Entscheidungsdatum
05.11.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W191 2172878-1/16E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.09.2017, Zahl 1094386805-151751265, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.04.2018 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 05.11.2019 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein, wurde mangels eines gültigen Aufenthaltstitels vorläufig festgenommen und stellte am 11.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage ergab keine Übereinstimmung bezüglich der erkennungsdienstlichen Daten des BF.
1.2. In seiner Erstbefragung am 11.11.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er nannte seine Personalia, sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem und ledig. Er sei im Iran geboren und aufgewachsen und habe acht Jahre die Schule besucht. Über Afghanistan könne er keine Angaben machen, er sei nie dort gewesen.
Seine Reise habe er vor ca. 45 Tagen begonnen und sei über Türkei, Griechenland und andere genannte europäische Länder schließlich nach Österreich gekommen.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er im Iran illegal aufhältig gewesen sei und ihm gedroht habe, entweder nach Afghanistan zurückkehren oder in den Krieg nach Syrien gehen zu müssen. In Afghanistan könnten Hazara nach Angabe seines Vaters nicht leben und daher habe dieser entschieden, dass der BF nach Europa gehen müsse. Alle seine Freunde hätten ihm gesagt, dass man in Österreich alle Möglichkeiten bekomme, deshalb sei er hierher gekommen.
1.3. Bei seiner Einvernahme am 06.09.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Regionaldirektion Steiermark, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi und seiner damaligen gesetzlichen Vertreterin, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben. Er sei im Iran zweimal festgenommen worden. Seinem Vater habe er als Tagelöhner geholfen, dieser habe auch die Ausreise finanziert. In Afghanistan habe er keine Angehörigen, im Iran seine Eltern und einen (älteren) Bruder.
Befragt nach seinen Fluchtgründen gab der BF an, dass er als Afghane im Iran keine Rechte habe. Er habe keine offizielle Schule besuchen können und sei immer wieder beleidigt worden. Vor 24 Monaten habe die iranische Behörde verkündet, dass alle illegal aufhältigen Afghanen entweder abgeschoben oder nach Syrien in den Krieg geschickt würden. Da seine Eltern Angst davor bekommen hätten, hätten sie ihn nach Europa geschickt. Er sei zweimal verhaftet worden und gegen Bezahlung von Schmiergeld freigekommen. Er sei drei- oder viermal geschlagen worden, weil er Afghane sei.
Seine Eltern stammten aus Ghazni und seien glaublich im Jahr 1996 vor den Taliban geflohen. Ein Cousin seines Vaters namens XXXX sei laut einem Fernsehsender am 21.11.2015 in Afghanistan von den Taliban geköpft worden, weil er Hazara und Schiit gewesen sei.
Dem BF verzichtete laut Niederschrift "auf eine Erörterung zur Situation im Herkunftsland". Angemerkt wurde, dass mit der rechtlichen Vertretung eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme von zwei Wochen vereinbart werde.
Zu seiner Integration brachte der BF vor, dass er Deutsch gelernt und für das Rote Kreuz und im Altersheim gearbeitet habe. Er spiele Fußball mit Freunden und mache auch Fitness. Laut Niederschrift sprach der BF Deutsch "auf mittlerem Niveau".
1.4. Mit offenbar von seiner damaligen gesetzlichen Vertreterin unterstützt erstelltem Schreiben vom 14.09.2017 nahm der BF zum "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan" (LIB) Stellung. Nach einer Zusammenfassung seines bisherigen Vorbringens im Verfahren machte der BF Einwendungen gegen jene Passagen des LIB, in denen Kabul, Herat und Mazar-e Sharif als sicher eingestuft wurden; dies entspreche in keiner Weise der Realität. Zitiert wurde aus einem Judikat des BVwG und aus Berichten von Thomas "Rutter" (gemeint offenbar Ruttig) zur Sicherheitslage in Kabul, zitiert wurde weiters aus diversen Berichten von UNHCR und von Medien zu Herat und Mazar-e Sharif (Balkh), zur Situation der Hazara und von Rückkehrern, zur Notwendigkeit von sozialen Netzen und zu besonderen Gefahren und Problemen für im Iran aufgewachsene Personen.
