TE Bvwg Erkenntnis 2018/11/5 W191 2146109-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.11.2018
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Entscheidungsdatum

05.11.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W191 2146109-1/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.12.2016, Zahl 1044658109-140143460, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.05.2018 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 05.11.2019 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein. Er stellte am 05.11.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der BF am 12.08. und 08.10.2014 in Bulgarien erkennungsdienstlich behandelt worden war.

1.2. In seiner Erstbefragung am 06.11.2014 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Wien, Polizeianhaltezentrum (PAZ) Breitenfeldergassse, gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu im Wesentlichen Folgendes an:

Er sei am XXXX geboren, stamme aus XXXX , Distrikt Kelagai (Provinz Baghlan), sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Moslem und ledig. Er spreche Paschtu, Dari und ein wenig Englisch und habe fünf Jahre lang in seinem Heimatdorf die Grundschule besucht.

Seine drei jüngeren Brüder lebten nun in Jalalabad bei den Onkeln mütterlicherseits.

Er habe Afghanistan vor ca. zwei Monaten Richtung Pakistan verlassen und sei über Iran und Türkei nach Bulgarien in die EU eingereist. Über Serbien und Ungarn sei er weiters schließlich bis nach Österreich gelangt. Die Reise habe sein Onkel mütterlicherseits organisiert.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass sein Vater heimlich für die Regierung tätig gewesen sei. Als die Taliban davon erfahren hätten, hätten sie ihn am 25.09.2014 mit Raketenbeschuss auf sein Auto getötet. Am folgenden Tag hätte das Begräbnis stattgefunden, wo auch der BF mit dem Tode bedroht worden sei. Als er dies seiner Mutter erzählt habe, habe sie beschlossen, gemeinsam mit seinen drei jüngeren Brüdern zu seinem Onkel mütterlicherseits nach Jalalabad zu verziehen, wo seine herzkranke Mutter an einem Herzinfarkt verstorben sei.

Da er nach dem Tod seiner Eltern ganz auf sich allein gestellt gewesen sei, habe er Afghanistan verlassen.

1.3. Aufgrund des Ergebnisses der EURODAC-Abfrage führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) bezüglich der Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF Konsultationen gemäß Dublin-Übereinkommen mit dem Mitgliedstaat Bulgarien, die negativ verliefen.

1.4. Das BFA hatte offenbar Zweifel an dem vom BF angegebenen Geburtsdatum XXXX (siehe etwa das im Verwaltungsakt einliegende Schreiben von RÖNTGEN AM RING vom 26.11.2014 über das Ergebnis eines Handröntgens) und veranlasste eine sachverständige medizinische Altersschätzung.

Nach dem Ergebnis des medizinischen Sachverständigengutachtens vom 25.03.2015 unter Berücksichtigung des Handröntgenbefundes und einer multifaktoriellen Untersuchung am 11.03.2015 (Anamnese, Orthopantomogramm und zahnärztlicher Befund, Dünnschicht-CT der Sternoclavikularregion, körperliche Untersuchung) war das angegebene Lebensalter mit der erhobenen Befundlage nicht vereinbar. Als spätestmögliches fiktives Geburtsdatum wurde der XXXX festgestellt.

Mit Verfahrensanordnung vom 26.05.2015 setzte das BFA das Geburtsdatum des BF mit XXXX fest.

1.5. Mit Schreiben vom 16.11.2015 teilte der vormalige anwaltliche Vertreter des BF seine Bevollmächtigung mit.

1.6. Bei seiner Einvernahme am 12.07.2016 vor dem BFA, Regionaldirektion Salzburg, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu (ohne seinen damaligen anwaltlichen Vertreter), bestätigte der BF im Wesentlichen die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben und machte kleinere Korrekturen gegenüber der Niederschrift. Er gab an, er verstehe gut Deutsch und besuche seit acht bis neun Monaten einen Deutschkurs.

Sein Heimatdorf heiße XXXX , sein verstorbener Vater XXXX . Seine jüngeren Brüder würden beim Onkel mütterlicherseits in Jalalabad leben.

Der BF machte Angaben zu seinem Fluchtvorbringen. Sein Vater sei seinerzeit Mitglied der kommunistischen Regierung gewesen und habe in Russland studiert. Der BF schilderte in groben Zügen die Ermordung seines Vaters und den anschließenden Herztod seiner Mutter.

