Entscheidungsdatum
02.10.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W264 2191353-1/10E
Schriftliche Ausfertigung des am 2.10.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Tanja KOENIG-LACKNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren XXXX Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Verein ZEIGE - Zentrum für Europäische Integration und Globalen Erfahrungsaustausch, Dr. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.2.2018, Zahl:
1136478501-170843455/BMI-BFA_KNT_RD, zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß
§ 28 Abs 2 VwGVG stattgegeben und wird dem Beschwerdeführer gemäß
§ 8 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten
in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 28 Abs 1 und Abs 2 VwGVG iVm § 8 Abs 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 2.10.2019 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Qazealbash und schiitischen Glaubensbekenntnisses. Er reiste unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein und stellte am 29.11.2016 einen Antrag auf Internationalen Schutz sowie nach rechtskräftiger Zurückweisung am 18.7.2017 einen neuerlichen Antrag auf Internationalen Schutz (Folgeantrag)
2. Am 18.7.2017 gab er bei der Erstbefragung zu seinem Folgeantrag vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes an, im Falle der Rückkehr nach Afghanistan Folgendes zu befürchten: "Angst vor meinem Onkel, dass dieser mich umbringen könnte" und ist dies in der Niederschrift der PI Klagenfurt am Wörthersee, Fremdenpolizei vom 18.7.2017, Zahl: XXXX , dokumentiert. In diesem Formular (Asyl Folgeantrag - Formularversion 11.1.2016) wird unter "11. Sonstige sachdienliche Hinweise" festgehalten: "Ich bin vor dreieinhalb Monaten bei der Festnahme durch die Polizei vom Balkon meiner Unterkunft gesprungen und habe mich dabei an meinen beiden Füßen verletzt. Seitdem gehe ich auf Krücken".
3. Am 8.8.2017 erfolgte die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde). Im Zuge dessen wurde der Beschwerdeführer auch zu seinem Gesundheitszustand und ob er allenfalls in ärztlicher Behandlung oder Therapie ist, befragt und gab er an in ärztlicher Behandlung oder Therapie wegen seinem gebrochenen Fuß zu sein. Er nehme Medikamente wegen seinem Fuß und handle es sich dabei um Schmerz- und Schlaftabletten. Die Frage, ob er im bisherigen Verfahren der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht, eine Kopie der Erstbefragung erhalten habe und diese Angaben rückübersetzt wurden, bejahte der BF.
Der Leiter der Amtshandlung thematisierte zur Abklärung der Identität den Namen des Beschwerdeführers und gab dieser an, dass in seiner Tazkira nicht der im Verfahren geführte Namen XXXX stehe, sondern der Name XXXX und sei dies vollständiger Name. Er sei in Kabul geboren und sei die Tazkira vom Schlepper weggeworfen worden. Einem Reisepass habe er niemals besessen.
Als seine letzte Adresse im Herkunftsland (letzter Wohnsitz) gab er das Dorf XXXX im Distrikt Kabul Qargha, Afghanistan an. Seine Eltern seien verstorben, als er ein kleines Kind gewesen sei. Er habe mit einem Onkel und dessen Gattin samt deren zwei Söhnen und drei Töchtern zusammengelebt. Der Onkel habe ihn immer schlecht behandelt. Er habe in Afghanistan genug Verwandte (Onkel, einen Sohn der Tante väterlicherseits und einen anderen Cousin), so der BF. Er habe zwei Jahre lang die Grundschule besucht und über einen Zeitraum von drei Jahren vor Ausreise Arbeitserfahrung erlangt (als Schweißer und "Teppiche genäht").
Befragt nach dem Grund seiner Asylantragsstellung gab er an "Mein Onkel ist nicht sehr nett, deswegen". Auf Nachfrage ob er alle Fluchtgründe genannt habe gab er an "Ja, das war alles" und zur Frage ob er Gelegenheit gehabt habe, seine Fluchtgründe ausführlich zu schildern, bejahte der BF dies.
Der Leiter der Amtshandlung begehrte die Auskunft, was der Beschwerdeführer konkret meine, wenn er sage, dass sein Onkel ihn nicht gut behandelt habe. Als Begründung berichtete der BF, der Onkel habe ihn als Kind immer beschimpft und sei sehr anstrengend gewesen. Als der BF in der zweiten Schulklasse gewesen sei, habe ihm der Onkel die Schulter gebrochen, als er ihn im Streit geschlagen habe. Dabei zeigte der BF auf das Schlüsselbein. Befragt ob es sonst noch Vorfälle mit seinem Onkel gegeben habe, verneinte der BF dies. auf die explizite Nachfrage, ob er sohin aus seinem Herkunftsstaat ausgereist sei, weil ihm der Onkel als Kind das Schlüsselbein gebrochen habe, antwortete der BF mit "ja genau".
Der Leiter der Amtshandlung fragte dazu noch einmal konkret nach "wurden Sie sonst noch einmal von Ihrem Onkel misshandelt?" und gab der BF als Antwort, dass der Onkel ihn immer beschimpft und manchmal auch geschlagen habe. Auf konkrete Nachfrage, wann er das letzte Mal vom Onkel geschlagen worden sei, gab der BF an, dass sich dies ca. einen Monat vor seiner Ausreise zugetragen habe. Auf die Frage nach dem Grund hierfür antwortete er knapp mit "wegen dem Geld" und auf Nachfrage was er damit meine: "Ich habe Geld verdient und er wollte mir nichts von diesem Geld geben und führte er auf Nachfrage dazu aus, dass er den Onkel im letzten Monat das Geld nicht habe geben wollen, deswegen habe ihn der Onkel geschlagen.
Auf konkrete Nachfrage ob er in Afghanistan wegen seinem Onkel bei der Polizei gewesen sei, gab er an, dies nicht gekonnt zu haben. Man müsse dort Geld zahlen, er habe Angst gehabt und sein Onkel habe "Bekannte dort" und führte weiter aus "ich konnte nicht".
Für die Ausreise habe ihm seine Tante mit
6.000 US-Dollar geholfen. Die Tante habe "das alles gesehen und beobachtet" und deswegen gesagt, er solle ein eigenes Leben haben. Der Onkel habe ihm nicht gehen lassen wollen und habe der Onkel nicht gewusst, dass der BF das Land verlassen. Sein Ziel sei Europa gewesen und auf Nachfrage ob er aus wirtschaftlichen Gründen nach Österreich gekommen sei verneinte er dies und gab an "Wegen der Sicherheit". Seine Tante habe mit dem Schlepper Österreich als Ziel ausgemacht. Österreich habe ihm gefallen, er habe sich hier in Sicherheit gefühlt und sei deswegen hiergeblieben.