1.5. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 21.09.2017 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 11.11.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF "2 Wochen" (richtig: 14 Tage) ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Zu seinem Fluchtvorbringen wurde ausgeführt, dass das Fluchtvorbringen des BF bezüglich der Ausreise seiner Eltern vor ca. 40 bis 45 Jahren zeitlich nicht aktuell sei. Es entspreche zwar den Tatsachen, dass die Minderheit der Schiiten zu Zeiten der Taliban mit massiver Diskriminierung und zum Teil Bedrohungen konfrontiert gewesen sei. Aus den do. vorliegenden Länderinformationen gehe jedoch klar hervor, dass sich die Situation der Schiiten in den letzten Jahren wesentlich verbessert habe. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten kämen im Alltagsleben zwar vor, jedoch selten. Es gebe "keinen Beweis", dass bestimmte soziale Gruppen vom politischen Leben ausgeschlossen seien. Die allgemein gehaltenen und vagen, plausibel nicht nachvollziehbaren Angaben des BF bezüglich einer aktuellen Bedrohungssituation in Afghanistan seien daher nicht glaubhaft.
Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes nicht gegeben sei, da selbst wenn er seinen "Heimatort" nicht erreichen könnte, aus den vorhandenen Unterlagen hervorginge, dass "eine Ansiedelung in Kabul, Mazar-i Sharif, Jalalabad und Herat sogar für Personen ohne Beziehungen möglich" sei.
1.6. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 04.10.2017 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts sowie "Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften" ein.
In der Beschwerdebegründung wurde das Vorbringen des BF zusammengefasst wiederholt und moniert, dass dem BF, der im Iran aufgewachsen sei, eine Neuansiedelung in anderen Landesteilen, insbesondere in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, aufgrund fehlender familiärer oder sozialer Netzwerke nicht möglich sei. Belegt wurde dies mit Verweisen auf diverse Berichte, unter anderem auf den Artikel von Frau Friederike Stahlmann "Überleben in Afghanistan" von März 2017.
1.7. Mit Beschwerdeergänzung vom 13.04.2018 verwies der BF zunächst auf sein in der Einvernahme vor dem BFA gemachtes Vorbringen, wonach der Cousin seines Vaters am 21.11.2015 in Afghanistan von den Taliban entführt und anschließend geköpft worden sei. Auch der BF sei bei einer erzwungenen "Rückkehr" nach Afghanistan als Verwandter des Opfers in Gefahr. Das BFA habe dieses Vorbringen nicht berücksichtigt.
Weiters wurde moniert, dass aufgrund der Verschärfung der Situation in Afghanistan UNHCR derzeit eine Änderung der Richtlinien zum Schutzbedarf afghanischer "Asylsuchender" vorbereite, wonach nicht davon ausgegangen werden könne, dass eine Abschiebung nach Afghanistan und insbesondere Kabul derzeit, bedingt durch die angespannte Sicherheits- und Wirtschaftslage, möglich sei. Zitiert wurde weiters aus diversen Berichten und aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. Sarajuddin Rasuly vom 29.01.2018 (W107 2163759-1).
1.8. Das BVwG führte am 30.04.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi durch, zu der der BF persönlich in Begleitung einer Vertreterin und einer Vertrauensperson erschien.
Die belangte Behörde blieb der Verhandlung unentschuldigt fern.
Dabei gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Dari, aufgrund meines lebenslangen Aufenthaltes im Iran spreche ich aber besser Farsi.
RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?
D: Farsi.
RI befragt BF, ob er D gut verstehe; dies wird bejaht.
Zur heutigen Situation:
RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?
BF: Mir geht es grundsätzlich gut, ich habe aber etwas Stress, weil ich Angst habe, nach Afghanistan abgeschoben zu werden.
RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?
BF: Nein.
[...]
RI: Sind Sie im Hinblick auf § 52 Abs. 2 BFA-VG damit einverstanden, die mündliche Verhandlung in Abwesenheit Ihres Rechtsberaters durchzuführen? Haben Sie ihn ersucht, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen?