Nach dem Tod seines Vaters sei eine unbekannte Person zu ihm gekommen und habe gesagt, dass er mit den Taliban zusammenarbeiten und mit ihnen gehen müsse. Er habe dann mit den Dorfältesten gesprochen, die gebeten hätten, dass der BF mit seiner Familie das Dorf verlasse. Polizisten seien nur auf den Hauptstraßen präsent und könnten auf Nebenstraßen - wie schon seinem Vater - keine Sicherheit geben.

Auch in einer Moschee in Jalalabad sei er vom Mullah aufgefordert worden, die Stadt zu verlassen. Die Taliban würden auch in die Moschee kommen. Was sein Vater von Beruf genau gewesen sei, wisse er nicht. Er sei als Polizist in Zivilkleidung unterwegs gewesen und habe Informationen über die Mitbürger gesammelt.

Dem BF wurden laut Niederschrift "mit Quellenangaben versehene landeskundliche Feststellungen zum Staat Afghanistan" ausgehändigt und die Möglichkeit eingeräumt, dazu binnen zwei Wochen eine Stellungnahme auf Deutsch abzugeben.

1.7. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 22.12.2016 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 05.11.2014 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF "2 Wochen" (richtig: 14 Tage) ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Sein Fluchtvorbringen habe der BF nicht glaubhaft machen können. Er habe sein Vorbringen im Zuge des Verfahrens deutlich verändert und gesteigert, und es erscheine mehrfach unstimmig bzw. unplausibel. Der BF sei Paschtune und könne sich auf seine Clanstrukturen abstützen. Sein Vorbringen reiche nicht aus, um Asylrelevanz zu erreichen.

Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seine Herkunftsprovinz zwar eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes gegeben sei. Ihm als Angehörigen der Mehrheitsvolksgruppe der Paschtunen sei es aber möglich und zumutbar, Zuflucht in Kabul zu nehmen.

1.8. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines damaligen anwaltlichen Vertreters vom 04.01.2017 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und "Verletzung von Verfahrensvorschriften" ein.

In der Beschwerdebegründung wurde das Vorbringen des BF zusammengefasst wiederholt und versucht, dessen Beurteilung durch das BFA in der Beweiswürdigung in einzelnen Punkten zu entkräften. Der Beschwerde waren diverse Berichte zu Afghanistan, zum Teil in englischer Sprache, angeschlossen.

1.9. Mit Schreiben seines vormaligen anwaltlichen Vertreters vom 21.10.17 ersuchte der BF um Bekanntgabe eines Verhandlungstermins bis Ende November, ansonsten er einen Fristsetzungsantrag stellen wolle.

1.10. Mit Schreiben seines vormaligen anwaltlichen Vertreters vom 04.12.2017 stellte der BF einen Antrag auf Fristsetzung und Verfahrenshilfe beim BVwG, das den Antrag auf Fristsetzung mit Beschluss vom 05.12.2017, W191 2146109-1/5E, als unzulässig zurückwies. Den Antrag auf Gewährung der Verfahrenshilfe legte das BVwG dem Verwaltungsgerichtshof (in der Folge VwGH) vor, der diesen Antrag mit Beschluss vom 08.01.2018, Fr 2017/20/0064-2 zurückwies.

1.11. Der vormalige anwaltliche Vertreter des BF erkundigte sich am 16.02.2018 telefonisch beim BVwG telefonisch über den Verfahrensstand und stellte mit Schreiben vom 15.02. bzw. 19.02.2018 neuerlich einen Verfahrenshilfe- und Fristsetzungsantrag.

Der VwGH trug dem BVwG mit Verfahrensleitender Anordnung vom 28.02.2018 auf, binnen drei Monaten eine Entscheidung zu erlassen oder anzugeben, warum eine Verletzung der Entscheidungspflicht nicht vorliege.

1.12. Das BVwG beraumte für 18.06.2018, später geändert auf 14.05.2018, eine öffentliche mündliche Verhandlung an.

1.13. Mit Schreiben vom 30.04.2018 teilte der vormalige anwaltliche Vertreter des BF mit, dass sein Vollmachtsverhältnis aufgelöst sei.