Sein Onkel hätte ihn überall in Afghanistan finden können, deswegen sei er auch nicht in der Türkei geblieben. Befragt weshalb der Onkel ihn verfolgen sollte, gab der BF an, der Onkel habe Angst um die Grundstücke, dass ihm der BF etwas weg nehmen würde. Von diesem Onkel gab er zuvor an, dass dieser Eigentümer von "genug Grundstücke und zwei Häuser" sei.
Vom Leiter der Amtshandlung damit konfrontiert, dass es in seinem Herkunftsstaat kein Meldewesen gebe, wich der BF zunächst aus und gab er an, dass der Onkel ihn als Sklave behalten habe wollen, er habe den BF bei sich behalten wollen, so der BF. Nochmals mit dem Mangel an einem Meldewesen in Afghanistan konfrontiert und befragt, wie der Onkel ihn finden solle, gab er an "Ich habe Angst gehabt, deswegen wollte ich dort nicht bleiben".
Der Leiter der Amtshandlung stellte den BF die Frage ob er im Falle der Rückkehr wieder bei seiner Familie wohnen könne. Dies verneinte der BF und auf die Frage nach dem Grund hierfür gab er als Antwort "ich kann nicht, warum hab ich Afghanistan verlassen".
Der Beschwerdeführer wurde am Ende der Amtshandlung darüber aufgeklärt, dass er durch seine Unterschrift die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift und die Rückübersetzung bestätige. Die Niederschrift trägt die Unterschrift des BF und bestätigte er mit einer zweiten Unterschriftsleistung, eine Kopie dieser Niederschrift erhalten zu haben.
4. Mit Schreiben vom 16.8.2017, bei der belangten Behörde eingelangt am 21.8.2017, gab der BF eine Stellungnahme zur "Stellungnahme und Richtigstellung" mit dem Begehren, diese zum Akt zu nehmen und ihm neuerlich unter Beiziehung eines anderen Dolmetschers für die Sprache Dari einzuvernehmen. Einleitend gab er an, erst als ihm ein (Anm: namentlich nicht genannten) Sozialbetreuer, welcher beide Sprachen sehr gut beherrsche, das Protokoll über seine Einvernahme vom 8.8.2017 übersetzt habe, habe er davon Kenntnis erlangt, dass der Inhalt "des von mir im Glauben auf die richtige Übersetzung unterfertigten Protokolls nicht meiner Aussage entspricht". Er habe aufgrund "der falschen Übersetzung" Zweifel an der Fachkompetenz bzw. Unbefangenheit des Dolmetschers, weshalb er die Beiziehung eines anderen Dolmetschers beantrage. In diesem Schreiben führte er näher zu seinen Lebensumständen in Afghanistan aus: Zunächst habe ihm nicht nur der Onkel väterlicherseits, sondern auch dessen Gattin geschlagen, misshandelt und beschimpft. Als er größer geworden sei, sei er nur noch von seinem Onkel und dessen Kindern beschimpft worden. Der Onkel habe ihm einmal das Schlüsselbein gebrochen und ihn nur ein Jahr in die Schule geschickt. Im Alter von acht Jahren habe er den BF zu einem Mann gebracht, bei welchem er arbeiten sollte. Der BF habe gehört, dass der Onkel zu diesem Arbeitgeber gesagt hätte, dieser könne mit den BF machen, was er wolle. Er habe bis zu seinem 16. Lebensjahr sechs Tage die Woche von früh bis spät als teppichknüpfe gearbeitet und sei auch immer wieder geschlagen worden. Seinen Verdienst habe er immer seinen Onkel abliefern müssen. Danach habe ihn der Onkel gezwungen, als Schweißer zu arbeiten, da er in diesem Beruf mehr verdienen konnte. Er sei immer wie ein Sklave im Hause seines Onkels gewesen, habe sich dessen Willen nicht widersetzen können, da er gewalttätig gewesen sei. Er habe ständig Angst gehabt. Zuletzt sei er von seinem Onkel und von dessen Söhnen geschlagen worden, als er einmal das von ihm verdiente Geld für sich selbst für den Erwerb von Kleidung ausgeben habe wollen.
Seine Tante mütterlicherseits habe ihm erzählt, dass der väterliche Großvater des BF reich gewesen sei und der BF von seinem Vater Grundstücke geerbt habe, welche der Onkel an sich genommen habe. Er glaube, der Onkel habe Angst, dass er Ansprüche erheben würde, deshalb habe der Onkel vielleicht auch nie wollen, dass der BF die Schule besuche und Bildung erwerbe.
Die Flucht sei für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, endlich wie ein normaler, freier Mensch zu leben.
Die Tante mütterlicherseits habe ihm berichtet, dass der Onkel väterlicherseits nach der Flucht des BF sie aufgesucht habe und ihr gedroht habe, für den Fall, dass er den BF finde, diesem den Kopf abzuschneiden. Seine Tante (Anm: im gesamten Schriftstück mehrmals erwähnt, aber nie namentlich benannt) könne die Richtigkeit der Ausführungen bestätigen.
Er habe mit seinem Sprung vom Balkon seinem Leben endgültig ein Ende setzen wollen, bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat würde er sowieso getötet werden. Der BF führte ohne dies durch Beweismittel medizinischer Herkunft zu belegen, aus, dass er seither an Angstzuständen leide. Er müsse Schmerzmittel, Schlafmittel und Antidepressiva nehmen, was zu großen Konzentrationsschwierigkeiten führe und daher könne er momentan nicht so gut lernen.
5. Mit dem angefochtenen oben näher bezeichneten Bescheid wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt 1), gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG der Antrag auf Internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt 2), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt 3) und nach § 52 Abs 9 FPG 2005 festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt 4). Gemäß Spruchpunkt 5 des angefochtenen Bescheides beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG 2005 zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
6. Mit Verfahrensanordnung vom 19.2.2018 wurde dem Beschwerdeführer amtswegig die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberater zur Seite gestellt.
7. Der Beschwerdeführer erhob mit mit 20.3.2018 datiertem Schriftsatz Dr XXXX , Rechtsanwalt und Verteidiger in Strafsachen, fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid des BFA in vollem Umfange. Für den Inhalt des Rechtsmittels wird auf den Schriftsatz - einliegend im Fremdakt AS 209 bis 263 hingewiesen. Der Beschwerde wurden folgende Beweismittel beigelegt:
Klinisch-psychologischer Befund der Mag. XXXX , Klinische Psychologin, vom 26.9.2017 über die nach Zuweisung des Hausarztes Dr. XXXX vorgenommene Untersuchung im September 2017.