BF: Ich verzichte auf die Teilnahme meines Rechtsberaters. Ich habe ihn nicht ersucht, an der Verhandlung teilzunehmen. Meine gewillkürte Vertreterin (Vollmacht mündlich erteilt, ohne Zustellvollmacht) nimmt an der Verhandlung teil. Die von mir [zuvor] erteilten Vollmachten (VMÖ, MIVE) kündige ich auf.
[...]
Der BF hat bisher keine Bescheinigungsmittel zu seiner Identität oder zu seinem Fluchtvorbringen vorgelegt. Zu seiner Integration in Österreich hat er eine Vielzahl von Bescheinigungsmittel vorgelegt (Deutschkursbestätigungen, Werte- und Orientierungskurs, Rotes Kreuz - Grundkurs und freiwillige Mitarbeit; Mitarbeit in einem Altersheim, Mitgliedschaft in einem Chor, Mitgliedschaft in einem Fußballverein, externer Pflichtschulabschlusskurs, Empfehlungsschreiben).
Die BFV [Vertreterin des BF] legt vor ein Konvolut an Integrationsbelegen, das eingesehen und rückgereicht wird. Eine Kursbesuchsbestätigung (externer Pflichtschulabschlusskurs) sowie eine Bestätigung des Fußballvereines werden in Kopie zum Akt genommen.
[...]
Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen
Lebensumständen:
RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?
BF: Ja.
RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Hazara.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?
BF: Ich bin schiitischer Moslem.
RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Ich bin ledig und habe auch keine Kinder.
RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF: Ich habe bis zur achten Klasse eine afghanische Schule im Iran besucht, dafür aber keine Belege, so etwas gab es dort nicht. Ich habe keinen Beruf erlernt.
RI: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?
BF: Mein Vater hat gearbeitet. Er war ein einfacher Hilfsarbeiter.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein.
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ich verstehe Sie etwa zur Hälfte.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und flüssig, wenn auch fehlerhaft, auf Deutsch beantwortet hat. Laut einem vorgelegten Zertifikat von ALEA Lernforum (Land Steiermark) entsprach das Sprachkompetenzniveau des BF am 07.07.2017 A2. Aufgrund des Schulbesuchs wurden keine Deutschprüfungen gemacht.
VP [Vertrauensperson]: Meines Wissens beginnen im Juni 2018 die Prüfungen im externen Pflichtschulabschlusskurs.
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Ich bin derzeit in einem Pflichtschulabschlusskurs.
RI: Haben Sie Arbeit in Österreich? Gehen Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nach?
BF: Ich arbeite derzeit freiwillig einmal in der Woche beim Roten Kreuz. Weiter arbeite ich gelegentlich ehrenamtlich ca. einmal wöchentlich in einem Altersheim. In der Früh bis 14 Uhr besuche ich die Schule, danach besuche ich das Fitnessstudio. Danach bleibt nicht viel Zeit. Den Chor gibt es derzeit nicht mehr, da mehrere Mitglieder negative Asylbescheide bekommen haben.
RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Nein.
RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?
BF: Ja. Ich telefoniere mit meinen Eltern ein bis zwei Mal in der Woche.
RI: Wovon leben die Eltern?
BF: Mein Vater arbeitet nach wie vor als einfacher Hilfsarbeiter an Baustellen.
RI: Wie viele Geschwister haben Sie?
BF: Ich habe noch einen älteren Bruder, den ich aber bei der Ausreise mit mir zwischen Iran und Türkei aus den Augen verloren habe. Wir wissen nicht, wo er sich aufhält.
RI: Haben Sie Kontakte zu Verwandten in Afghanistan?
BF: Ich habe keine Verwandten in Afghanistan.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.
Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint? Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.
BF: Ja, das stimmt.
RI: Warum wurde der Cousin Ihres Vaters getötet?
BF: Er ist vom Iran nach Afghanistan abgeschoben worden. Der Bus mit ca. 28 Insaßen (schiitische Hazara) wurde von den Taliban aufgehalten. Ca. 20 Personen wurden wieder freigelassen, und die anderen wurden geköpft. Belege dafür habe ich keine.
