten Widersprüche dem Beschwerdeführer nicht vorgehalten worden wären.
Hinsichtlich der Beweiswürdigung wird im Besonderen ausgeführt, der Beschwerdeführer habe sein Vorbringen detailliert und lebensnah gestaltet. Die dem Beschwerdeführer angelasteten Wiedersprüchen lägen einerseits nicht vor und hätte der Beschwerdeführer andererseits diese aufklären könnten, hätte das Bundesamt die gebotenen Nachfragen getätigt. Schließlich sei die Verwertung von Widersprüchen zwischen der Erstbefragung und den Angaben bei der Einvernehme vor dem Bundesamt der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zufolge nicht zulässig.
6. Die Beschwerdevorlage langte am 24.03.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.
7. Am 08.03.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und eines Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand aktueller Länderdokumentationsunterlagen und dreier Anfragebeantwortungen zur Rekrutierungspraxis schiitischer Milizen erörtert, welche dem Beschwerdeführer ausgefolgt und eine Stellungnahme hiezu freigestellt wurde. Seitens der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers wurde die Untersuchung der Verletzung des Beschwerdeführers durch einen Sachverständigen zum Beweis der Richtigkeit des diesbezüglichen Vorbringens beantragt. Der Beschwerdeführer brachte anlässlich der mündlichen Verhandlung Unterlagen in arabischer Sprache sowie Kursbestätigungen, Empfehlungsschreiben und Lichtbilder zu seiner Integration in Österreich in Vorlage.
8. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.03.2018 wurden der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers zwei Anfragebeantwortungen zur Lage von Mitarbeitern ausländischer Unternehmen in Bagdad zur Stellungnahme übermittelt. Eine diesbezügliche Stellungnahme langte am 05.04.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
9. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes 14.05.2018 wurde XXXX, allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Gerichtsmedizin, zum Sachverständigen bestellt und mit der Erstellung von Befund und Gutachten zur Schussverletzung des Beschwerdeführers beauftragt. Das Gutachten langte am 04.06.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
10. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte dem Beschwerdeführer zu Handen dessen rechtsfreundlicher Vertretung mit Note vom 07.06.2018 das Gutachten des XXXX sowie aktualisierte Informationen zur Lage im Herkunftsstaat zur Abgabe einer Stellungnahme. Die Stellungnahme des Beschwerdeführers langte am 25.06.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
11. Mit Eingaben vom 03.07.2018, vom 27.07.2018 und vom 03.08.2018 übermittelte der Beschwerdeführer Lichtbilder und Empfehlungsschreiben sowie eine Deutschkursbestätigung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX, ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Der Beschwerdeführer wurde am XXXXin Bagdad geboren und lebte dort zuletzt im Bezirk XXXX gemeinsam mit der Familie in einer Eigentumswohnung. Der Beschwerdeführer bekennt sich zum Islam der schiitischen Glaubensrichtung, er ist ledig und hat keine Kinder. Der Beschwerdeführer ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.
Der Beschwerdeführer besuchte in Bagdad die Grundschule und die Mittelschule im Gesamtausmaß von zwölf Jahren und erlangte die Matura. Nach dem Schulbesuch trat der Beschwerdeführer in das Erwerbsleben ein und arbeitete an der Tankstelle eines Logistikunternehmens von 2006 bis 2013. Im Anschluss arbeitete er im eigenen Supermarkt bis zur Ausreise.
Die Mutter des Beschwerdeführers ist verstorben. Sein Vater, er ist Pensionist, und zwei Brüder lebten zumindest bis in den Monat August 2017 in Bagdad. Sie reisten am 22.08.2017 in die Türkei ein. Nicht festgestellt werden kann, dass sein Vater und seine zwei Brüder sich dauerhaft in der Türkei niedergelassen haben. Der Beschwerdeführer hat außerdem zwei Schwestern, die beide verheiratet sind und mit ihren Familien in Amman und in Bagdad leben. Ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers lebt in den Vereinigten Staaten.
An einem nicht feststellbaren Tag im Juli 2015 verließ der Beschwerdeführer den Irak legal von Bagdad ausgehend zunächst mit dem Flugzeug nach Erbil und von dort aus mit dem Reisebus in die Türkei. In weiterer Folge gelangte er schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und von dort aus mit verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln nach Österreich, wo er am 15.09.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
1.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer hatte außerdem vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften seines Herkunftsstaates zu gewärtigen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat vor der Ausreise Drohungen oder Übergriffen einer schiitischen Miliz oder eines ihrer Mitglieder ausgesetzt war oder er einer - auch nur versuchten - Zwangsrekrutierung durch eine Miliz unterlag bzw. er der Gefahr einer Zwangsrekrutierung oder von Übergriffen solcher Gruppierungen im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Der Beschwerdeführer wurde vor seiner Ausreise nicht von Mitgliedern einer schiitischen Miliz angeschossen und verletzt. Seine Narbe am Rücken über dem unteren Rippenbogenrand ist nicht auf einen Rumpfsteckschuss zurückzuführen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak für die Streitkräfte der Vereinigten Staaten oder ein für diese Streitkräfte tätiges Unternehmen beruflich tätig war und er deshalb im Jahr 2007 bedroht wurde.
1.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.
Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit hervorragender Ausbildung in der Schule und mehrjähriger Berufserfahrung an einer Tankstelle sowie als Betreiber eines Supermarktes. Der Beschwerdeführer verfügt über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte und eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft. Dem Beschwerdeführer ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.
Der Beschwerdeführer verfügt über irakischen Ausweisdokumente im Original (Staatsbürgerschaftsnachweis, Personalausweis).