Vorstellungsgrund: Vermutete depressive Symptomatik und fragliche Suizidgefährdung. Festgehalten wird, dass die Befundaufnahme mit Unterstützung eines Dolmetsch durchgeführt wurde.
Diagnostische Einschätzung nach Anamneseerhebung und Befund:
F43 akute Belastungsstörung
F43.1. posttraumatische Belastungsstörung
F32 depressive Störung mittelgradig bis schweren Ausmaßes
Zusammenfassung: Die Ergebnisse des psychodiagnostischen Interviews, aber auch begleitender psychometrische Verfahren, lassen eine akute Belastungsstörung bei bestehender posttraumatischer Belastungsstörung i.V.m. depressiver Symptomatik und Suizidgefährdung eindeutig erkennen. Für Herrn XXXX ist ein stabiles, gut unterstützendes und sicherheitsgebendes Umfeld und soziales Netzwerk dringend notwendig. Begleitend empfehle ich eine psychiatrische Behandlung und wenn möglich muttersprachliche psychologische Behandlung oder Psychotherapie.
Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.4.2017, schweizerische Eidgenossenschaft, eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment EJPD, Staatssekretariat für Migration SEM, Bern-Wabern 20.6.2017
Zu "Gesundheit" wird unter 3.4.3. Gesundheitsversorgung ausgeführt.
Darin wird zB festgehalten: "Man muss für alle Medikamente zahlen".
Beitrag Friederike Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltag
Afghanistans, aus: Asylmagazin 3/2017: Themenschwerpunkt Afghanistan
darin wird zur Situation der Rückkehrer aus Europa ausgeführt und zu Überlebensstrategien und Zukunftsperspektiven sowie zur Solidarität mit Rückkehrern. Unter II.2. wird zur "Gesundheitsversorgung" ausgeführt. Unter Hinweis auf die Quelle "Patience, Martin /BBC News (20.1.2009): Coping with a traumatised nation" (Fußnote 50), hätten im Jahr 2009 nach Angaben des afghanischen Gesundheitsministers geschätzte 66 % der afghanischen Bevölkerung an psychischen Erkrankungen gelitten und wird unter Hinweis auf eine in Fußnote 49 genannte Quelle festgehalten, die "einzige staatliche psychiatrische Klinik Kabuls" habe 60 Betten.
Zur Identität oder zum Fluchtvorbringen brachte der BF mit der Beschwerde nicht Sachdienliches in das Verfahren ein. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.
7. Der bezughabende Akt wurde dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt und langte am 5.4.2018 ein und gab die belangte Behörde im Vorlagebericht bereits bekannt, auf die Teilnahme einer öffentlichen mündlichen Verhandlung verzichten zu wollen. Gleichzeitig wurde eine Stellungnahme zur Verfassung des BF abgegeben und wurde auf einen Aktenvermerk und zwei Vorfallsmeldungen aus dem Quartier XXXX hingewiesen. Dem vorgelegten Fremdakt ist einliegend ein per E-Mail vom 29.3.2018 übermittelter Aktenvermerk des Bundesministerium für Inneres VQ XXXX , vom 29.3.2018, wonach von den Mitarbeitern dieses Quartiers von 18.7.2017 bis 15.9.2017 die Wahrnehmung gemacht worden sei, dass sich der BF ohne Krücken fortbewegen und in dem ohne Personenaufzug ausgestattetem und bloß über ein Stiegenhaus aufgeschlossenes Quartier Zimmern in den oberen Stockwerken bewohnt habe. Er habe in den Gesprächen stets "klar" gewirkt, habe das Gesagte verstanden und auch entsprechende Antworten gegeben. Am 14.9.2017 sei der Notarzt verständigt worden, da der BF über Schwindel und Kopfschmerzen geklagt habe. Der im Wege der Ärzte Rufbereitschaft kontaktierte Arzt habe den BF untersucht. Der BF habe über ein seltsames Geräusch in seinen Ohren geklagt. Der Arzt habe nichts Auffälliges erkennen können und festgestellt, dass die Blutdruckwerte und der Bus normal gewesen seien. Die als zuvor "sehr gerötet" beschriebenen Augen des BF seien daraufhin "sichtlich weniger rot" gewesen. Der Arzt habe gesagt, der BF solle die Medikamente nicht mehr nehmen und gegen die Schmerzen etwas Anderes nehmen und könne es sich um eine leichte Allergie handeln.
8. Am 2.10.2018 wurde die öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt. Der BF erschien im Beisein von Dr. XXXX , Verein ZEIGE. Dr. XXXX legte die Vollmacht und Zustellvollmacht vom 1.8.2018 vor. Der BF gab seine Volksgruppe an und dass er Schiit sei, aber "mit dem Glauben nichts zu tun" habe. Er nehme regelmäßig Medikamente und gehe es ihm gesundheitlich nicht gut.
Vorgelegt wurden folgende Beweismittel:
Fachpsychiatrischer und fachpsychotherapeutischer Befund Prim. Dris. XXXX , vom 2.10.2018:
Darin wird auf die "ausführlichen" klinisch-psychologischen Befunde der XXXX vom 26.9.201 und vom 4.4.2018 verwiesen
Auszug:
* aus "Kurzananmnese, Ätiologie, Pathogenese": "zudem sexueller Missbrauch"
* aus "Psychopathologie nach wie vor": Durchschlafstörungen mit Schlafverkürzung auf vier Stunden. Nachhallerinnerungen. Schreckhaftigkeit. Misstrauen, Menschen Feindlichkeit.
Selbstmitleid. Volatil Schmerzzustände: unduliernd Kopf, Thorax, Rücken, rechte Körperhälfte. Angstbereitschaft, serielle Panikattacken. Doris Gedanken, Todessehnsucht. Selbstmordgedanken mit Einengungen. Stupor, Pseudo autistisches Verhalten. Einsamkeit. Schuldgefühle. Nervosität. Pathologisch narzisstische Hassphänomene.
* aus Medikation:
Sertralin 50 mg 2 - 0 - 0
Truxal 50 mg 1 - 0 - 2
Leponex 100 mg 1/4 -0 - 1/2
Mitazapin 15mg 0 - 0 - 1
aus Feststellung betreffend psychiatrische Diagnosen:
Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-100 F43.1)
schwere depressive Episode mit somatischem Syndrom
(ICD-10 F33.2.)