BFV: Der Vorfall wurde in der von der VP verfassten Stellungnahme vom 14.09.2017 erwähnt.
VP zeigt RI auf sein Ersuchen die angeführten Vorfälle (Aktenseite 137 oben und 171 mitte).
RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?
BF: Wenn ich heute zurück nach Afghanistan gehen muss, sobald ich aus dem Flugzeug aussteige, werde ich aufgrund dessen, dass ich Hazara bin, von der Regierung und vom Volk dort aufgrund von Rassismus verfolgt.
Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.
Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.
RI folgt BFV Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihr die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.
Die Verhandlung wird um 10:40 Uhr kurz für eine Pause unterbrochen und um 10:45 Uhr fortgesetzt.
BFV: Ich habe Sie gebeten, noch einmal Kontakt mit Ihrem Vater aufzunehmen und ihn zu fragen, was konkret die Familie veranlasst hat, damals aus Afghanistan zu fliehen. Was konnten Sie dabei in Erfahrung bringen?
BF: Am Mittwoch war ich bei Ihnen, da habe ich meinen Vater noch nicht erreicht. Dadurch, dass mein Vater den ganzen Tag arbeitet, und durch den Zeitunterscheid zwischen Iran und Österreich habe ich es erst jetzt geschafft, meinen Vater heute in der Früh zu erreichen. Ich habe ihn gefragt, was der Auslöser für seine Flucht aus Afghanistan gewesen sei. Der Grund dafür ist, dass er Hazara ist und er Probleme mit den Taliban hatte. Er sagte, dass in Ghazni die Dörfer, unter anderem auch sein Dorf, von den Taliban angegriffen wurden. Es wurden dabei viele Dorfbewohner getötet. Mein Vater war nicht nur ein Dorfbewohner der Hazara, er war zusätzlich ein Mitglied der Hezb-e Wahdat. Die Taliban haben angekündigt, wenn sie ein Mitglied der Hezb-e Wahdat finden, würden sie es töten. Aus diesen Grund meinte mein Vater, dass er beschlossen hätte, in der Nacht aus Afghanistan in den Iran zu flüchten.
BFV: Was ist Ihre eigene Einstellung zu den Taliban?
BF: Die Taliban sind eine Gruppierung, die nur vom Islam redet, aber es ist nichts in ihren Taten vom Islam zu sehen. Wäre das so, hätten sie nicht Kinder, Frauen und allgemein alle Menschen getötet.
BFV: Haben Sie im Iran in einer sehr traditionellen afghanischen Comunity gelebt, oder haben die Leute schon lange im Iran gelebt?
BF: Die Iraner mögen Afghanen nicht. Sie bekommen immer die niedrigen Arbeiten und keine Bürojobs. Es waren jene Afghanen, die bereits im Iran geboren sind, sie waren nicht besonders religiös.
BFV: Sie wissen, dass der afghanische Staat, aber auch die afghanische Kultur sehr strenge Regeln für den Alltag der Menschen aufstellt, die verlangen, dass sich die Menschen an eine sehr strenge Auslegung des Islam halten. Was würde das für Sie bedeuten?
BF: Wenn ich zurückkehren würde, könnte ich dort nicht frei leben. Man kann dort keinen Alkohol trinken, mit dem anderen Geschlecht keinen Kontakt haben, sich nicht modern anziehen und die Haare so wie ich frisieren. Man würde auffallen, und sowohl die Menschen und auch die Polizei würden einem Schwierigkeiten machen.
BFV: Würde Ihnen das schwer fallen?
BF: Auf jeden Fall.