1.4. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 15.09.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel. Er ist strafgerichtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und war zunächst in der Gemeinde XXXX. Seit dem 18.08.2016 lebt er in der Gemeinde XXXX. Der Beschwerdeführer ist nicht legal erwerbstätig und es wurde ihm auch keine bestimmte Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt in verbindlicher Weise durch Abschluss eines (bedingten) Dienstvertrages zugesichert. Dem Beschwerdeführer wurde allerdings eine Tätigkeit als persönlicher Assistent in Aussicht gestellt.
Er verrichtete vom 21.12.2015 bis zum 01.08.2016 gemeinnützige Tätigkeiten im Rahmen des Projekts "Nachbarschaftshilfe" der Caritas der Diözese Feldkirch, ferner erbringt er Reinigungsleistungen in seiner Unterkunft und ist Nachbarn bei der Tierpflege, der Betreuung eines beeinträchtigten Kindes und beim Holzschneiden behilflich.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten und pflegt im Übrigen normale soziale Kontakte. Er ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig. Seit dem Monat September 2016 unterhält er eine Beziehung mit der österreichischen Staatsangehörigen XXXX, lebt mit dieser jedoch nicht im gemeinsamen Haushalt. Der Beschwerdeführer kocht für seine Freundin und unternimmt Freizeitaktivitäten wie Kinobesuche mit ihr. Der Beschwerdeführer strebt eine Eheschließung erst für den Fall der eigenen Selbsterhaltungsfähigkeit nach dem Eintritt in das Erwerbsleben an.
Personen aus der Gemeinde XXXX attestieren dem Beschwerdeführer Fleiß und Geschicklichkeit bei handwerklichen Tätigkeiten, Verlässlichkeit und Freundlichkeit. Der Beschwerdeführer ist nicht Mitglied eines Vereins. Er besucht ein Fitnessstudio.
Der Beschwerdeführer besuchte mehrere Deutschkurse bei der Caritas der Diözese Feldkirch von September 2016 an bis zum Juli 2018, zuletzt auf dem Niveau A1.3. Er legte keine Prüfungen über Kenntnisse der deutschen Sprache ab.
1.5. Zur Rekrutierung von Kämpfern durch schiitische Milizen im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der angeführten Quellen getroffen:
Die Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilisation Front, PMF, arabisch: al-Haschd al-Schaabi) unterhalten eine eigene Website in arabischer Sprache, auf der unter anderem über die militärischen Erfolge der PMF beim Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) berichtet wird. Auf dieser Website finden sich eine Vielzahl von Artikeln über die Verpflichtung Freiwilliger in den PMF. Die jüngsten Artikel beziehen sich dabei besonders auf den Anschluss Freiwilliger in der Provinz Ninawa zur Teilnahme an der Befreiung der Stadt Mossul. Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen im Irak sind grundsätzlich möglich. Familien von Binnenvertriebenen werden zum Teil nur durch einen Checkpoint gelassen, wenn sich die erwachsenen Männer bereit erklären, sich den paramilitärischen Einheiten der al-Haschd al-Schaabi anzuschließen. Es wird berichtet, dass bei einer Weigerung damit gedroht werde, die Binnenflüchtlinge in ihre Heimatprovinzen zurückzuschicken. UNHCR berichtet in einer wöchentlichen Aktualisierung zum Thema Schutz in Mossul vom Jänner 2017, dass die Organisation mit Sorge Vorwürfe der Zwangsrekrutierung von Männern und auch von Minderjährigen in gerade befreiten Gebieten der Stadt Mossul vermerkt habe. Es sei ebenfalls berichtet worden, dass Personen, die aus dem östlichen Teil der Stadt fliehen würden, von Stammesmilizen dazu gezwungen würden, zur Militäroffensive beizutragen, indem sie Mahlzeiten vorbereiten, Waffen transportieren oder selbst zu den Waffen greifen müssten. Binnenflüchtlinge würden Berichten zufolge Gefahr laufen, der Verbindung zu bewaffneten Gruppen beschuldigt zu werden, wenn sie es ablehnen oder nur zögerlich mitmachen würden. Ein männlicher "Freiwilliger" pro Familie würde die Familie Berichten zufolge vom Vorwurf freisprechen, einer bewaffneten Gruppe anzugehören. Bei den Binnenflüchtlingen handelt es sich oft um Sunniten oder um Angehörige religiöser Minderheiten wie den Schabak. Zu anders motivierten Fällen von Zwangsrekrutierung liegen indes keine Informationen vor.
Carnegie Endowment for International Peace (CEIP), ein globales Netzwerk von Think Tanks zum Thema Politikforschung und Förderung des Friedens mit Hauptsitz in den USA, berichtet in einem Artikel vom Februar 2016, dass es bei schiitischen Milizen keine offizielle Wehrpflicht/Zwangsrekrutierung gibt, obwohl die große Anzahl an Rekrutierten dies vermuten lassen würde. Viele irakische Schiiten würden sich statt beim irakischen Militär paramilitärischen Einheiten unter dem Schirm der Volksverteidigungseinheiten (Popular Mobilization Forces, PMF) anschließen würden, die die größte Bodentruppe im Kampf gegen die Gruppe Islamischer Staat (IS) stellen würden. Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage habe ergeben, dass 99 Prozent der irakischen Schiiten die PMF beim Kampf gegen den IS unterstützen würden. Daher gebe es eine erhebliche Anzahl von Rekruten, die sich beeilen würden, sich den PMF anzuschließen. Laut Angaben mehrerer sachkundiger Quellen in Bagdad hätten sich mehr als 75 Prozent der in mehrheitlich schiitischen Provinzen lebenden Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren bei den PMF gemeldet. Obwohl die meisten dieser Rekruten Reservisten seien, die nicht kämpfen würden, zeige diese Anzahl doch den Rückhalt der PMF in diesen Gebieten. Die hohe Anzahl von Rekruten würde normalerweise auf eine Form von Wehrpflicht hindeuten. Jedoch gebe es keine formale Pflichtrekrutierung. Die PMF würden sich stattdessen nach der Fatwa des religiösen Führers Ayatollah Sistani richten, die die Rekrutierung sehr vorsichtig auf so viele Rekruten beschränke, die notwendig seien, um den IS zu bekämpfen. Ein Rekrutierungsbeamter der PMF in Nadschaf habe indes angegeben, dass sich mehr als genug Rekruten gemeldet hätten. Sie hätten keine Probleme damit, Mitglieder unterschiedlichen sozialen Hintergrunds und aus verschiedenen geographischen Regionen zu gewinnen. Seinen Angaben nach seien Studenten die einzige erkennbare Gruppe, die nicht den PMF beitreten würden.