Panikstörung und generalisierte Angststörung (ICD-10 F41.0 bzw F41.1 und F41.2)
Fachpsychiatrisch wird festgestellt festgehalten, dass
1. der BF "nach wie vor an einer posttraumatisch bedingten psychiatrischen Erkrankung erkrankt ist und fortlaufend Neuroleptika, tranquilisierend und antidepressiv medikamentös-psychiatrisch behandelt wird,
2. bei Abbruch der laufenden medikamentös- psychiatrischen nervenärztlichen Behandlung den am Ort gravierende Gefahr für Leib und Leben des Patienten gegeben ist,
3. bei zusätzlichen seelischen Belastungen - wie es die Abschiebung darstellt - akut suizidgefährdet ist,
4. der BF zufolge der psychiatrischen Symptomatik und auch wegen der Nebenwirkungen der notwendigen Medikation bei absoluter Indikation nicht reisefähig ist.
Klinisch-psychologischer Befund der XXXX , Klinische Psychologin, vom 26.9.2017 (nochmals vorgelegt)
Klinisch-psychologischer Befund der XXXX , Klinische Psychologin, vom 4.4.2018, adressiert an den Hausarzt des BF über die im März 2018 durchgeführte Untersuchung, zu welcher der BF zur psychologischen Verlaufsdiagnostik erschienen ist. Im Zuge der psychologischen Abklärung / Diagnostik sind keine Simulationstendenzen erkennbar. Es besteht aufgrund der unklaren Zukunftsperspektive eine depressive Symptomatik.
Persönlichkeitsdiagnostik zeigt sich eine sensitive, bindungsorientierte, hoch anpassungsbereite und sozial ausgerichtete Persönlichkeit.
Aus klinisch-psychologischer Perspektive ist ein sicheres und Perspektiven ermöglichendes Umfeld für den BF dringend notwendig.
Ich empfehle - wie bereits vorauslaufend - eine engmaschige psychiatrische Begleitung und Psychotherapie.
Diagnostische Einschätzung nach Anamneseerhebung und Befund:
F43.1. posttraumatische Belastungsstörung
F32 depressive Störung mittelgradig bis schweren Ausmaßes
In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 2.10.2018 brachte der BF vor, dass es ihm "heute gar nicht gut geht, es ist ihm schlecht. Im Moment geht es". Der BF brach in Tränen aus. Auf die Frage ob er bei der Einvernahme vor der Polizei und vor der belangten Behörde die Wahrheit gesagt habe, antwortete er "ja, ich habe die Wahrheit gesagt". Zur Frage ob er in der Erstbefragung und vor der belangten Behörde zu seinen Fluchtgründen erzählt habe, gab er an "ja" und führte darauf folgend weiter aus. Er berichtete, die erste Klasse abgeschlossen zu haben. Im Alter von acht Jahren sei es mit seinem Cousin auf dem Schulweg zu einem Streit gekommen und sei sein Onkel gekommen. Dieser habe ihn hochgehoben, ganz hoch, und auf den Boden geworfen. Er habe dadurch einen Schulterbruch und eine Kopfverletzung erlitten. Der Onkel habe gesagt, er werde ihn umbringen, er werde ihn töten. Der BF weinte bei der Schilderung.
Auf die Frage ob es danach "so ähnliche Sachen" mit dem Onkel gegeben habe, antwortete er mit "ja". Die Richterin begehrte die Auskunft, ob er das was der Onkel alles mit ihm gemacht habe, bei der Polizei und vor allem der belangten Behörde erzählt habe. Er gab zur Antwort "ja, wobei ich ein Passsachen nicht erzielt habe, die ich aber heute erzählen möchte". Daraufhin angesprochen gab er an, es wäre besser wenn er jetzt tot wäre.
Zusammengefasst brachte er auf die Aufforderung "erzählen Sie uns, was Sie vorhin gesagt haben, dass Sie bisher noch nicht erzählt haben", Bacha Bazi vor. Der Onkel habe Haschisch geraucht und ihn aufgefordert für ihn zu tanzen. Der BF weinte, als die Frage nach der Häufigkeit an ihn gerichtet wurde, wieder und brachte dazu unter Tränen vor, dass der Onkel solange er in Afghanistan gewesen sei, bis der BF das Land verlassen habe, den BF zu sexuellen Handlungen gezwungen habe. Der Onkel habe ihm für den Fall, dass er jemandem davon erzählen sollte, mit dem Tode bedroht. Er habe nie bei der Polizei angezeigt, was der Onkel mit ihm gemacht habe, da die Polizei nichts für ihn machen könne und man die Polizei in Afghanistan "immer bezahlen" müssen, die verlangen Geld.
Der Onkel habe ihn sehr gequält und sehr schlecht behandelt und eine Tante mütterlicherseits habe den BF 6.000 US-Dollar gegeben. Auf die Frage ob er nur diesen einen Onkel gehabt habe oder es noch andere Onkel und Tanten gebe, gab er an "ich hatte nur diesen einen Onkel".
Auf Befragen, ob er bei der Einvernahme bei der Polizei und bei der belangten Behörde auch erzählt habe, was der Onkel - welchen er mit Namen XXXX bezeichnet - mit ihm gemacht habe, was man als Mann mit einem kleinen Buben normal nicht tut, antwortete er, dass er über Bacha Bazi nicht geredet habe. Für einen Mann sei es sehr schwer. Es quäle ihn immer noch in seinen Träumen, er habe keine Ruhe. Daraufhin gab er an, dass er im Beruf eines Teppichknüpfers hätte arbeiten müssen. Der Onkel habe zu seinem Chef gesagt, dass dieser den BF ruhig schlagen könne und den Knochen dem Onkel zuschicken solle.
Auf die Frage, ob er noch etwas zu seinen Fluchtgründen, warum er aus Afghanistan weggegangen sei, sagen wolle, gab er an: "Das Problem war hauptsächlich mein Onkel. Ich hatte mit ihm Probleme, auch er hatte mit mir Probleme wegen Geld und Grundstücken, die ich vom Opa geerbt habe. Ich habe auch drei Jahre als Schweißer gearbeitet. Nachdem ich den Lohn bekommen hab, wollte ich mir Kleidungsstücke kaufen und der Onkel hat mir das untersagt. Er hat mir drei Leute geschickt, die so stark auf mich eingeschlagen haben, dass ich ihnen meine Hose uriniert habe und im Urin Blut war".
Bei der Schilderung machte der BF einen sichtlich bedrückten Eindruck, gedrückte Stimmungslage, er sprach ruhig und leise in gleichbleibendem Ton.
Der Onkel habe aber nicht zugelassen, dass er einen Arzt aufsuchen.
