Index
10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 2005 §3 Abs1;Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2018/19/0439 Ra 2018/19/0387Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revisionen 1. der Y H, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116 (hg. protokolliert zu Ra 2018/19/0387), 2. der R H, vertreten durch Dr. Alexander Wanke, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Ledererhof 2 (hg. protkolliert zu Ra 2018/19/0293), und 3. der namens der Y H, einschreitenden Dr. Christa Scheimpflug, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Erdberger Lände 6/27 (hg. protokolliert zu Ra 2018/19/0439), gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. März 2018, W215 2119005-1/10E und W215 2160035-1/6E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird hinsichtlich der Erstrevisionswerberin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Erstrevisionswerberin und der Zweitrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. II. den Beschluss gefasst:
Die zu Ra 2018/19/0439 protokollierte Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die minderjährige Erstrevisionswerberin ist die Tochter der Zweitrevisionswerberin. Beide sind Staatsangehörige Somalias.
2 Die Zweitrevisionswerberin stellte am 21. April 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 3. Dezember 2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihr jedoch den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erhob die Zweitrevisionswerberin Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
3 Die am 3. März 2017 in Österreich geborene Erstrevisionswerberin stellte - vertreten durch ihre Mutter - am 14. März 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Darin führte sie aus, keine eigenen Asylgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen zu haben; der Antrag beziehe sich ausschließlich auf die Fluchtgründe der Eltern. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 30. März 2017 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihr jedoch den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
4 Gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erhob die Erstrevisionswerberin Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin brachte sie u.a. unter Hinweis auf einschlägige Länderberichte vor, die belangte Behörde habe sich nur ungenügend mit der in Somalia bestehenden Praxis der weiblichen Beschneidung auseinandergesetzt. Die Erstrevisionswerberin gehöre zur sozialen Gruppe der "unbeschnittenen Mädchen"; an ihr werde im Fall der Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Beschneidung durchgeführt werden. Für die Mutter der Erstrevisionswerberin, an der selbst eine Beschneidung vorgenommen worden sei, stehe auf Grund der damit verbundenen Erfahrungen fest, dass sie keine Beschneidung ihrer Tochter wolle. Bei einer Rückkehr nach Somalia befürchte sie, dass sie eine "Zwangsbeschneidung" der Erstrevisionswerberin nicht verhindern werde könne, zumal deren Großmutter selbst Beschneidungen durchführe und daher zu erwarten sei, dass diese eine Beschneidung auch an der Erstrevisionswerberin durchführen werde.
5 In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 24. Jänner 2018 führte die Zweitrevisionswerberin aus, sowohl sie als auch der in Dschibuti lebende Vater der Erstrevisionswerberin seien gegen deren Beschneidung. Die Großmutter der Erstrevisionswerberin wolle, dass man Kinder beschneide. Deshalb sei auch sie selbst beschnitten worden. Sie könne ihre Tochter vor der Beschneidung in Somalia nicht beschützen. Die Erstrevisionswerberin würde verstoßen werden, wenn sie nicht beschnitten wäre. Sie werde gesellschaftliche Probleme bekommen und keinen Mann finden.
