TE Bvwg Erkenntnis 2018/11/7 W191 2200317-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.11.2018
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Entscheidungsdatum

07.11.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W191 2200317-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde der minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ihre Mutter XXXX , geboren am XXXX , diese vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Wolfgang Auner, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.06.2018, Zahl 1101057306-180517113, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.10.2018 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Die Beschwerdeführer (in der Folge BF), Frau XXXX , geboren XXXX (BF1), ihr Ehemann XXXX , geboren am XXXX (BF2), ihr mittlerweile volljähriger gemeinsamer Sohn XXXX , geboren am XXXX (BF3), ihre minderjährigen Söhne XXXX , geboren am XXXX (BF4), XXXX , geboren am XXXX (BF5), und XXXX , geboren am XXXX (BF6), und ihre minderjährige Tochter XXXX , geboren in Österreich am XXXX (BF7) sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und schiitische Moslems.

1.2. Der BF3 reiste noch als Minderjähriger alleine in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 30.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

In seiner Erstbefragung am 01.06.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF3 an, dass sein Vater seit sechs Monaten vermisst werde und sich seine Mutter und seine Geschwister im Iran aufhalten würden. Er sei im Iran geboren und noch nie in Afghanistan gewesen. Vor ca. sechs Monaten sei sein Vater vom Iran nach Afghanistan gereist und nicht mehr zurückgekehrt. Ihre finanzielle Situation habe sich verschlechtert, daher habe ihn seine Mutter nach Österreich geschickt.

1.3. Aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes des BF3 hatte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Erstaufnahmestelle (EAST) Ost in Traiskirchen, Zweifel an seinem angegebenen Geburtsdatum ( XXXX ) und veranlasste eine sachverständige multifaktorielle medizinische Altersschätzung. Laut Gesamtgutachten vom 01.08.2015 wurde ein höchstmögliches Mindestalter zum Untersuchungszeitpunkt von 17 Jahren mit fiktivem Geburtsdatum XXXX festgestellt; eine Minderjährigkeit könne nicht ausgeschlossen werden.

1.4. Am 05.01.2016 reisten die übrigen BF - mit Ausnahme der erst später geborenen Tochter (BF7) - in Österreich ein und stellten - die BF1 als gesetzliche Vertreterin für ihre minderjährigen Kinder - ebenfalls jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am selben Tag wurden die BF1, der BF2 und der BF4 im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

Die BF1 und der BF2 gaben im Wesentlichen Folgendes an:

Sie seien verheiratet und würden aus Afghanistan stammen. Sie seien mit ihren vier Kindern ausgereist, ein Sohn befinde sich bereits in Österreich und habe Asyl beantragt.

Die BF1 sei Analphabetin und Hausfrau. Der BF2 habe zuletzt als mechanischer Angestellter in einer Weberei gearbeitet.

Sie hätten Afghanistan verlassen, weil es dort zu gefährlich sei. Der BF2 sei sogar von den Taliban gefangen gehalten worden. Im Iran seien sie wie Tiere behandelt worden und deshalb seien sie geflüchtet. Bei einer Rückkehr hätten sie Angst um ihr Leben.

Der BF4 gab an, er sei im Iran geboren und habe dort sechs Jahre die Pflichtschule besucht. Sein Bruder sei in Österreich aufhältig. Sonst könne er weder zur Reiseroute noch zu den Fluchtgründen genauere Angaben machen, er sei mit seiner Familie mitgereist.

1.5. Bei ihrer Einvernahme am 01.10.2016 vor dem BFA, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, korrigierten die BF1 und der BF2 die bisherige Schreibweise ihres Nachnamens im Verfahren und gaben darüber hinaus Folgendes an:

Sie seien in Afghanistan in der Provinz Logar in einem genannten Dorf im Distrikt Baraki Barak geboren und hätten dort gelebt. Wegen der Taliban seien sie für einen Monat nach Kabul gezogen und anschließend in den Iran geflüchtet, wo sie 18 Jahre gelebt hätten und ihre vier Söhne geboren worden seien. Die BF1 sei Analphabetin. Sie sei zwar drei Jahre in der Schule gewesen, habe aber fast nichts gelernt. In Afghanistan habe sie nicht gearbeitet, aber im Iran sei sie Reinigungskraft gewesen. Der BF2 sei in Afghanistan und im Iran Teppichknüpfer gewesen.

Sie hätten Afghanistan verlassen, da die Taliban dort gewesen seien und es Krieg gegeben habe. Zwei ihrer Cousins seien auf brutale Art und Weise getötet worden, deshalb seien sie aus Angst um ihr Leben geflüchtet. Die BF1 gab an, dass die Angaben zu ihren Fluchtgründen auch für ihre drei minderjährigen Kinder gelten würden.