Aufgrund der Stimmungslage des BF in der Verhandlung wurde seitens der Richterin nochmals gefragt, ob es sonst noch Gründe gäbe, von denen er sage, dass diese auch ein Fluchtgrund für ihn gewesen sind. Daraufhin schilderte er seinen Sprung vom Balkon in XXXX .
Daraufhin wurde der BF von der Richterin darauf aufmerksam gemacht, dass er auf ihre Frage "gibt es sonst noch Gründe, von denen sie sagen, das waren auch Fluchtgründe für mich?" die Angelegenheit in XXXX erzählt habe. Sie begehrte daher die Auskunft, ob er das gemacht habe wegen einem Fluchtgrund in Afghanistan. Er verneinte und gab an, das gemacht zu haben weil er lieber sterben würde als nach Afghanistan zurückzugehen.
Auf die Frage "Also die Fluchtgründe waren hauptsächlich der Onkel? gab er zur Antwort "ja" und die darauf folgende Frage ob es sonst noch weitere Fluchtgründe gibt, verneinte der BF.
Der BF gab an, in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit niemals bedroht oder verfolgt worden zu sein.
Auf die Frage, ob er im Herkunftsstadt aufgrund seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten jemals bedroht oder verfolgt worden sei, gab er an "ja, wenn ich in anderen Provinzen war, da hatte ich schon immer Probleme mit den Sunniten". Daher wurde er befragt, in welchen anderen Provinzen eher gewesen sei. Er nannte daraufhin nicht etwa einen Namen einer Provinz, sondern gab an, dass er selbst nicht dort hingegangen sei. Aber wenn er in anderen Provinzen gegangen wäre, wäre es zu Problemen gekommen, so der BF.
Er verneinte die Frage, schon einmal in Herat oder in Mazar-e Sharif gewesen zu sein.
Er sei in Afghanistan niemals in Haft gewesen, sei dort weder vorbestraft, noch werde er mit einer staatlichen Fahndungsmaßnahmen wie Haftbefehl, Strafanzeige, Steckbrief gesucht.
Er habe in Afghanistan niemals Probleme mit Behörden, der Polizei oder einen Gericht gehabt.
Auch habe er in Afghanistan nie aktiv an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen teilgenommen.
Er sei in Afghanistan niemals von irgendjemanden verfolgt oder bedroht worden wegen Blutfehde, Racheakten oder dergleichen und gab er ergänzend auf diese Frage an, dass er nur die Feindschaft mit seinem Onkel und seiner Familie habe.
Auf die Frage ob in Afghanistan irgendeinmal irgendein Mensch - außer diesem Onkel - zum BF gekommen sei und ihn bedroht oder verfolgt habe, gab er als Antwort "Nein. Ich wurde immer vom Onkel und dessen Seite bedroht."
Auf die Frage, was er für sein Leben befürchte, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsse, antwortete er mit "Angst vor meinem Onkel".
Auf die Frage ob er glaube, der Onkel würde ihn auch in anderen Provinzen finden, gab der BF an "Ja. Er kann mich auch dort finden. Er kennt viele Leute, er ist bekannt".
Die Richterin richtete an den BF die Frage, wem er sagen würde, dass er wieder in Afghanistan ist bzw. ob er jemandem sagen würde, dass er wieder da sei und seine Adresse weitergeben würde. Der BF antwortete, niemanden zu haben. Daraufhin wurde er befragt, ob er es der Tante mütterlicherseits sagen würde und gab er an, dass der Onkel diese Tante töten würde.
Die Richterin fragte den BF, warum er glaube, dass der Onkel diese Tante dann töten würde, es aber bis jetzt noch nicht getan habe. Dazu führte er aus, seine Tante habe ihm mit Geld für die Flucht unterstützt und das wisse der Onkel nicht.
Der BF berichtete in deutscher Sprache zu seinem Leben in Österreich, seiner Tagesbeschäftigung und seinen Kontakten in Österreich.
Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurde gemäß § 29 Abs 2 VwGVG die Entscheidung mündlich verkündet.
9. Die belangte Behörde beantragte mit Erledigung vom 9.10.2018 gemäß § 29 Abs 4 VwGVG die schriftliche Ausfertigung des am 2.10.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Das Bundesverwaltungsgericht sieht auf Grundlage des gegenständlich erhobenen Antrags auf internationalen Schutz, der am 18.7.2018 durchgeführten Erstbefragung, der Einvernahme des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde am 8.8.2017, der im Verfahren vorgelegten Dokumente - insbesondere jene betreffend den Gesundheitszustand -, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der Einsichtnahme in das zentrale Melderegister und das Fremdeninformationssystem sowie das Strafregister und das Grundversorgung-Informationssystem folgenden Sachverhalt als erwiesen an und werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Feststellungen zur Person des BF:
1.1.1. Der Beschwerdeführer führt in Österreich im gegenständlichen Verfahren den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX Er ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und ist Angehöriger der Volksgruppe der Qazealbash und ist schiitischen Glaubensbekenntnisses.
1.1.2. Der Beschwerdeführer reiste in Umgehung der Grenzkontrollen unrechtmäßig nach Österreich ein.
1.1.3. Die Identität des BF konnte nicht festgestellt werden; der im Spruch angeführte Name dient lediglich zur Identifizierung des Beschwerdeführers als Verfahrenspartei. Die Identität des BF steht mit für das Verfahren ausreichender Wahrscheinlichkeit fest.
1.1.4. Die Herkunftsprovinz ist Kabul, Kabul-Stadt. Der BF ist der Sprache Dari mächtig. Er hat in Afghanistan die Schule besucht. Er ist laut seinen im gesamten Verfahren gemachten Angaben ledig und ohne Sorgepflichten.
1.1.5. Der BF verfügt laut seinen im gesamten Verfahren gemachten Angaben über eine Berufserfahrung im Bereich Teppichknüpferei und Schweißerei.
1.1.6. Das Ausmaß des Schulbesuchs und der Berufserfahrung kann jeweils nicht festgestellt werden.
1.1.7. Der BF hat in Österreich keine Familienangehörige. Der BF verfügt über Verwandtschaft in Afghanistan, unter anderem über eine Tante mütterlicherseits, welche ihm die Flucht finanziert hat.
1.1.8. Der BF ist ein junger Mann im erwerbsfähigen Alter. Der Gesundheitszustand des BF ist dermaßen, dass er an posttraumatischer Belastungsstörung, schwerer depressiver Episode mit somatischem Syndrom und Panikstörung und generalisierte Angststörung leidet und akut suizidgefährdet ist.
1.1.9. Der BF bedarf der verschreibungspflichtigen Medikamente Sertralin, Truxal, Leponex und Mirtazapin und eines stabilen, gut unterstützenden und sicherheitsgebenden Umfelds und engmaschiger psychiatrischer Begleitung und Psychotherapie.