6 In einer schriftlichen Stellungnahme vom 3. Februar 2018 brachte die Erstrevisionswerberin unter Berufung auf Länderberichte erneut vor, sie wäre bei einer Rückkehr nach Somalia der Gefahr der Beschneidung ausgesetzt, selbst wenn ihre Mutter strikt dagegen sei. Da sich der Kindsvater in Dschibuti aufhalte und aufgrund drohender Verfolgung nicht in seinen Herkunftsstaat zurückkehren könne, werde er sie nicht schützen können. Demgegenüber befürworte insbesondere die Großmutter der Erstrevisionswerberin vehement die Durchführung der Beschneidung, weshalb die Zweitrevisionswerberin befürchte, von ihrer Familie verstoßen zu werden, sollte sie sich bei einer Rückkehr nach Somalia gegen die Beschneidung ihrer Tochter aussprechen. Der Zweitrevisionswerberin komme in Somalia als einfache Frau und alleinerziehende Mutter mit nur geringer Schulbildung und bescheidener Berufslaufbahn ohne großes Einkommen nur ein schwacher sozialer Status zu. Sollte sie von ihrer Familie verstoßen werden, weil sie die Beschneidung ihrer Tochter ablehne, würde dieser Status noch weiter sinken und die Erstrevisionswerberin weiter in Gefahr bringen, beschnitten zu werden. Die Zweitrevisionswerberin stamme aus dem ländlichen Raum Somalias. Den Länderberichten zufolge sei der Druck, an Mädchen eine Beschneidung vorzunehmen, dort um einiges höher. Vor diesem Hintergrund befürchte die Zweitrevisionswerberin, dass sie auf sich allein gestellt in Somalia dem Druck ihres Umfelds hinsichtlich der Beschneidung ihrer Tochter nicht standhalten werde können.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die jeweils gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten gerichteten Beschwerden der Erst- und der Zweitrevisionswerberin als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
Es könne nicht festgestellt werden, dass die in Österreich geborene Erstrevisionswerberin im Fall einer "Reise" in ihren Herkunftsstaat Somalia einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein werde. Aus den Angaben der Zweitrevisionswerberin in der mündlichen Verhandlung gehe "zweifelsfrei" hervor, dass diese eine Beschneidung ihrer Tochter im vollen Bewusstsein möglicher gesellschaftlicher Folgen ablehne. Auch der Vater der Erstrevisionswerberin lehne deren Beschneidung ab. Da die Entscheidung darüber bei der Mutter liege, werde diese eine Beschneidung verhindern. Eine Beschneidung von Mädchen ohne Einwilligung der Mutter sei unwahrscheinlich. Die von der Mutter behauptete "soziale Stigmatisierung" der Erstrevisionswerberin im Fall, dass keine Beschneidung durchgeführt werde, stelle keine individuelle Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention dar.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat die gegen dieses Erkenntnis erhobenen Revisionen wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden und - nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem Revisionsbeantwortungen nicht erstattet wurden - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Zu I:
9 Zur Begründung der Zulässigkeit der Revision der Erstrevisionswerberin wird vorgebracht, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht abgewichen. Es hätte im Rahmen der Tatsachenfeststellungen darlegen müssen, ob der Erstrevisionswerberin in Somalia eine Beschneidung drohe und ob diese asylrelevante Menschenrechtsverletzung verhindert werden könnte. Es habe zudem wesentliche Aktenteile, nämlich die Stellungnahme vom 3. Februar 2018 und das Vorbringen der Zweitrevisionswerberin hinsichtlich einer Gefährdung durch ihre weiblichen Familienmitglieder, übergangen. Es sei dabei aktenwidrig davon ausgegangen, dass die Zweitrevisionswerberin angegeben habe, die Entscheidung über eine Beschneidung der Erstrevisionswerberin werde ausschließlich von ihr selbst getroffen. Die Zweitrevisionswerberin habe im Gegenteil angegeben, dass sie ihre Tochter in Somalia nicht beschützen könne. Die behauptete Gefährdung durch andere Familienangehörige, insbesondere die mütterliche Großmutter, sei vom Bundesverwaltungsgericht überhaupt nicht gewürdigt worden. Dass es ausreiche, wenn sich die Mutter bewusst gegen eine Beschneidung einsetze, stehe im Widerspruch zum Vorbringen und zu zahlreichen Länderberichten. Die dazu getroffenen Länderfeststellungen seien widersprüchlich.
10 Die Revision ist zulässig und begründet.
11 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs kann eine drohende Genitalverstümmelung eine asylrelevante Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen (vgl. VwGH 20.6.2017, Ra 2017/01/0039; 27.6.2016, Ra 2016/18/0045, mwN; 1.3.2018, Ra 2017/19/0545).
12 Die Begründung eines Erkenntnisses des Verwaltungsgerichts hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Danach erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheids geführt haben.
13 Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben.
14 Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 20.9.2017, Ra 2017/19/0284; 29.11.2017, Ro 2017/18/0002; jeweils mwN).