Bei einer Rückkehr hätten sie Angst vor den Taliban, in Österreich seien sie hingegen sicher. Sie würden hier einen Deutschkurs besuchen. Die BF1 würde gerne als Köchin oder als Schneiderin arbeiten, der BF2 würde gerne in einer Teppichfabrik arbeiten.

Der BF3 gab an, er sei im Iran geboren und habe dort acht Jahre die Abendschule besucht und sonst als Hilfsarbeiter auf Baustellen gearbeitet. Im Iran habe er keinen [Aufenthalts-] Status gehabt und nicht offiziell arbeiten können. Auch eine schulische Weiterbildung sei nicht möglich gewesen. Hier lerne er Deutsch, gehe in die Schule und spiele Fußball. Er wolle gerne Mechaniker werden.

1.6. Mit im Wesentlichen gleichlautenden Bescheiden vom 17.10.2016 wies das BFA den Antrag des BF3 vom 30.05.2015 sowie die Anträge der anderen BF vom 05.01.2016 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihnen gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status von subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 17.10.2017 (Spruchpunkt III.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person der BF und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Sie hätten keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft gemacht und auch aus der Aktenlage hätten keine asylrelevanten Gründe festgestellt werden können. Ihnen sei jedoch aufgrund der prekären Lage vor Ort und ihrer persönlichen Situation subsidiärer Schutz zuzuerkennen, da sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland in eine ausweglose Situation geraten würden.

1.7. Gegen diese Bescheide erhoben die BF1 bis BF6 das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG), mit dem die Bescheide hinsichtlich Spruchpunkt I. (Asyl) angefochten wurden.

In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass den BF aus mehreren Gründen asylrelevante Verfolgung drohe. So würden sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und des damit einhergehenden schiitischen Glaubens von den Taliban und anderen extremistischen Gruppierungen verfolgt werden. Zudem werde den BF aufgrund ihres langjährigen Aufenthaltes im Iran und ihres dadurch geprägten Auftretens und Erscheinungsbildes sowie ihrer liberalen Einstellung von islamistischen Extremisten eine feindliche politische Gesinnung unterstellt werden. Insbesondere der BF1 als westlich orientierte Frau würde ein unislamisches Verhalten von radikalen Islamisten in Afghanistan vorgeworfen werden.

1.8. Mit Beschlüssen vom 01.08.2017 behob das BVwG die Bescheide vom 17.10.2016 gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bezüglich Spruchpunkt I. und verwies die Angelegenheit zur Erlassung von neuen Bescheiden bezüglich Spruchpunkt I. an das BFA zurück.

Begründend führte das BVwG unter anderem aus (Auszug aus der Beschlussbegründung):

"[...] 2.2.3. Im vorliegenden Fall war es die Aufgabe der belangten Behörde zu klären, ob die BF zum einen eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen konnten, und zum anderen, ob darüber hinaus menschen- bzw. asylrechtliche Gründe einer Rücküberstellung bzw. Ausweisung in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen würden und ihnen der Status als subsidiär Schutzberechtigte zu gewähren wäre.

Das BFA hat den BF den Status von subsidiär Schutzberechtigen mit der Begründung zuerkannt, dass ihnen aufgrund der prekären Lage in Afghanistan und ihrer individuellen Situation bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung von Art. 3 EMRK drohe.

Im Hinblick auf Spruchpunkt I. ist allerdings in Bezug auf die Frage, ob die BF1 als Angehörige der sozialen Gruppe der afghanischen Frauen, die "westlich orientiert" sind (selbstbestimmt leben wollen), asylrelevante geschlechtsspezifische Verfolgung drohe, der Sachverhalt nicht hinreichend ermittelt worden:

[...] Nach der Judikatur des VfGH ist bereits ein sinngemäßes Vorbringen ausreichend, um eine Prüfpflicht der Behörde im Hinblick auf asylrelevante geschlechtsspezifische Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen, die selbstbestimmt leben wollen, auszulösen (vgl. VfGH 20.06.2012, U1986/11 ua.):

"Der Asylgerichtshof hat, indem er keine Prüfung einer asylrelevanten geschlechtsspezifischen Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu Bildung durchgeführt hat, seine die Drittbeschwerdeführerin (ein minderjähriges Mädchen) betreffende Entscheidung mit Willkür behaftet, zumal in Hinblick auf diese - im Gegensatz zur Zweitbeschwerdeführerin - ein Vorbringen hinsichtlich geschlechtsspezifischer Verfolgung sinngemäß erstattet wurde."