Schiitische Milizen rekrutieren aktiv neue Mitglieder, obwohl die Milizen an sich sehr beliebt sind und keine Schwierigkeiten bei der Rekrutierung neuer Kämpfer bestehen. Eine große Rolle bei der Rekrutierung spielt die religiöse Komponente. Nach dem Aufruf des einflussreichen schiitischen Geistlichen Ayatollah Sistani, meldeten sich unzählige Freiwillige zum Kampf gegen den IS. Die Rekrutierung erfolgt außerdem Großteils in Moscheen und auch im Internet bzw. in Sozialen Medien. Erwähnenswert ist auch der gesellschaftliche Druck, welcher von der Familie oder sogar von Behörden ausgeht, sich am Kampf gegen den IS zu beteiligen. Neben der religiösen Motivation, sich den schiitischen Milizen anzuschließen, gibt es noch die finanzielle Motivation. Schiitische Kämpfer verdienen einigen Quellen zufolge mehr als in der irakischen Armee; andere Quellen sprechen von weitaus niedrigeren Summen oder von fehlender Bezahlung. Oftmals werden Minderjährige für den Kampf gegen den IS rekrutiert.
Das Counter Extremism Project (CEP), eine unabhängige politische Organisation zur Bekämpfung extremistischer Ideologien und deren Finanzierung mit Sitz in London, erwähnt in einer vermutlich im März 2017 aktualisierten Übersicht zur pro-iranischen Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq (AAH) die Rekrutierungspraktiken dieser Miliz. In Bezugnahme auf verschiedene Quellen zumeist aus den Jahren 2014 und 2015 schreibt CEP, dass die Rekrutierungsstrategie von AAH auf zwei Strategien fuße: traditionelle Propaganda, um auf die Gruppe aufmerksam zu machen sowie ein umfassendes religiöses System mit dem Ziel, Mitglieder zu indoktrinieren und zu rekrutieren. AAH habe Gruppen wie den IS dahingehend imitiert, dass soziale Medien genutzt würden, um die Rekrutierung über den Nahen Osten, Südasien und den Westen auszudehnen. Der irakische Fernsehsender al-Aahd gehöre der Miliz.
Eine der meistgenützten Methoden der AAH zur Gewinnung von Rekruten sei es, sich als Beschützer der schiitischen Gemeinschaft im Irak und im Ausland darzustellen. Sie hänge Poster auf und sende Rekrutierungsaufrufe auf irakischen Fernsehsendern, wobei häufig die Verbindungen mit dem Iran und der (libanesischen) Hisbollah betont würden. Ein Mitglied von AAH habe angegeben, dass er sich bei AAH gemeldet habe, da die Miliz "die schiitische Gemeinschaft im Irak und im Ausland schützen würde". In der Vergangenheit habe insbesondere die Möglichkeit, mit AAH nach Syrien zu ziehen und das Sajjida-Zainab-Heiligtum in er Nähe von Damaskus zu verteidigen, Iraker mobilisiert, sich AAH anzuschließen. Die Gruppe habe Wohnhäuser und Büros in Bagdad in Beschlag genommen, um Rekrutierungszentren zu eröffnen, wo sich Freiwillige melden könnten, um sich den bereits in Syrien kämpfenden Schiiten anzuschließen. Im Südirak würden Poster Männer dazu auffordern, sich mit weiteren irakischen Schiiten dem Kampf in Syrien anzuschließen. Auf den Postern sei eine Telefonnummer angeführt, die man zu diesem Zweck anrufen könne. Im August 2012 habe AAH eine Poster-Kampagne durchgeführt, bei der mehr als 20.000 Poster mit dem Logo der Gruppe und Fotos unter anderem des iranischen Revolutionsführers Ali Khamenei aufgehängt worden seien.
Die zweite umfassendere Schiene der Rekrutierung sei religiöser Aktivismus und ein eigenes Bildungssystem. Die Gruppe benutze insbesondere zwei Moscheen, die Sabatayn-Moschee in Bagdad und die Abdullah al-Radiya-Moschee in al-Khalis als Zentren der Rekrutierung. Führende Mitglieder von AAH würden Predigten in diesen Moscheen abhalten und für eine soziale und religiöse Reform im Irak werben. Hiermit würden sie versuchen, die Anwesenden dazu zu bringen, der AAH-Mission beizutreten, sie zu finanzieren oder auf andere Weise beizutragen. AAH habe ihre Reichweite auch durch ein Netzwerk von religiösen Schulen, bekannt unter dem Namen "Siegel der Apostel", erweitert. Diese Schulen, die im ganzen Land verteilt seien, würden der Gruppe als Propaganda- und Rekrutierungseinrichtungen dienen. Genau wie in ihrer militärischen und politischen Struktur, versuche AAH die Hisbollah-Miliz auch dahingehend zu imitieren, indem sie soziale Programme für Witwen und Waisen umsetze. Die Rekrutierungsmaßnahmen der AAH würden zum Großteil vom Iran finanziert.