1.14. Mit Schreiben vom 11.05.2018 teilte die nunmehrige Vertreterin des BF im Hinblick auf die Ladung zur Verhandlung ihre Bevollmächtigung mit und verwies vorab zum Länderinformationsblatt der Staatendokumentation auf das Gutachten von Friederike Stahlmann vom 28.03.2018 vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden unter Angabe der Internetadresse.

Hingewiesen wurde insbesondere auf die Entscheidung des französischen nationalen Asylberufungsgerichts vom 09.03.2018, wonach die Situation in Kabul die Gewährung von subsidiärem Schutz verlange, weiters darauf, dass die Taliban derzeit so viele Gebiete in Afghanistan kontrollierten wie noch nie seit ihrem Sturz im Jahr 2001, und schließlich darauf, dass der BF über keine familiären oder alternativen Netzwerke verfüge, von denen er im Falle einer Rückkehr Unterstützung erwarten könnte, über eine nur rudimentäre Schulbildung und keine spezielle Berufsausbildung oder -kenntnisse verfüge, somit besonders vulnerabel sei, und ihm daher keine interne Schutzalternative in Kabul oder in anderen Landesteilen zugemutet werden könne.

Auch die stellvertretende Leiterin des UNHCR-Büros in Kabul hätte die Verhältnisse in Afghanistan bei einer Präsentation beim BVwG am 12.03.2018 so dargestellt.

1.15. Das BVwG führte am 14.05.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF persönlich in Begleitung seiner Vertreterin erschien.

Die belangte Behörde blieb der Verhandlung ohne Angabe von Gründen fern.

Dabei gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

"[...]RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?

BF: Paschtu. Ich spreche darüber hinaus auch Urdu, Farsi, Dari und auch ein bisschen Englisch.

RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?

D: Paschtu.

RI befragt BF, ob er D gut verstehe; dies wird bejaht.

Zur heutigen Situation:

RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?

BF: Ja, es geht mir heute gut.

RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?

BF: Ich war vor ca. zwei oder drei Monaten in Salzburg bei einem Neurologen, weil ich vergesslich geworden bin. Er hat mir Medikamente gegeben, von denen ich einmal am Tag eine Tablette genommen habe. Ich bin seit ca. drei Jahren in Österreich, und es geht mir jetzt schlechter als vorher Zuhause, vielleicht weil ich mir zu viele Sorgen mache.

[...]

BF: Ich habe meine Rechtsberaterin zu meiner Vertretung bevollmächtigt, sie nimmt an der Verhandlung teil. Ich habe das Vollmachtsverhältnis mit meinem Rechtsanwalt aufgelöst, weil es zu teuer war.

[...]

Der BF hat bisher keine Bescheinigungsmittel zu seiner Identität oder zu seinem Fluchtvorbringen vorgelegt und hat auch heute keine bei sich.

BF: Bezüglich meiner Integration hatte ich eine Bestätigung über einen Alphabetisierungskurs, den ich aber in meiner alten Asylunterkunft liegen lassen habe und die dort offenbar entsorgt worden ist. Ich bin jetzt in einem Deutschkurs A1 angemeldet, der erste Tag ist heute, er findet wöchentlich Montag und Mittwoch statt. Ich bin vor ca. zwei Monaten von St. Martin in eine Asylunterkunft in Seekirchen übersiedelt, weil es mir dort nicht gefallen hat, es war zu ländlich. Nach St. Martin war ich nach dem Vorfall mit dem Cannabis verlegt worden, nachdem ich dazwischen einmal ca. neun Tage und einmal ca. fünf Tage auf der Straße in Salzburg gelebt habe.

[...]

Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen

Lebensumständen:

RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?

BF: Ja, die Daten stimmen, ich wurde zu einer Untersuchung geschickt, bei dieser Untersuchung wurde festgestellt, dass ich damals 22 Jahre alt war. Ich hatte das Alter angegeben, das mir meine Mutter gesagt hat. Wegen meines Alters habe ich auch einmal von der Polizei mit einem Zettel eine Strafe von 50,00 Euro bekommen.

RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF: Paschtune.

RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?

BF: Sunnitischer Moslem.

RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?

BF: Nein.

RI: Sind Sie verlobt, oder beabsichtigen Sie, in nächster Zeit zu heiraten?

BF: Nein.

RI: Haben Sie Kinder?

BF: Nein.

RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF: In unserem Gebiet gab es keine spezielle Berufung. Ich habe eine Dorfschule von der ersten Klasse bis zur vierten Klasse besucht. Nebenbei habe ich manchmal in der Landwirtschaft gearbeitet.

RI: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?

BF: Mein Vater hat für die Regierung beim Geheimdienst gearbeitet.

RI: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?

BF: Nein.

Zur derzeitigen Situation in Österreich:

RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?

BF: Nein.

RI: Haben Sie Kontakt zu Österreichern? Haben Sie in Österreich wichtige Kontaktpersonen, und wie heißen diese?

BF: Ja, sehr viele. Als ich in Bad Hofgastein gelebt habe, hatte ich sehr viele Freunde. Mit diesen Freunden habe ich dort Fußball gespielt.

RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.

RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?

BF: Wenn Sie langsam sprechen, verstehe ich Sie gut.

RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen teilweise verstanden und teilweise gebrochen auf Deutsch beantwortet hat.

RI: Haben Sie Arbeit in Österreich? Gehen Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nach? Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach? Wie ist Ihr Tagesablauf?

BF: Ich stehe in der Früh auf, machmal gehe ich dann Spazieren, und manchmal treffe ich mich mit Menschen aus dem Dorf. Wir haben keine besondere Beschäftigung dort, wir treffen uns mit den Menschen und sitzen auf der Wiese. Ich habe Fußball gespielt. Weil ich in einer neuen Unterkunft bin, spiele ich seit ca. drei oder vier Monaten nicht mehr, ich habe auch trainiert im Fitnessstudio.

RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?

BF: Nein. Nach dem Vorfall mit dem Cannabis habe ich das bei der Polizei gleich zugegeben. Ich habe es vorher eingekauft, nichts davon aber verkauft. Ich habe seither in dieser Angelegenheit nichts mehr von einer Behörde gehört.

RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?

BF: Nein. Ich hatte einmal Kontakt zu meinem Onkel mütterlicherseits, das war ca. vor einem Jahr, nach dem Erhalt meines negativen Bescheides. Ich habe den Onkel gefragt, ob er noch in Jalalabad lebt. Er sagte nein, er lebe nicht in Jalalabad, sondern er wechsle seine Wohnadresse immer wieder, er sei keine so wichtige Person, dass er auffindbar wäre. Er sei ein Hilfsarbeiter.

RI: Wo leben Ihre drei jüngeren Brüder?

BF: Einer meiner Brüder ist in den Iran gereist. Zwei weitere Brüder leben bei meinem Onkel mütterlicherseits. Das habe ich von meinem Onkel erfahren, als ich einmal mit ihm telefonischen Kontakt hatte.

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.

Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint? Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.

BF: Ich habe jetzt mehr Angst als zuvor, wegen einer möglichen Abschiebung nach Afghanistan. Die Taliban könnten mich binnen einem halben Tag ausfindig machen und umbringen. Ein Freund von mir wurde nach Afghanistan abgeschoben. Ich habe sehr viel Angst vor einer etwaigen Rückführung nach Afghanistan, ich fürchte mich vor den Taliban, sie könnten mich unmittelbar finden.

RI: Warum sind die Taliban so interessiert an Ihnen?

BF: Die Taliban haben sehr viel Interesse an mir, weil mein Vater im Geheimdienst der Regierung gearbeitet hat. Die Lage in Baghlan ist nicht gut. Die Gebiete auf der anderen Seite des Flusses werden von den Taliban beherrscht.

RI: Ist Ihre Mutter wirklich gleich nach dem Begräbnis Ihres Vaters gestorben?

BF: Ja.

RI: Warum haben Sie für Ihr Vorbringen keinerlei Belege?

BF: Ich wusste nicht, dass man in Österreich solche Dokumente bzw. Beweismittel brauchen würde. Hätte ich das gewusst, hätte ich sehr viele Beweismittel über mein Vorbringen beschaffen können.

RI: Was hätten Sie denn beschaffen können?

BF: Z.B. die Tazkira meines Vaters, das wäre zumindest ein Indiz, dass ich der Sohn dieses Mannes bin. Auch eine Bestätigung hätte ich beschaffen können über seine Tätigkeit bei der Regierung.

Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.

Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.

RI folgt BFV [Vertreterin des BF] Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihr die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.