1.1.10. Der BF ist nicht reisefähig.
1.1.11. Der BF kann sich in deutscher Sprache über Alltägliches verständigen.
1.1.12. Der BF lebt in Österreich von der Grundversorgung und hat im April beim Magistrat der Stadt XXXX ein freies Gewerbe angemeldet.
1.1.13. Es scheinen den BF betreffend im Strafregister der Republik Österreich keine Vormerkungen auf.
1.2. Feststellungen zu seinen Fluchtgründen:
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF in seinem Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung droht.
Der BF gibt als Fluchtgrund an, vor seinen gewalttätigen Onkel väterlicherseits geflohen zu sein. Bei diesem Onkel hätte er nach dem Tod seiner Eltern gelebt und hätte dieser den BF als Kind misshandelt, laufend als Bacha Bazi sexuell missbraucht und ihm einem Chef in einer Teppichknüpferei übergeben, den er mitgeteilt habe, er könne den BF misshandeln. Diesem Vorbringen des BF ist eine asylrelevante Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention nicht zu entnehmen, da es diesbezüglich an einem kausalen Zusammenhang zu einem Konventionsgrund (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) mangelt.
Weiters kann weder eine konkret gegen die Person des Beschwerdeführers gerichtete asylrelevante Verfolgung festgestellt werden, noch sind im Verfahren sonst Anhaltspunkte hervorgekommen, die eine mögliche Verfolgung des BF im Herkunftsstaat aus asylrelevanten Gründen für wahrscheinlich erscheinen lassen hätten.
Eine konkret gegen die Person des BF gerichtete asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention oder im Sinne der Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016 kann nicht festgestellt werden.
1.3. Feststellungen zu einer möglichen Rückkehr:
Mit seinen Angaben zeigt der BF asylrelevante Gründe für das Verlassen Afghanistans nicht auf, welche dazu geeignet wären, ihn im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen auszusetzen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass konkret der BF als Angehöriger seiner Volksgruppe sowie als schiitischer Moslem bzw. dass jeder Angehörige dieser Volksgruppe und / oder dieser Religionsgruppe in Afghanistan psychischer und / oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF aufgrund der Tatsache, dass er sich seit geraumer Zeit in Österreich aufgehalten hat bzw. dass jeder afghanische Staatsangehörige, welcher aus Europa nach Afghanistan zurückgekehrt, in Afghanistan psychischer und / oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.
Insgesamt konnte der BF nicht glaubhaft vermitteln, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.
Zu einer Rückkehr des BF in seine Herkunftsprovinz Kabul-Stadt ist zu sagen:
Kabul-Stadt scheidet vor dem Hintergrund der UNHCR-Richtlinien zur Beurteilung des internen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Afghanistan vom 30.8.2018 als innerstaatliche Fluchtalternative aus. Der letzten Aktualisierung des Länderberichts, wie er am Tag der mündlichen Verkündung am 2.10.2018 in Geltung war (Stand: 11.9.2018) ist zu Kabul zu entnehmen: "Ein Selbstmordattentäter sprengte sich am Nachmittag des 15.8.2018 in einem privaten Bildungszentrum im Kabuler Distrikt Dasht-e Barchi, dessen Bewohner mehrheitlich Schiiten sind, in die Luft. Die Detonation hatte 34 Tote und 56 Verletzte zur Folge. Die Mehrheit der Opfer waren Studentinnen und Studenten, die sich an der Mawoud Akademie für die Universitätsaufnahmeprüfungen vorbereiteten. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Vorfall."
Die UNHCR-Richtlinien zur Beurteilung des internen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Afghanistan vom 30.08.2018 führen zu "Kabul-Stadt" als innerstaatlichen Fluchtalternative aus, dass angesichts der derzeitigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Situation in Kabul eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Kabul-Stadt in der Regel nicht verfügbar ist.
Im gegenständlichen Fall ist Kabul-Stadt nicht etwa als eine anstelle der ursprünglichen Herkunftsörtlichkeit mögliche Fluchtalternative zu prüfen, sondern handelt es sich bei Kabul-Stadt laut Angaben des BF um seine Herkunftsörtlichkeit und ist vor dem Hintergrund, dass UNHCR der Ansicht ist, dass auch sonst eine Wiederansiedelung in Kabul wegen der derzeitigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Situation in Kabul nicht gegeben ist, zu sagen, dass betreffend den BF eine allgemeine Gefährdungslage bezüglich Heimat Kabul-Stadt bestünde. Dem BF würde bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsort die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohen.
Zu innerstaatlichen Fluchtalternativen ist der UNHCR der Ansicht, dass eine vorgeschlagene innerstaatliche Fluchtalternative nur sinnvoll ist, wenn die Person Zugang zu (i) Unterkünften, (ii) grundlegenden Dienstleistungen wie Sanitärversorgung, Gesundheitsversorgung und Bildung hat; und (iii) Möglichkeiten für den Lebensunterhalt oder bewährte und nachhaltige Unterstützung, um Zugang zu einem angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. Darüber hinaus hält UNHCR eine innerstaatliche Fluchtalternative nur für sinnvoll, wenn die Person Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk von Mitgliedern ihrer (erweiterten) Familie oder Mitgliedern ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft im Bereich der potenziellen Umsiedlung hat, die beurteilt wurden bereit und in der Lage zu sein, dem Antragsteller in der Praxis echte Unterstützung zu leisten.
UNHCR ist der Ansicht, dass die einzige Ausnahme von der Anforderung der externen Unterstützung alleinstehende Männer - wie es der BF einer ist - und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter sind, die keine spezifischen Schwachstellen wie oben beschrieben aufweisen. Unter bestimmten Umständen können diese Personen ohne familiäre und soziale Unterstützung in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die über die notwendige Infrastruktur und Lebensgrundlagen verfügen, um die Grundbedürfnisse des Lebens zu decken, und die einer wirksamen staatlichen Kontrolle unterliegen.
Als innerstaatliche Fluchtalternativen gelten die Stadt Mazar-e Sharif und die Provinz Herat.
Herat ist trotz militärischer Operationen und Angriffen von Regierungsfeinden eine relativ entwickelte und relativ friedliche Provinz im Westen des Landes, wo unter anderem Baumwolle, Obst und Ölsaat angebaut werden. Herat zählt laut aktuellem Länderbericht idF der am Tag der mündlichen Verkündung gültigen Version vom 11.9.2018 zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen des Landes. Mitte Februar 2018 wurde von der Entminungs-Organisation Halo Trust bekannt gegeben, dass nach zehn Jahren der Entminung 14 von 16 Distrikten der Provinz sicher seien. In diesen Gegenden bestünde keine Gefahr mehr, Landminen und anderen Blindgängern ausgesetzt zu sein.