BFV: Der BF wäre in Afghanistan der maßgeblichen Gefahr ausgesetzt, Opfer der willkürlichen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Afghanistan zu werden. Eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Ghazni kommt schon aufgrund der Lage und der mangelnden sicheren Erreichbarkeit auf gar keinen Fall in Frage. Hinzu kommt, dass der BF Sohn eines Kämpfers in der Hezb-e Wahdat im damaligen Bürgerkrieg ist. Solche Personen sind bei einer Rückkehr in die Heimat gefährdet, von den damaligen Gegnern, sei es nach wie vor organisiert in den Talibangruppen oder privat, verfolgt zu werden. Diesbezüglich verweise ich auf die gutächtliche Stellungnahme des Sachverständigen Dr. Rasuly im Verfahren des BVwG und die dazu ergangene Entscheidung vom 21.05.2015 zur Zahl W174 1227561. Darin wurde gut begründet festgestellt, dass ein Sohn eines solchen Kämpfers bei einer "Rückkehr", selbst wenn er nie dagewesen ist, aufgrund der umfassenden sozialen Kontrolle in der Gesellschaft als solcher identifiziert werden würde und auch nach Jahrzehnten gefährdet wäre, Rache und Verfolgung ausgesetzt zu sein. Dem BF steht keine zumutbare interne Fluchtalternative zur Verfügung. Meiner Meinung nach besteht diese schon aus Sicherheitsgründen nicht, da dem Länderinformationsblatt und den Berichten der UNMA zufolge ein landesweiter nunmehr wieder traditioneller innerstaatlicher Konflikt mit hohen zivilen Opferzahlen besteht und gerade die Großstädte besonders hohe zivile Opferzahlen verzeichnen. Der BF wäre von der unsicheren Situation besonders betroffen, da er in Afghanistan schlecht orientiert [ist] und mangels sozialen Netzwerk und Familie den wichtigsten Schutz afghanischer Bürger vermisst. Im Übrigen würde er in dieser Situation auch kein annähernd "normales Leben ohne zumutbare Härten finden", sondern wäre im Gegenteil von Obdachlosigkeit, einem für ihn ohne Kontakte aussichtslosen Arbeitsmarkt, Hunger, Mangel an Trinkwasser, katastrophalen sanitären Umständen und Seuchen und faktisch mangelndem Zugang zu lebenserhaltender medizinischer Versorgung betroffen. Als Beweis dafür führe ich insbesonders den EASO-Bericht zu sozioökonomischen Umständen in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif aus 2017 an und lege weiters vor übersetzte Auszüge des Forschungspapiers "ASYLOS research for asylum Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul", aus August 2017", dann das offiziell freigegebene Handout der UNHCR-Präsentation vom 12.03.2018, das als aktuelle Meinungsäußerung des UNCHR im Simmer der VwGH Judikatur Indizwirkung entfaltet, dabei kommt UNCHR ausdrücklich zum Entschluss, dass Personen ohne Familienangehörige derzeit keine zumutbare und relevante interne Fluchtalternative in Afghanistan vorfinden (letzte Folie "Conclusions"). Ich bringe ein das Gutachten von Mag. Stahlmann vom 28.03.2018 (Seite 1-8 des Gutachtens sowie eine 12 seitige zusammenfassende Stellungnahme) und schließlich zwei kurze Zusammenstellungen aus Länderinformationen, aus denen hervorgeht, dass die Annahme, wonach Kabul vergleichweise sicher sei, durch die Länderinformationen nicht gestützt sei und dass sehr wohl Zivilistinnen gezielt angegriffen werden.
Dem BF wird über sein Ersuchen eine Frist von - zwei Monaten - zur Nachbringung von Belegen über seinen Aufenthalt im Iran und insbesondere zur Zugehörigkeit seines Vaters zur Hezb-e Wahdat nachzubringen.
Ermittlungsermächtigung:
RI: Sind Sie damit einverstanden, dass entsprechend den vom Bundesverwaltungsgericht zu treffenden Anordnungen in Ihrem Herkunftsstaat allenfalls Erhebungen unter Verwendung Ihrer personenbezogenen Daten durchgeführt werden, wobei diese jedenfalls nicht an staatliche Stellen Ihres Herkunftsstaates weitergegeben werden?
BF: Ja.
RI befragt BF, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.
RI befragt BF, ob er D gut verstanden habe; dies wird bejaht. [...]