Die Verhandlung wird um 10:15 Uhr zur internen Beratung zwischen BF und BFV unter Beiziehung des D unterbrochen und um 10:40 Uhr wieder fortgesetzt.

BFV: Zu den Länderberichten verweise ich auf die Stellungnahme, die bereits eingebracht worden ist. Demnach ist eine IFA keineswegs gegeben für den BF. Ich möchte auch auf seine psychische Situation verweisen, der BF wirkt auf mich sehr zermürbt und antriebslos.

RI hält fest, dass auch für ihn die Aussage des BF anlässlich der Überprüfung seiner Deutschkenntnisse, dass er die Abfahrtszeit des Zuges nicht gekannt habe, ein Indiz für eine allfällige Antriebslosigkeit sein könnte.

BFV: Wir haben die Situation bezüglich des Fluchtvorbringens des BF besprochen. Er gibt an, dass ihn die Beibringung etwa einer Zeugenaussage des Dorfältesten oder die Bestätigung einer Regierungsstelle viel Geld und Aufwand kosten würde, was er, zumal er keinen Kontakt mehr nachhause hat, sich nicht leisten könnte.

Nach Diskussion mit RI und BFV zieht der BF seinen Fristsetzungsantrag zurück.

BFV: Ich ersuche um die Einräumung einer Frist von sechs Monaten zur allfälligen Vorlage von Belegen bezüglich der Person und des Fluchtvorbringens des BF, bezüglich seiner Integration, vor allem aber bezüglich seines Gesundheitszustandes.

Dem BF wird eine Frist von - sechs Monaten - zur Vorlage dieser Unterlagen eingeräumt.

Ermittlungsermächtigung:

RI: Sind Sie damit einverstanden, dass entsprechend den vom Bundesverwaltungsgericht zu treffenden Anordnungen in Ihrem Herkunftsstaat allenfalls Erhebungen unter Verwendung Ihrer personenbezogenen Daten durchgeführt werden, wobei diese jedenfalls nicht an staatliche Stellen Ihres Herkunftsstaates weitergegeben werden?

BF: Ja.

RI befragt BF, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.

RI befragt BFV, ob sie noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.

RI befragt BF, ob er D gut verstanden habe; dies wird bejaht. [...]"

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

1.16. Das BVwG übermittelte dem VwGH die Verhandlungsschrift vom 14.05.2018, in der der BF seinen Fristsetzungsantrag zurückgezogen hatte.

Mit Beschluss vom 24.05.2018, Fr 2018/19/0007-7 erklärte der VwGH den Fristsetzungsantrag als gegenstandslos geworden und stellte das Verfahren ein.

1.17. Mit ergänzender Eingabe vom 01.08.2018 legte der BF eine Spracheinstufung der Volkshochschule Salzburg vom 24.05.2018 sowie ein Schreiben eines Arztes für Allgemeinmedizin vom 17.07.2018 vor, demzufolge beim BF eine posttraumatische Belastungsstörung bestehe und eine psychologische Behandlung und Therapie aus medizinischer Sicht dringend erforderlich sei. Medikamente würden eingenommen.

Mit weiterer ergänzender Eingabe vom 10.08.2018 legte der BF Belege samt Briefumschlag aus Afghanistan für sein Verfolgungsvorbringen vor:

* Schreiben des "Afghanistan Ministerium Sicherheitskräfte von Baghlan" mit Foto seines Vaters, wonach ein Auto mit einem bestimmten Kennzeichen dem namentlich genannten Vater des BF, Mitarbeiter der Sicherheitskräfte von Baghlan, gehöre. Falls er wohin fahren wolle, solle man ihn nicht "stören", bei Schwierigkeiten eine angegebene Mobiltelefonnummer anrufen.