Herat ist von Österreich aus über den Luftweg sicher erreichbar.
Mazar-e Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh und ist Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich laut der am Tag der mündlichen Verkündung gültigen Version des Länderberichts vom 11.9.2018 wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Provinz Balkh ist laut aktuellem Länderbericht idF 22.8.2018 nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans und hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten Aufständischer zu verzeichnen.
Mazar-e Sharif ist von Österreich aus über den Luftweg sicher erreichbar.
Auch wenn es sich bei dem BF um einen jungen ledigen Mann im erwerbsfähigen Alter ohne Sorgepflichten handelt, ist unter Hinweis auf VwGH 23.2.2016, Ra2015/20/0233, auf seinen derzeitigen Gesundheitszustand hinzuweisen:
Im gegenständlichen Fall ist nach Auseinandersetzung mit dem konkreten Krankheitsbild des BF (posttraumatische Belastungsstörung, schwere depressive Episode mit somatischem Syndrom, Panikstörung und generalisierte Angststörung) und bei Einzelfallbetrachtung des gegenständlichen BF festzuhalten, dass dem männlichen an seiner Psyche erkrankten BF derzeit nicht nur bei einer Rückkehr in seine Herkunftsörtlichkeit Kabul-Stadt, sondern auch bei einer Wiederansiedelung in einer innerstaatlichen Fluchtalternative wie etwa Mazar-e Sharif oder Herat ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.
Der BF kann nach Ansicht der erkennenden Richterin aus folgenden Gründen nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedelung in andere Landesteile Afghanistans verwiesen werden: Der BF würde Gefahr laufen, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft und Pflege nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Dies sowohl im Falle der Rückkehr in die Herkunftsprovinz, als auch im Falle einer Ansiedelung außerhalb seiner Herkunftsprovinz in einer der innerstaatlichen Fluchtalternativen Mazar-e Sharif oder Herat. Der BF würde so in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten.
Die Feststellungen zu den Folgen einer Ansiedelung des Beschwerdeführers in außerhalb seiner Herkunftsprovinz gelegenen Landesteilen und insbesondere in einer der innerstaatlichen Fluchtalternativen Mazar-e Sharif oder Herat ergeben sich unter Berücksichtigung der vom UNHCR aufgestellten Kriterien (siehe unter II.1.4) für das Bestehen einer internen Schutzalternative für Afghanistan aus dem am Tag der mündlichen Verkündung geltenden Länderbericht idF 11.9.2018 (siehe unter II.1.4.).
1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers wird anhand des Länderberichts idF 11.9.2018 (aktuelle Fassung am Tag der mündlichen Verkündung) festgestellt:
Kabul
Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa, im Osten an Laghman, an Nangarhar im Südosten, an Logar im Süden und an (Maidan) Wardak im Südwesten. Kabul ist mit den Provinzen Kandahar, Herat und Mazar durch die sogenannte Ringstraße und mit Peshawar in Pakistan durch die Kabul-Torkham Autobahn verbunden. Die Provinz Kabul besteht aus folgenden Einheiten (Pajhwok o.D.z): Bagrami, Chaharasyab/Char Asiab, Dehsabz/Deh sabz, Estalef/Istalif, Farza, Guldara, Kabul Stadt, Kalakan, Khak-e Jabbar/Khak-i-Jabar, Mirbachakot/Mir Bacha Kot, Musayi/Mussahi, Paghman, Qarabagh, Shakardara, Surobi/Sorubi (UN OCHA 4-2014; vgl. Pajhwok o.D.z).
Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.679.648 geschätzt (CSO 4.2017).
In der Hauptstadt Kabul leben unterschiedliche Ethnien: Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem sunnitischen Glauben an, dennoch lebt eine Anzahl von Schiiten, Sikhs und Hindus nebeneinander in Kabul Stadt (Pajhwok o.D.z). Menschen aus unsicheren Provinzen, auf der Suche nach Sicherheit und Jobs, kommen nach Kabul - beispielsweise in die Region Shuhada-e Saliheen (LAT 26.3.2018). In der Hauptstadt Kabul existieren etwa 60 anerkannte informelle Siedlungen, in denen 65.000 registrierte Rückkehrer/innen und IDPs wohnen (TG 15.3.2018).
Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen: den Hamid Karzai International Airport (HKIR) (Tolonews 25.2.2018; vgl. Flughafenkarte der Staatendokumentation; Kapitel 3.35). Auch soll die vierspurige "Ring Road", die Kabul mit angrenzenden Provinzen verbindet, verlängert werden (Tolonews 10.9.2017; vgl. Kapitel 3.35.).
Allgemeine Information zur Sicherheitslage
Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen (Reuters 14.3.2018), die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben (Reuters 14.3.2018; vgl. UNGASC 27.2.2018). Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen (Khaama Press 26.3.2018; vgl. FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018). Im Jahr 2017 und in den ersten Monaten des Jahres 2018 kam es zu mehreren "high-profile"-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte (DW 27.3.2018; vgl. VoA 19.3.2018 SCR 3.2018, FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018).
Informationen und Beispiele zu öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen (HPA) können dem Kapitel 3. "Sicherheitslage (allgemeiner Teil)" entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.
Im Zeitraum 1.1.2017- 30.4.2018 wurden in der Provinz 410 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.
Im gesamten Jahr 2017 wurden 1.831 zivile Opfer (479 getötete Zivilisten und 1.352 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Selbstmordanschläge, gefolgt von IEDs und gezielte Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 4% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Für Kabul-Stadt wurden insgesamt 1.612 zivile Opfer registriert; dies bedeutet eine Steigerung von 17% im Gegensatz zum Vorjahr 2016 (440 getötete Zivilisten und 1.172 Verletzte) (UNAMA 2.2018).
Im Jahr 2017 war die höchste Anzahl ziviler Opfer Afghanistans in der Provinz Kabul zu verzeichnen, die hauptsächlich auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren; 16% aller zivilen Opfer in Afghanistan sind in Kabul zu verzeichnen.
Selbstmordangriffe und komplexe Attacken, aber auch andere Vorfallsarten, in denen auch IEDs verwendet wurden, erhöhten die Anzahl ziviler Opfer in Kabul. Dieser öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriff im Mai 2017 war alleine für ein Drittel ziviler Opfer in der Stadt Kabul im Jahr 2017 verantwortlich (UNAMA 2.2018).