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
1.9. Mit ergänzender Eingabe vom 29.06.2018 legte die Vertreterin des BF für diesen ein Schriftstück in Kopie vor, das der ergänzend vorgelegten Arbeitsübersetzung zufolge eine Bestätigung der islamischen Wahdat-Partei darstellt (ohne Datum), mit dem Inhalt, dass der Vater des BF jahrelang für die Partei spektakuläre Aktivitäten durchgeführt und nichts gescheut habe, um die Ideologie der Partei zu unterstützen. Er habe am 25.05.1375 (umgerechnet 15.08.1996) Afghanistan verlassen.
1.10. Mit weiterer ergänzender Eingabe seiner Vertreterin vom 13.09.2018 legte der BF Beweismittel für seinen langjährigen Aufenthalt im Iran vor (Mietvertrag aus 2012 samt Arbeitsübersetzung seines Inhaltes, das der BF von seiner Familie via Smartphone erhalten habe).
Auch diese Eingaben wurden dem BFA übermittelt.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 11.11.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 14.09.2017 sowie die Beschwerde vom 04.10.2017
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 183 bis 235)
* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 30.04.2018 sowie Einsicht in das in der Verhandlung vorgelegte Konvolut von Integrationsbelegen (eine Pflichtschulabschlusskurs-Bestätigung sowie eine Bestätigung eines Fußballvereines wurden in Kopie zum Akt genommen)
* Einsicht in folgende in der Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Ghazni (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, zuletzt aktualisiert am 30.01.2018)
o Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016, Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016
o Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 06.08.2013, HCR/EG/AFG/13/018, zu: "In Blutfehden verwickelte Personen"
o Artikel in Asylmagazin 3/2017 "Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" von Friederike Stahlmann
o Auszug aus einer Anfragebeantwortung von ACCORD zur Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen (u.a. mögliche Ausgrenzung oder Belästigungen); Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren, vom 12.06.2015 (a-9219), sowie
o Auszug aus einer gutächtlichen Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. Sarajuddin Rasuly (vom 13.06.2012 im Verfahren vor dem Asylgerichtshof C15 410.319-1/2009) zum Vorbringen der Verfolgung durch die Taliban
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX, geboren am XXXX, ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht aufgrund seines lebenslangen Aufenthaltes im Iran aber besser Farsi.
3.1.2. Lebensumstände:
Der Vater des BF war Mitglied der Hezb-e Wahdat-Partei und ist im Jahr 1996 aus Afghanistan (Ghazni) in den Iran geflüchtet, wo der BF geboren wurde und mit seinen Eltern und seinem Bruder lebte. Die Familie des BF war illegal im Iran aufhältig und von Ausweisung nach Afghanistan (oder Einziehung der Söhne in den Krieg nach Syrien) bedroht. Der Vater sorgte als Hilfsarbeiter/Tagelöhner für den Unterhalt der Familie. Der BF besuchte acht Klassen einer afghanischen Schule im Iran und half dem Vater bei seiner Arbeit. Er verfügt über keine abgeschlossene Ausbildung und keine Fachkenntnisse in einem bestimmten Berufsfeld. Die Familie ist nicht wohlhabend und nicht in der Lage, den BF im Falle der Rückkehr nach Afghanistan zu unterstützen.
3.1.3. Der BF hat sich nie in Afghanistan aufgehalten. Er ist, da er im Iran aufgewachsen ist, nicht so mit den kulturellen Gepflogenheiten, Traditionen und Ritualen seines Herkunftsstaates vertraut, wie es auf Personen seines Alters zutrifft, die in Afghanistan aufgewachsen sind. Der BF verfügt über keine Ortskenntnisse in Afghanistan.
Der BF wurde als schiitischer Muslim geboren. Er ist als junger Mann vor bald drei Jahren nach Europa gekommen und hat zu einem gewissen Grad Denk- und Verhaltensweisen angenommen, die in Europa verbreitet sind und der gängigen Denk- und Verhaltensweise in Afghanistan widersprechen, so etwa im Hinblick auf die Befürwortung der Gleichstellung und -berechtigung von Mann und Frau, die freie Auswahl einer Religion oder Lebensgewohnheiten (wie Essen, Trinken, Kleidung, Frisur und Freizeitgestaltung).