Ein Bericht von GSDRC (Governance-Social Development-Humanitarian-Conflict), einem Zusammenschluss von Forschungsinstituten, Think Tanks und Beratungsorganisationen zum Thema internationale Entwicklung, informiert darüber, dass es die religiöse Legitimität für die PMF (Popular Mobilization Forces, Volksmobilmachungskräfte) die Rekrutierung einfacher macht als für die irakische Armee.
Es lastet viel Druck auf den Menschen, sich den Volksmobilmachungskräften anzuschließen. Dieser hat unterschiedliche Gründe, zum Beispiel öffentlichen Druck, Druck auf Familien und sogar das Bildungsministerium. Es gibt Fälle, in denen Prüfungen verlegt wurden, damit junge Menschen gegen den IS kämpfen können. Außerdem wird es als heroischer Akt gesehen, sich den Volksmobilmachungskräften anzuschließen. Manche Quellen sprechen davon, dass Kämpfer der Volksmobilmachungskräfte besser bezahlt werden als Soldaten der irakischen Armee, andere sprechen davon, dass nur Kämpfer an der Front bezahlt werden, andere gehen davon aus, dass die Milizen Großteils keinen Lohn erhalten. Es wird berichtet, dass die Volksmobilmachungskräfte auch Minderjährige rekrutieren.
Die US-amerikanische Online-Zeitung International Business Times (IBT) mit Sitz in New York beschreibt den Online-Rekrutierungsprozess schiitischer Milizen in einem Artikel vom Dezember 2015. Laut einem Forscher schiitischer Milizen an der Universität Maryland hätten schiitische Milizen eine noch ausgereiftere Methode als der IS, Leute mithilfe von Onlinemedien zu informieren und zu mobilisieren. Im Gegensatz zu Webseiten des IS auf Twitter und Facebook würde niemand die Seiten von schiitischen Milizen blockieren. Jedoch hätten die vom Iran unterstützen Milizen bereits Monate vor dem Fall der Stadt Mossul im Juni 2014 im Irak mithilfe einfacher technischer Mittel, zum Beispiel durch das Aufhängen von Postern oder Rekrutierungsaufrufen im Fernsehen, ihre lokale Reichweite ausgenutzt. Ein Analyst des Institute for the Study of War habe erwähnt, dass irakische Schiiten sich nur in die nächste Moschee begeben und dort zu fragen müssten, ob sie sich einer bestimmten Miliz anschließen könnten. Obwohl Online-Rekrutierung wichtig sei, würde sie nicht so stark benötigt wie bei anderen Gruppen, die weniger offen mit ihren Rekrutierungsmaßnahmen umgehen könnten. Schiitische Milizen seien in der Lage, vom Iran unterstützte Fernsehsender nutzen, um ihre Reichweite auszudehnen. Im Juni 2015 beispielsweise hätte die Miliz Kata'ib Hisbollah ihre Kontaktinformationen zwecks Rekrutierung auf al-Etejah, einem pro-iranischen Fernsehkanal, ausgestrahlt. Einen Monat später habe sie einen Spendenaufruf mit Angabe einer Bankverbindung schalten lassen, der auch in Teilen als ein Videoclip auf Youtube veröffentlicht worden sei, um mehr Spenden von außerhalb des Irak lebenden Schiiten zu erhalten.
Quellen:
-
Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 26.07.2016 betreffend Zwangsrekrutierung durch schiitische Milizen
-
ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak:
(Zwangs-)Rekrutierung durch schiitische Milizen: Sunniten, Schiiten, spezifische Gruppen; Konsequenzen bei Entziehung einer Rekrutierung [a-10079], 27. März 2017,
http://www.ecoi.net/local_link/338747/481775_de.html
-
UNAMI (13.7.2015): Report on the Protection of Civilians in Armed Conflict in Iraq: 11 December 2014 - 30 April 2015, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1436959266_unami-ohchr-4th-pocreport-11dec2014-30april2015.pdf
-
Al-Araby (8.5.2015): Anbar refugees 'forced into militias to fight IS group',
https://www.alaraby.co.uk/english/news/2015/5/8/anbar-refugees-forced-into-militias-to-fight-is-group, Zugriff 15.7.2016
-
Carnegie Endowment for International Peace (1.2.2016): The Popularity of the Hashd in Iraq, http://carnegieendowment.org/syriaincrisis/?fa=62638
-
Counter Extremism Project (o.D.): Asaib Ahl al-Haq, http://www.counterextremism.com/threat/asaib-ahl-al-haq
-
GSDRC - Governance-Social Development-Humanitarian-Conflict (3.2016): The security sector in Iraq.