Religionsfreiheit
Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten (CIA 2017; vgl. USCIRF 2017). Schätzungen zufolge sind etwa 10 - 19% der Bevölkerung Schiiten (AA 5.2018; vgl. CIA 2017).
Schiiten
Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15% geschätzt (CIA 2017; vgl. USCIRF 2017). Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara (USDOS 15.8.2017). Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan leben einige schiitische Belutschen (BFA Staatendokumentation 7.2016). Afghanische Schiiten und Hazara neigen dazu, weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein als ihre Glaubensbrüder im Iran (CRS 13.12.2017).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (FH 11.4.2018). Obwohl einige schiitischen Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demographischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiere; auch vernachlässige die Regierung in mehrheitlich schiitischen Gebieten die Sicherheit. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen (USDOS 15.8.2017).
Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime ca. 30% (AB 7.6.2017; vgl. USDOS 15.8.2017). Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (USDOS 15.8.2017).
Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen (USDOS 15.8.2017). Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet (CRS 13.12.2017). In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS (HRW 2018; vgl. USCIRF 2017).
Unter den Parlamentsabgeordneten befinden sich vier Ismailiten. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten (USDOS 15.8.2017).
Weiterführende Informationen zu Angriffen auf schiitische Glaubensstätten, Veranstaltungen und Moscheen können dem Kapitel 3. "Sicherheitslage" entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.
Bacha Bazi (Bacha Bazi) - Tanzjungen
Bacha Bazi, auch Tanzjungen genannt, sind Buben oder transsexuelle Kinder, die sexuellem Missbrauch und/oder dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind (MoJ 15.5.2017: Art. 653). In weiten Teilen Afghanistans, vor allem in den Rängen von Armee und Polizei, ist der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen nach wie vor ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird nicht selten unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein (AA 5.2018). Mit Inkrafttreten des neuen afghanischen Strafgesetzbuch im Jahr 2018, wurde die Praxis des Bacha Bazi kriminalisiert. Den Tätern drohen bis zu sieben Jahre Haft. Jene, die mehrere Buben unter zwölf Jahren halten, müssen mit lebenslanger Haft rechnen. Das neue afghanische Strafgesetzbuch kriminalisiert nicht nur die Praxis von Bacha Bazi, sondern auch die Teilnahme an solchen Tanzveranstaltungen. Der Artikel 660 des fünften Kapitels beschreibt, dass Beamte der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF), die in die Praxis von Bacha Bazi involviert sind, mit durchschnittlich bis zu fünf Jahren Haft rechnen müssen (MoJ 15.5.2017; vgl. LSE 24.1.2018).
Üblicherweise sind die Jungen zwischen zehn und 18 Jahre alt (SBS 20.12.2016; vgl. AA 9.2016); viele von ihnen werden weggeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartes haben (SBS 21.12.2016). Viele der Jungen wurden entführt, manchmal werden sie auch von ihren Familien aufgrund von Armut an die Täter verkauft (SBS 20.12.2016; vgl. AA 5.2018). Manchmal sind die Betroffenen Waisenkinder und in manchen Fällen entschließen sich Jungen, Bacha Bazi zu werden, um ihre Familien zu versorgen (TAD 9.3.2017). Die Jungen und ihre Familien werden oft von ihrer sozialen Umgebung verstoßen; eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt (AA 5.2018).
Medizinische Versorgung
Gemäß Artikel 52 der afghanischen Verfassung muss der Staat allen Bürgern kostenfreie primäre Gesundheitsversorgung in öffentlichen Einrichtungen gewährleisten; gleichzeitig sind im Grundgesetz die Förderung und der Schutz privater Gesundheitseinrichtungen vorgesehen (MPI 27.1.2004; Casolino 2011). Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Berichten zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Behandlung stark einkommensabhängig. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung (AA 5.2018).
In den letzten zehn Jahren hat die Flächendeckung der primären Gesundheitsversorgung in Afghanistan stetig zugenommen (WHO o.D.). Das afghanische Gesundheitssystem hat in dieser Zeit ansehnliche Fortschritte gemacht (TWBG 10.2016; vgl. USAID 25.5.2018). Gründe dafür waren u. a. eine solide öffentliche Gesundheitspolitik, innovative Servicebereitstellung, Entwicklungshilfen usw. (TWBG 10.2016). Einer Umfrage der Asia Foundation (AF) zufolge hat sich 2017 die Qualität der afghanischen Ernährung sowie der Gesundheitszustand in den afghanischen Familien im Vergleich zu 2016 gebessert (AF 11.2017). Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Strategieplan für den Gesundheitssektor (2011-2015) und eine nationale Gesundheitspolicy (2012-2020) entwickelt, um dem Großteil der afghanischen Bevölkerung die grundlegende Gesundheitsversorgung zu garantieren (WHO o.D.).
Trotz signifikanter Verbesserungen im Bereich des Deckungsgrades und der Qualität der Gesundheitsversorgung wie auch einer Reduzierung der Sterberate von Müttern, Säuglingen und Kindern unter fünf Jahren liegen die afghanischen Gesundheitsindikatoren weiterhin unter dem Durchschnitt der einkommensschwachen Länder. Des Weiteren hat Afghanistan eine der höchsten Unterernährungsraten der Welt. Etwa 41% der Kinder unter fünf Jahren leiden unter chronischer Unterernährung. Sowohl Frauen als auch Kinder leiden an Vitamin- und Mineralstoffmangel (TWBG 10.2016). In den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen: Während die Müttersterblichkeit früher bei 1.600 Todesfällen pro 100.000 Geburten lag, belief sie sich im Jahr 2015 auf 324 Todesfälle pro 100.000 Geburten. Allerdings wird von einer deutlich höheren Dunkelziffer berichtet. Bei Säuglingen liegt die Sterblichkeitsrate mittlerweile bei 45 Kindern pro 100.000 Geburten und bei Kindern unter fünf Jahren sank die Rate im Zeitraum 1990 - 2016 von 177 auf 55 Sterbefälle pro 1.000 Kindern. Trotz der Fortschritte sind diese Zahlen weiterhin kritisch und liegen deutlich über dem regionalen Durchschnitt (AA 5.2018). Weltweit sind Afghanistan und Pakistan die einzigen Länder, die im Jahr 2017 Poliomyelitis-Fälle zu verzeichnen hatten; nichtsdestotrotz ist deren Anzahl bedeutend gesunken. Impfärzte können Impfkampagnen sogar in Gegenden umsetzen, die von den Taliban kontrolliert werden. In jenen neun Provinzen, in denen UNICEF aktiv ist, sind jährlich vier Polio-Impfkampagnen angesetzt. In besonder