* Vier Bestätigungen von Dorfältesten von XXXX , dass der Vater des BF von Taliban ermordet und auch der BF von ihnen bedroht worden sei, jeweils versehen mit mehreren Stempeln

Beide Eingaben wurde dem BFA übermittelt.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 06.11.2014 und der Einvernahme vor dem BFA am 12.07.2016, das medizinische Sachverständigengutachten zur Altersschätzung des BF vom 25.03.2015 sowie die Beschwerde vom 04.01.2017

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie Auszug aus "BFA Staatendokumentation: AfPak - Grundlagen der Stammes-Clanstruktur, Juli 2016", Aktenseiten 233 bis 309)

* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 14.05.2018

* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Baghlan (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, zuletzt aktualisiert am 30.01.2018)

o Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016 und Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016

o Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. Sarajuddin Rasuly in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009 und

o Artikel in Asylmagazin 3/2017 "Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" von Friederike Stahlmann

* Einsicht in die innerhalb der gewährten Nachfrist mit Schreiben vom 17.07.2018 bzw. 10.08.2018 zur Gesundheit, zur Integration und zum Fluchtvorbringen des BF nachträglich vorgelegten Schriftstücke

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch Dari und Urdu.

3.1.2. Lebensumstände:

Der BF lebte bis September 2014 gemeinsam mit seinen Eltern und drei jüngeren Brüdern in XXXX , Distrikt XXXX (Provinz Baghlan), besuchte dort vier Klassen die Grundschule und arbeitete nebenbei in der Landwirtschaft. Die Familie lebte vom Gehalt seines Vaters für seine Tätigkeit beim Geheimdienst.

Der BF verließ nach dem angegebenen Tod seines Vaters gemeinsam mit seiner Mutter und seinen drei Brüdern sein Heimatdorf und zog nach Jalalabad zum Onkel mütterlicherseits, wo seine herzkranke Mutter einige Tage später an einem Herzinfarkt ebenfalls starb.

Der BF verließ aus angegebenen Gründen Afghanistan und reiste ein Monat später über Pakistan, Iran und Türkei nach Europa, wo er über Bulgarien, Serbien und Ungarn schließlich bis nach Österreich gelangte und gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.1.3. Sein Onkel lebt mit zwei seiner Brüder nach wie vor in Afghanistan und wechselt immer wieder seine Wohnadresse, einer der Brüder ist in den Iran gereist. Der BF hat mit dem Onkel keinen ständigen Kontakt und verfügt in Afghanistan auch nicht über weitere familiäre oder sonstige soziale Anknüpfungspunkte. Er hat sich nicht in Kabul aufgehalten.

3.1.4. Der BF leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Laut ärztlicher Bestätigung vom 17.07.2018 sind eine psychologische Behandlung und Therapie aus medizinischer Sicht dringend erforderlich, Medikamente werden eingenommen.

3.1.5. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF hat sein Vorbringen, dass ihm als Angehörigen der Familie seines Vaters konkret und individuell Verfolgung drohe, nicht glaubhaft gemacht, und konnten somit asylrelevante Gründe des BF für das Verlassen seines Heimatstaates nicht glaubhaft gemacht werden.

3.2.2. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nicht politisch tätig und gehörte nicht einer politischen Partei an.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.

3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Baghlan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Eine Rückkehr und Ansiedelung außerhalb seiner Herkunftsprovinz, etwa in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat ist dem BF aufgrund seiner individuellen Umstände nicht zumutbar. Der BF verfügt in Afghanistan über kein familiäres Netzwerk, mit dessen Unterstützung ihm der Aufbau einer Existenzgrundlage möglich wäre. Auch von einer (finanziellen) Unterstützung des BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan durch seinen Onkel mütterlicherseits kann nicht ausgegangen werden, da zum einen kein ständiger Kontakt mehr besteht und sein Onkel selbst regelmäßig seine Wohnadresse ändert.

Da sich der BF zudem noch nie in Kabul aufgehalten hat und mit den örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten sowie den dortigen Lebensgewohnheiten nicht vertraut ist, wäre er unter äußerst schwierigen Bedingungen völlig auf sich alleine gestellt. In diesem Zusammenhang kommt des Weiteren hinzu, dass der BF als junger Erwachsener nach Europa gekommen ist, hier nunmehr bald vier Jahre lebt und nicht gesund ist.

Die beim BF vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan, insbesondere in Kabul, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedelung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

3.5.1. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 11.09.2018, Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).

Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).

[...]

2. Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)

[...]

Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).

[...]

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).

[...]

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).

Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.02.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.02.2018).

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.02.2018, NZZ 21.03.2018, UNGASC 27.02.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.03.2018).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 01.06. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.02.2018; vgl. Slate 22.04.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.03.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.03.2018).

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.01.2018; vgl. BBC 29.01.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.01.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interess

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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