-
IBT - International Business Times: World Iraqi Shiite Militias Fighting ISIS Are Using Social Media To Recruit Foreign Fighters, 3. Dezember 2015,
http://www.ibtimes.com/iraqi-shiite-militias-fighting-isis-are-using-social-media-recruit-foreign-fighters-1844118
1.7. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:
1. Politische Lage
Im März 2003 kam es zum Einmarsch von Truppen einer Koalition, die von den USA angeführt wurde (BBC 12.7.2017). Als Grund hierfür wurden Massenvernichtungswaffen angegeben, deren Existenz jedoch nie bestätigt werden konnte. Nach dem im März 2003 erfolgten Sturz von Saddam Hussein, einem Angehörigen der sunnitischen Minderheit, wurden die Regierungen von Vertretern der schiitischen Mehrheitsbevölkerung geführt (BPB 9.11.2015). Mit 2003 begann der Aufstieg von [vorwiegend] irantreuen bzw. dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien/Milizen, denen die amerikanischen Invasoren erlaubten, aus dem iranischen Exil in ihre Heimat zurückzukehren (SWP 8.2016; vgl. Hiltermann 26.4.2017). Es konnte nach der Entmachtung Husseins weder eine umfassende Demokratisierung noch eine Stabilisierung erreicht werden, da die Strukturen des neuen politischen Systems das Land entlang ethnisch-konfessioneller Linien fragmentierten (BPB 9.11.2015). Die von der US-Besatzung beschlossene Auflösung der irakischen Armee sowie das Verbot der Baath-Partei ließen viele Sunniten, darunter erfahrene Militärs, radikalen islamistischen Gruppen zuströmen (Spiegel 18.4.2015). Die sunnitische Minderheit fühlte sich zunehmend diskriminiert und radikale Anführer konnten immer mehr Anhänger gewinnen (AI 28.5.2008). Zudem hatte die Demontage der irakischen Armee und irakischen Sicherheitskräfte durch die US-geführte Koalition ein Sicherheitsvakuum hinterlassen, das die schiitischen Milizen zu füllen versuchten, wodurch es zu einem sunnitischen Aufstand kam (Hiltermann 26.4.2017). Die US-Regierung (sowohl die Bush-, als auch die Obama-Regierung) arbeitete zum Teil mit diesen Kräften (Badr-Miliz) zusammen, und verschloss vor den Gewaltexzessen der schiitischen Milizen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung die Augen (Reuters 14.12.2015). Während die Revolte der Sunniten gegen die US-Präsenz seit 2003 eher eine nationalistisch als eine religiös geprägte Bewegung war, entwickelte die Revolte zunehmend einen dominanten radikal-sunnitisch-islamistischen Zug. Der in der Folge entstehende konfessionelle Bürgerkrieg (ca. 2005 bis 2007) führte zu einer Änderung der US-Politik im Irak, die wiederum die Niederlage von Al-Qaida im Irak (AQI) herbeiführte. Doch dadurch, dass das Problem der Ausgrenzung der Sunniten weiter bestehen blieb, kam es zu weiteren Protesten in den sunnitischen Gebieten in den Jahren 2013 und 2014, daraufhin zu einer gewaltsamen Antwort von Seiten des Staates und danach zur Übernahme sunnitischer Gebiete durch eine noch radikalere Version von Al-Qaida - durch die Organisation "Islamischer Staat" [IS, auch ISIS oder ISIL, vormals ISI, arabisch Daesh] (Hiltermann 26.4.2017). Diese konnte in große Teile der sunnitischen Gebiete im Westen des Irak, in kurdische Gebiete im Norden des Irak und in Teile Syriens vordringen (ACCORD 12.2016). Als die nach der Entmachtung Saddam Husseins neu aufgestellte Armee vorübergehend "kollabierte", mobilisierten schiitische Führer in Notwehr ihre Gefolgschaft, wodurch die schiitischen Milizen (allen voran die Badr Organisation, Asaib Ahl al-Haq und Kataeb Hezbollah, mit Unterstützung des Irans) verstärkt auf den Plan traten und sich nordwärts in die sunnitischen Gebiete bewegten (Hiltermann 26.4.2017).
Das politische Geschehen ist trotz großer Erfolge bei der Rückeroberung von IS weiterhin vom Kampf gegen den IS geprägt (ÖB 12.2016). Seit Ende 2015 wird der IS mit einem Bündnis auf Zeit aus irakischem Militär, kurdischen Peschmerga, schiitischen Milizen und Luftschlägen der internationalen US-geführten Anti-IS-Koalition bekämpft (AA 7.2.2017).
Nach dem Referendum über die Lossagung Irakisch-Kurdistans vom Irak am 25.9.2017 erklärte der Kurdenführer Mas?ud Barzani am Tag darauf (noch vor der offiziellen Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses), dass die Mehrheit der Kurden, die ihre Stimme abgaben, die Unabhängigkeit unterstützen würden. Die Beteiligung lag in etwa bei 72 Prozent (Al-Jazeera 27.9.2017). Wahlberechtigt waren ca. fünf Millionen Einwohner, darunter mehrheitlich Kurden verschiedenen Glaubens, aber auch Christen und die meist sunnitischen Araber und Turkmenen der Region (Tagesspiegel 25.9.2017). Nach vorläufigen Zahlen von Barzanis KDP (Kurdische Demokratische Partei) stimmten beim Referendum knapp 92 Prozent für die Unabhängigkeit. Trotz internationaler Kritik und Warnungen hatte die kurdische Autonomieregierung die Bürger am Montag abstimmen lassen (Standard 27.9.2017). Die Zentralregierung hält das Referendum für verfassungswidrig. Auch die Türkei und der Iran sind strikt gegen einen unabhängigen Kurdenstaat. Bereits kurz nach der Abstimmung hatten die türkische und die irakische Armee ein gemeinsames Militärmanöver begonnen. Laut dem irakischen Generalstabschef Uthman al-Ghanami finde die Übung in der Gegend des Grenzübergangs Habur statt, des Übergangs zwischen der Türkei und der Kurdenregion im Nordirak. Die türkische Armee hatte das Manöver bereits eine Woche zuvor begonnen (Standard 27.9.2017). Die Türkei reagierte auch mit der Ankündigung von wirtschaftlichen Sanktionen. Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Folgetag des Referendums, dass die "irakischen Kurden hungern würden, wenn sein Land keine Lastwagen mehr in die Region ließe." Er drohte darüber zudem mit einem Stopp des kurdischen Ölexports und einer militärischen Intervention im Nordirak nach dem Vorbild des türkischen Einmarschs in Syrien. Das Referendum nannte er "null und nichtig" (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Der Nachbarstaat Iran schloss als Reaktion auf das Referendum nach dem Luftraum laut offiziellen Angaben auch die Landgrenze zu den Kurdengebieten. Allerdings gab es unterschiedliche Berichte darüber, ob ein Grenzübergang weiterhin geöffnet blieb. Parlamentspräsident Ali Larijani kündigte am Dienstag zudem an, dass das Parlament "alles, was zu einer Desintegration der Region führen könnte", nicht anerkennen werde. Medienangaben zufolge gab es wegen des Referendums am Montag spontane Straßenfeiern in mehreren kurdischen Städten im Iran (Standard 26.9.2017). Der Iran und die von ihm finanzierten schiitischen Milizen im Irak. sehen die Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden als Bedrohung einer iranisch dominierten Neuordnung der Region, die über den Irak und Syrien bis in den Libanon reicht. Dazu braucht die iranische Führung einen Irak in seinen jetzigen Grenzen und mit seinen Ölquellen in Kirkuk. Iranische Militärs und Revolutionsgardisten mahnten zunächst in eher blumigen Worten, inzwischen melden sie das Recht auf militärische Aktionen auf kurdischem Territorium an, sollte Erbil die Unabhängigkeit vorantreiben. Sie wittern hinter dem Referendum auch eine amerikanisch-israelische Strategie zur Unterminierung iranischer Interessen. Was in diesem Fall nur zur Hälfte stimmt. Israel ist in der Tat der einzige Staat im Nahen Osten, der das Referendum befürwortet, Kurden und Israelis haben eine lange Geschichte gegenseitiger Unterstützung (Zeit 24.9.2017). Die Türkei und der Iran befürchten darüber hinaus Auswirkungen auf die Autonomiebestrebungen ihrer eigenen kurdischen Minderheiten. Die USA als wichtiger Verbündeter der Kurden hatten sich ebenfalls gegen das Referendum ausgesprochen, weil sie den Kampf gegen den IS gefährdet sehen (Standard 26.9.2017).