15 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis - in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, eine grundsätzliche Frage des Verfahrensrechts aufwerfenden Weise - nicht gerecht:
16 Den Länderfeststellungen des angefochtenen Erkenntnisses ist unter anderem zu entnehmen, dass 98 % der Frauen und Mädchen (in Somalia) Genitalverstümmelung erlebten, der überwiegende Teil davon die Infibulation, die die schwerste Form darstelle. Die Genitalverstümmelung werde überwiegend an jungen Mädchen vom Säuglingsalter an durchgeführt. Es gebe keine Behörden oder Organisationen, an die sich Frauen wenden könnten, um Hilfe oder Schutz zu finden, wenn sie die Beschneidung ihrer Töchter ablehnten. Es sei Frauen zwar möglich, die Beschneidung ihrer Töchter zu verhindern. Dabei komme es jedoch vor allem darauf an, ob die Mutter das nötige Engagement aufbringen könne, um standhaft gegenüber dem Druck zu bleiben, der sowohl von Familienmitgliedern als auch von der Gesellschaft ausgeübt werde, wobei auch der Bildungshintergrund, der soziale Status und die kulturelle oder geographische Zugehörigkeit der Mutter eine Rolle spiele.
17 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich zwar mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Mutter der Erstrevisionswerberin deren Beschneidung verhindern werde können. Es ist dabei aber nicht auf das Vorbringen eingegangen, wonach die Großmutter eine Beschneidung befürworte, der Vater mangels Möglichkeit einer Rückkehr nach Somalia die Erstrevisionswerberin nicht vor einer Beschneidung beschützen und die Mutter auf Grund ihres sozialen Status und ihrer Herkunft aus einem ländlichen Gebiet nicht dem Druck ihres Umfelds standhalten werde können (darin unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem vom Bundesverwaltungsgericht zitierten hg. Beschluss vom 27. Juni 2016, Ra 2016/18/0045). Diesem Vorbringen kam jedoch vor dem Hintergrund der zuvor dargestellten Länderfeststellungen Relevanz für die Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zu.
18 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Erstrevisionswerberin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
19 Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auf die Zweitrevisionswerberin als Familienmitglied, welche die drohende Beschneidung der Erstrevisionswerberin gleichfalls als Zulassungsgrund ihrer Revision ins Treffen führt, durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidung (vgl. etwa VwGH 22.2.2018, Ra 2017/18/0357, mwN). Das sie betreffende angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Zu II:
20 Mit Beschluss vom 30. Mai 2018 bewilligte der Verwaltungsgerichtshof der Zweitrevisionswerberin die Verfahrenshilfe für die außerordentliche Revision gegen das angefochtene Erkenntnis. Mit Bescheid der Rechtsanwaltskammer Wien vom 5. Juni 2018 wurde Rechtsanwalt Dr. Alexander Wanke zum Verfahrenshelfer für die Zweitrevisionswerberin bestellt. Dieser ersuchte mit Schreiben vom 14. Juni 2018 - unter Anführung beider Geschäftszahlen des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts - Rechtsanwältin Dr. Christa Scheimpflug um die substitutionsweise Übernahme der "Verfahrenshilfesache R und Y H".
21 Mit Schriftsatz vom 25. Juni 2018 wurde die zu Ra 2018/19/0293, Ra 2018/19/0439 protokollierte Revision sowohl für die Erstrevisionswerberin als auch für die Zweitrevisionswerberin eingebracht.
22 Auf Aufforderung des Verwaltungsgerichtshofes teilte Rechtsanwältin Dr. Christa Scheimpflug mit, sie habe auf Grund des oben wiedergegebenen Schreibens des bestellten Verfahrenshelfers als Substitutin für diesen die Revision "für beide Antragsteller" eingebracht. Auf eine Bevollmächtigung durch die Erstrevisionswerberin beruft sich die einschreitende Rechtsanwältin nicht.
23 Da die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. Wanke zum Verfahrenshelfer nur für die Zweitrevisionswerberin erfolgte, ist die zu Ra 2018/19/0439 protokollierte Revision ohne Vorliegen einer entsprechenden Vertretungsmacht eingebracht worden und war daher mangels Berechtigung zu ihrer Erhebung gemäß § 34 Abs. 1 VwGG als unzulässig zurückzuweisen (vgl. VwGH 27.4.2016, 2013/05/0167, mwN; vgl. hinsichtlich einer für die Erhebung einer Revision nur gegen Teile eines Erkenntnisses bewilligten Verfahrenshilfe VwGH 24.10.2018, Ra 2018/14/0036, mwN).
Wien, am 12. Dezember 2018
Schlagworte
VerfahrenshilfeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018190293.L00Im RIS seit
23.01.2019Zuletzt aktualisiert am
21.05.2019