Er verließ im September 2015 den Iran und stellte am 11.11.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, wobei er den Reiseweg relativ detailliert angab. Auch sein Bruder ist aus dem Iran nach Europa geflüchtet, der BF hat ihn aber aus den Augen verloren.
3.1.4. Der BF verfügt über keine Verwandten oder Bekannten in Afghanistan. Weder er noch seine Eltern halten Kontakt zu in Afghanistan lebenden Menschen. Er verfügt über keine aufrechten familiären oder sonstigen sozialen Kontakte in Afghanistan.
Ein Cousin des Vaters des BF ist Medienberichten zufolge am 21.11.2015 nach seiner Abschiebung nach Afghanistan in einem Bus von Taliban aufgehalten worden. Ca. 20 Personen wurden wieder freigelassen, der Cousin des Vaters wurde als einer von acht Personen geköpft.
3.1.5. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Er ist um seine Integration in Österreich bemüht und zeitigt dabei beachtliche Erfolge. Er besuchte Deutschkurse, einen Werte- und Orientierungskurs, einen Pflichtschulabschlusskurs, einen Rotes Kreuz-Grundkurs, arbeitet ehrenamtlich beim Roten Kreuz und in einem Altersheim mit, war Mitglied in einem Chor und ist Mitglied eines Fußballvereines. Er verfügt über mehrere Empfehlungsschreiben von österreichischen Bekannten.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF hat den Iran aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen für dort illegal aufhältige Afghanen sowie aus Angst vor Abschiebung nach Afghanistan oder Einzug in den Krieg in Syrien verlassen.
3.2.2. Der BF2 konnte nicht glaubhaft vermittelt, dass er in seinem Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt war. Er hat eigene Fluchtgründe nicht hinreichend schlüssig vorgebracht.
Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nicht politisch tätig und gehörte nicht einer politischen Partei an.
3.2.3. Der BF hat sein Vorbringen, dass ihm als Angehörigen der Volksgruppe der Hazara sowie als schiitischen Moslem Verfolgung drohe, bzw. dass jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara sowie schiitische Muslim in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre, nicht glaubhaft gemacht.
3.2.4. Der BF hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihm als Angehörigen der sozialen Gruppe seiner Familie Verfolgung seitens der Taliban drohe.
3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen (siehe oben Punkt 3.2.) ausgesetzt wäre.
3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer "Rückkehr" in die Herkunftsprovinz seines Vaters Ghazni ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Eine Rückkehr und Ansiedelung außerhalb der Herkunftsprovinz seines Vaters, insbesondere in der Stadt Kabul, ist dem BF aufgrund seiner individuellen Umstände nicht zumutbar. Der BF verfügt in Afghanistan über kein familiäres Netzwerk, mit dessen Unterstützung ihm der Aufbau einer Existenzgrundlage möglich wäre. Auch von einer (finanziellen) Unterstützung des BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan durch seine Familie kann nicht ausgegangen werden, da diese vorrangig den eigenen notwendigen Lebensunterhalt zu bestreiten hat.
Da sich der BF zudem noch nie in Afghanistan aufgehalten hat und mit den örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten sowie den dortigen Lebensgewohnheiten nicht vertraut ist, wäre er unter äußerst schwierigen Bedingungen völlig auf sich alleine gestellt. Verstärkend kommt hinzu, dass der BF im Iran geboren und aufgewachsen ist und sozialisiert wurde und anhand seiner Aussprache deutlich erkennbar ist, dass er einen langen Zeitraum im Iran gelebt haben muss, sodass auch dadurch von einer erschwerten Eingliederung in die ortsansäßige afghanische Gesellschaft auszugehen ist. In diesem Zusammenhang kommt des Weiteren hinzu, dass der BF als junger Mann nach Europa gekommen ist, hier nunmehr bald drei Jahre lebt und sich um seine Integration sehr bemüht zeigt und beachtliche Erfolge darin aufweist.
Die beim BF vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan, insbesondere in Kabul, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedelung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
3.4.1. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 11.09.2018, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).
Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).
[...]
2. Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)
[...]
Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).
[...]
Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).
[...]
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und