Die irakische Regierung beantwortete den Aufruf Barzanis, mit den Kurden nun in Verhandlungen zu treten, ebenfalls mit einer Drohung. Premierminister Haider al-Abadi forderte die Kurden auf, binnen drei Tagen die Kontrolle der Flughäfen im Norden des Landes an die Zentralregierung zu übergeben. Sollte dies nicht geschehen, werde die irakische Regierung den Luftraum sperren und keine Flüge mehr aus oder in den Nordirak zulassen. Inlandsflüge seien davon jedoch nicht betroffen und internationale Flüge in und aus der Kurdenregion könnten [nach derzeitigem Stand] über Bagdad stattfinden (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Darüber hinaus stimmte das irakische Parlament bereits am Montag dafür, die irakische Armee in jene Gebiete zu schicken, in denen das Referendum abgehalten wurde, die jedoch laut irakischer Verfassung von 2005 als "umstrittenen" gelten - insbesondere Kirkuk und Umgebung, wo die Kurden die völlige Kontrolle übernahmen, nachdem 2014 die irakische Armee vor dem "Islamischen Staat" (IS) geflohen war (Harrer 26.9.2017).
Der Armeeeinsatz in den umstrittenen Gebieten, insbesondere in Kirkuk und Umgebung, führte zum Zusammenbruch der irakisch-kurdischen Peschmerga unter dem gemeinsamen Druck von Irak und Iran kurz nach dem Referendum über die Unabhängigkeit der Kurden am 25. September 2017 und könnte den Nordirak letztlich eher destabilisieren. Die Peshmerga zogen sich am 16. und 17. Oktober 2017 aus den umkämpften Gebieten im Nordirak im Wesentlichen zurück (siehe hiezu die untenstehende Karte). Details dazu siehe Punkte
1.1. und 2.4.
Staatsform & Parteien
Der Irak ist formal-konstitutionell eine republikanische, demokratische, föderal organisierte und parlamentarische Republik. So sieht es die gültige Verfassung von 2005 vor. Sitz von Regierung und Parlament ist Bagdad. Staatspräsident ist seit dem 24.07.2014 der Kurde Fuad Massum, Angehöriger der irakisch-kurdischen Partei Patriotic Union of Kurdistan - PUK. Ein Teil des föderalen Staates ist auch das kurdische Autonomiegebiet, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Diese Föderale Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung, sowie gesonderte Militäreinheiten, die Peschmerga (LIP 6.2015). Im Irak gibt es eine Vielzahl von Parteien (zu einer Anerkennung genügen laut Parteiengesetz 500 Unterschriften).
Wahlen & Premierminister
Die nationalen Wahlen, die im April 2014 stattfanden, hatte zwar abermals der zuvor amtierende Premierminister Nouri al-Maliki gewonnen, da es jedoch auf Grund seines autoritären und pro-schiitischen Regierungsstils massive Widerstände gegen ihn gab, trat er im August 2014 auf kurdischen, internationalen, aber auch auf innerparteilichen Druck hin zurück (GIZ 6.2015). Maliki wird unter anderem vorgeworfen, mit seiner sunnitenfeindlichen Politik (Ausgrenzung von sunnitischen Politikern, Niederschlagung sunnitischer Demonstrationen, etc.) deutlich zur Entstehung radikaler sunnitischer Gruppen, wie dem IS, beigetragen zu haben (Qantara 17.8.2015; vgl. auch Abschnitt "Sicherheitslage"). Infolge dessen wurde die schiitisch dominierte Regierung des Premierministers Nuri al-Maliki von einer nationalen Einheitsregierung mit Beteiligung von Sunniten und Kurden unter dem gemäßigteren Premierminister Haidar al-Abadi abgelöst (HRW 29.1.2015). Abadi ist ebenfalls Schiite und ein Parteikollege Malikis in der Da'wa-Partei. Er ist mit dem Versprechen angetreten, das ethno-religiöse Spektrum der irakischen Bevölkerung wieder stärker abzudecken (GIZ 6.2015), und zunächst konnten durch seine Ernennung zum irakischen Premierminister tatsächlich einige gesellschaftliche Gräben geschmälert werden. Von einer tatsächlichen Versöhnung zwischen den ethnischen und religiösen Gruppierungen ist jedoch nichts zu bemerken (ÖB 12.2016). Die Besetzung aller politischen Führungspositionen, so auch der Kabinettsposten, folgt seit Jahren einem Kalkül ethnisch/religiöser Balance. Die sunnitischen Regierungs- und Parlamentsmitglieder stehen unter Druck, da ihre Kooperation in Bagdad bislang kaum dazu beitrug, ihre Klientel zu schützen (ÖB 12.2016). Das irakische Parlament wählte den moderaten sunnitischen Politiker Salim al-Jabouri zum Parlamentspräsidenten (Al Arabiya 15.7.2014).
Abadis Reformen waren nur oberflächlicher Natur oder harren noch ihrer Umsetzung. Unterstützt werden die Reformpläne der Regierung bislang immerhin durch die höchste geistliche Autorität der Schiiten, Großajatollah Al-Sistani (AA 7.2.2017). Insgesamt ist die Zentralregierung aber schwach, Premierminister Abadi kann gegen die internen Rivalitäten der schiitischen Parteien nicht viel ausrichten. Er ist von zahlreichen Herausforderern umgeben: Dem Ex-Premierminister Nouri al-Maliki, dem Oppositionsführer und populärer Priester Muqtada al-Sadr, sowie den anderen Anführern schiitischer Milizen (Stansfield 26.4.2017).
Das irakische Parlament hat am 29.01.2017 die neuen Minister für Verteidigung und Inneres bestätigt. Der Armeegeneral Erfan al-Hiyali von der sunnitischen Minderheit im Land wird künftig das Verteidigungsministerium führen. Kasim al-Aradschi von der schiitischen Badr-Organisation leitet das Ressort Inneres. Ministerpräsident Haider al-Abadi lobte die Entscheidung des Parlaments als "guten Fortschritt zu einer entscheidenden Zeit". Beide Posten waren monatelang unbesetzt (ORF, 30.01.2017).
Am 12.5.2018 wurden im Irak neuerlich Parlamentswahlen abgehalten. Die Wahlbeteilung lag bei 44,5 Prozent - die niedrigste Beteiligung seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 (Die Presse 13.5.2018). Als Sieger geht das Wahlbündnis Sa'irun des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs hervor, das nicht mehr vom ersten Platz zu verdrängen ist und 54 Sitze erreichte. Auf zweitem Platz liegt mit 47 Sitzen das Fatah Bündnis des Milizenführers Hadi al-Ameri, der eng mit den iranischen Revolutionsgarden verbunden ist (Die Presse 13.5.2018). Die Nasr Allianz des amtierenden Ministerpräsidenten Haider al-Abadi kommt mit 42 Sitzen nur auf den dritten Platz (NZZ 15.5.2018). Die Sitzverteilung stellt sich wie Folgt dar:
Bild kann nicht dargestellt werden
Anschuldigungen von Wahlbetrug in der zwischen Kurden und irakischer Zentralregierung umstrittenen Stadt Kirkuk verzögern die Veröffentlichung der Endergebnisse (The Washington Post 17.5.2018). Laut Wahlkommission belagerten Bewaffnete am Mittwoch, den 16.5.2018, etliche Wahllokale in der Stadt und hielten Mitarbeiter der Wahlkommission in Geiselhaft (Reuters 16.5.2018). Der Gouverneur von Kirkuk sowie der Leiter der Exekutivorgane, Generalmajor Maan al-Saadi, bestritten dies und erklärten, dass die Lage stabil sei und es sich um friedliche und unbewaffnete Proteste um die Wahllokale herumhandle (The Washington Post 17.5.2018; Reuters 16.5.2018).
Eine neue Regierung wurde bislang noch nicht gebildet, da keiner der Wahlblöcke eine Mehrheit erreichte und deshalb Koalitionsverhandlungen geführt werden müssen.
Schiitische Milizen, Rolle des Ex-Premierminister Maliki und Einfluss des Iran
Der noch amtierende Ministerpräsident Abadi hat mit dem Iran-freundlichen Ex-Premierminister Maliki (nunmehr Vize-Premierminister und Vorsitzender der State of Law Coalition, sowie Da'wa-Parteiführer) einen starken Widersacher innerhalb seiner Partei. Ein Problem Abadis ist auch die Macht der schiitischen Milizen - einerseits unverzichtbar für Abadi im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (Standard 5.11.2015), gleichzeitig wird deren Einsatz aber von der sunnitischen Bevölkerung als das "Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub" gesehen. Das Vertrauen der sunnitischen Bevölkerung in die schiitisch dominierte Zentralregierung bleibt weiterhin minimal. Der Einsatz dieser Milizen im Kampf gegen den IS wird von Sunniten meist abgelehnt, sie fürchten ein ruchloses Vorgehen der Milizen und dulden daher oft die sunnitischen Extremisten in ihren Gebieten. Berichte zu Übergriffen der schiitischen Milizen konterkarieren die Versuche von Premierminister Haidar al-Abadi, den arabischen Sunniten wieder Vertrauen in den irakischen Staat einzuflößen (ÖB 12.2016). Bezüglich der schiitischen Milizen spielt auch der schiitisch dominierte Iran eine große Rolle, der insgesamt einen großen Einfluss auf den Irak ausübt. An den Schalthebeln der Macht in Bagdad werden selbst hochrangige irakische Kabinettsmitglieder von der iranischen Führung abgesegnet oder "hinauskomplementiert". Dadurch kommt es auch dazu, dass Gesetze verabschiedet werden, wie z. B. jenes vom November 2016, das die schiitischen Milizen effektiv zu einem permanenten Fixum der irakischen Sicherheitskräfte macht (NYTimes 15.7.2017), und sie im Rahmen der Dachorganisation PMF (auch PMU, Popular Mobilisation Forces/Units, Volksmobilisierung, arabisch Al-Hashd al-Shaabi) der irakischen Armee gleichstellt (Harrer 9.12.2016). Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt. Dem Iran geht es dabei nicht nur um die weitere Ausbreitung der Kontrolle über irakisches Gebiet, sondern auch darum, einen Korridor zu den Stellvertreterkräften in Syrien und im Libanon zu bilden. Was im März 2017 passierte, nämlich, dass Iran-gestützte schiitische Milizen zum ersten Mal den gesamten Weg westwärts bis zur syrisch-irakischen Grenze vorstoßen konnten, quer durch irakisches, vorwiegend sunnitisches Gebiet, veranschaulicht dieses Vorhaben (ICG 31.5.2017; vgl. NY Times 15.7.2017). Der ehemalige Premierminister Maliki, der sich bereits zu seiner Amtszeit stark in Richtung Iran gelehnt hatte, und der nach Ende seiner Amtszeit weiterhin massiv von der Zusammenarbeit mit dem Iran profitierte, spielt heute auf politischer Ebene in Bezug auf die PMF eine zentrale Rolle. Unter anderem aufgrund der Schwäche des Irakischen Staates, der Dominanz des Irans, sowie ganz besonders aufgrund der Hilfe, die der reguläre irakische Sicherheitsapparat für das Zurückschlagen des IS benötigt(e), blieb Abadi keine andere Wahl, als den PMF-Milizen zu noch weiterem Einfluss zu verhelfen - in Fortsetzung der bezüglich der Milizen vorangetriebenen Legitimierungspolitik Malikis. Die PMF sind somit einerseits eine vom Staat mittlerweile legitimierte und der Armee gleichgestellte Dachorganisation von - fast ausschließlich - schiitischen Milizen, gleichzeitig werden sie aber von nicht-staatlichen Anführern befehligt (Carnegie 28.4.2017). Maliki versucht, an die Spitze der irakischen Politik zurückzukehren, und hat als Verbündete dabei den Iran und "seine" neue Hausmacht, die schiitischen Milizen (Harrer 13.2.2017). Gegen dieses Vorhaben regt sich insbesondere auch im Süden verstärkter Widerstand: Die Anhänger der Sadr-Bewegung [Muqtada al-Sadr: Führer der Sadr-Bewegung, einer politischen Partei, sowie Führer der Saraya al-Salam] wollen mittels Demonstrationen die Hoffnung Malikis auf eine Rückkehr verhindern. Ein innerschiitischer Konflikt zwischen Sadristen und Maliki-Anhängern ist spürbar, auch wenn diesbezügliche militärische Auseinandersetzungen unwahrscheinlich sind (Al Monitor 26.1.2017). Zu solchen Auseinandersetzungen war es zwischen diesen beiden Lagern im Jahr 2008 in Basra gekommen (BBC 12.7.2017).
Die Sadr-Bewegung ist aber auch gegenüber Abadis Regierung kritisch eingestellt. Muqtada al-Sadr stilisiert sich als irakischer Nationalist, der gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik ankämpft, der jedoch andererseits Abadis Reformen zum Teil sogar blockiert, wie z.B. Abadis Versuch, eine Technokratenregierung aufzustellen. Darüber hinaus führt die Sadr-Bewegung regierungskritische Demonstrationen durch, die - trotz Aufrufs Sadrs, friedlich zu protestieren - außer Kontrolle geraten können und zuletzt im Februar 2017 in Bagdad zur wiederholten Erstürmung der Grünen Zone führten. Die Proteste der Sadr-Bewegung spielen Maliki in die Hände und schwächen Abadi zusätzlich, der in der Schusslinie zwischen Sadr und Maliki steht (Harrer 13.2.2017). In Hinblick auf die Parlamentswahl im Jahr 2018 und einen möglichen Erfolg des pro-iranischen Maliki, näherte sich Premierminister Abadi einer Koalition einflussreicher schiitischer religiöser und politischer Führer (darunter auch besagter Muqtada al-Sadr) an, mit dem Ziel Maliki zu isolieren (IFK 9.6.2017).
Der gemeinsame Gegner IS schweißte 2014 das Land und teilweise auch die Bevölkerung etwas zusammen, doch die Bruchlinien bleiben insbesondere mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS akut: Nicht nur zwischen Schiiten und Sunniten oder innerhalb der schiitischen Kräfte, sondern auch zwischen der KRI (Kurdische Region im Irak) und der Zentralregierung, innerhalb der kurdischen Gruppierungen sowie zwischen de facto allen Mehrheitsbevölkerungen und Religionen und den Minderheiten in ihrem Bereich. Mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS gehen auch ein verstärkter Terrorismus, neue humanitäre Herausforderungen und wiederaufflammende Spannungen einher. Eine ethnisch-religiöse Aussöhnung hat nicht stattgefunden. Die Gefahr eines weiteren Zerfalls des Staates, samt bewaffneten Auseinandersetzungen ist nach wie vor nicht gebannt (ÖB 12.2016). Insbesondere ist auch unklar, ob die vom IS zurückeroberten sunnitischen Gebiete auf eine Weise verwaltet werden, die nicht erneuten Unfrieden und eine erneute Rebellion (unter dem Banner des IS oder einer anderen Organisation) provozieren wird (OA/EASO 2.2017). Die Islamisten genießen im Irak in der Bevölkerung nach wie vor Unterstützung, da sie sich als Beschützer der sunnitischen Gemeinschaft präsentieren. Der IS ist ja ursprünglich vorrangig eine irakische Organisation mit starken lokalen Wurzeln (Stansfield 26.4.2017), und selbst das Zurückschlagen des IS in Mossul vermag es nicht, die schiitisch-sunnitischen Spannungen zu lösen, die das Ergebnis einer mangelnden politischen Übereinkunft sind (USCIRF 26.4.2017). Die Gewalt, der die Sunniten seit der US-geführten Invasion im Irak von Seiten Iran-