Im Erkenntnis vom 12.06.2015, E 573/2015, hat der VfGH ausgesprochen:

"Die Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten hängt davon ab, mit welchen Konsequenzen die Asylwerberin aufgrund ihrer Haltung im Herkunftsstaat zu rechnen hat und ob diese als Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen sind. Nach einer Stellungnahme des UNHCR von Juli 2003 sollten afghanische Frauen, von denen angenommen wird, dass sie soziale Normen verletzen oder dies tatsächlich tun, bei der Rückkehr nach Afghanistan als gefährdet angesehen werden. Diese Kategorie könnte Frauen einschließen, die westliches Verhalten oder westliche Lebensführung angenommen haben, was als Verletzung der sozialen Normen angesehen werde und ein solch wesentlicher Bestandteil der Identität dieser Frauen geworden sei, dass es für diese eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen (zur Indizwirkung dieser konkreten Empfehlung VwGH 16.1.2008, 2006/19/0182 mwN). Daraus leitet der VwGH ab, dass einer afghanischen Frau Asyl zu gewähren ist, wenn der von ihr vorgebrachte "westliche Lebensstil" in Afghanistan einer zu den herrschenden politischen und/oder religiösen Normen eingenommene oppositionelle Einstellung gleichgesetzt wird und ihr deshalb Verfolgung droht. Es komme aus asylrechtlicher Sicht nicht darauf an, ob sich eine Asylwerberin den gesellschaftlichen Normen ihres Heimatstaates anzupassen hat oder nicht (VwGH 6.7.2011, 2008/19/0994; 16.1.2008, 2006/19/0182).

Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich die Verpflichtung des BVwG, bei der Prüfung der Berechtigung des Asylantrages zu untersuchen, ob der von der Beschwerdeführerin gepflegte Lebensstil die herrschenden sozialen Normen in Afghanistan in einem Ausmaß verletzt, dass ihr bei einer Rückkehr (unter Beibehaltung des Lebensstils) Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention drohen würde. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl liegen vor, wenn dieser Lebensstil ein wesentlicher Teil der Identität der Beschwerdeführerin geworden ist, sodass es für diese eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen."

Der VwGH hat im Erkenntnis vom 28.05.2014, Ra 2014/20/0017 ausgesprochen:

"Daraus ergibt sich, dass den Revisionswerberinnen Asyl zu gewähren ist, wenn der "westliche Lebensstil" in Afghanistan einer zu den herrschenden politischen und/oder religiösen Normen eingenommenen oppositionellen Einstellung gleichgesetzt wird und ihr deshalb Verfolgung im oben dargestellten Sinn droht. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Es kann auch eine private Verfolgung insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren

Der Verwaltungsgerichtshof [VwGH] hat in diesem Zusammenhang im genannten Erkenntnis vom 6. Juli 2011 auch klargestellt, dass in einem solchen Fall konkrete Feststellungen zur ("westlichen") Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungspunkt zu treffen und ihr diesbezügliches Vorbringen (unter Würdigung ihres aktenkundigen Auftretens) einer Prüfung zu unterziehen ist. (...) Auch hier hätte somit, was die Revision ebenfalls zutreffend aufzeigt, das Bundesverwaltungsgericht erst auf der Basis konkreter Feststellungen zur aktuellen Lebensweise der Revisionswerberinnen - unter Heranziehung aktueller Länderberichte - die zu erwartenden Reaktionen in Afghanistan auf die von ihnen angestrebte Lebensweise prüfen müssen."

2.2.3.3. Zusammengefasst ist somit festzustellen, dass es im vorliegenden Fall aufgrund der mangelnden Ermittlungstätigkeit des BFA zu keiner ausreichenden Auseinandersetzung mit der Frage gekommen ist, ob der BF1 asylrelevante geschlechtsspezifische Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen, die selbstbestimmt leben wollen, droht. Diesbezüglich ist etwa anzumerken, dass die BF1 schon im Iran berufstätig war und in Österreich den Wunsch geäußert hat, als Köchin oder als Schneiderin zu arbeiten. In diesem Zusammenhang ist das BFA auch nicht der Frage nachgegangen, inwiefern etwa der BF1 aufgrund ihres langjährigen Aufenthaltes im Iran und ihrem dadurch geprägten Auftreten und Erscheinungsbild sowie ihrer politischen, gesellschaftlichen und religiösen Einstellung eine feindliche politische Gesinnung in ihrem Herkunftsland unterstellt werden könnte.

2.2.4. Das BFA ist somit in Bezug auf die Ermittlung der Sachlage bezüglich der Frage des Vorliegens asylrelevanter Verfolgung nicht mit der gebotenen Genauigkeit und Sorgfalt vorgegangen und hat die Sachlage nicht ausreichend erhoben bzw. sich (in der Bescheidbegründung) nur mangelhaft mit den Angaben der BF und den Beweisergebnissen auseinandergesetzt.

[...] Wahrung des Grundsatzes des Parteiengehörs den BF die Ermittlungsergebnisse zur Kenntnis zu bringen haben. [...]"

1.9. Mit Bescheiden vom 20.10.2017 verlängerte das BFA auf Antrag die Aufenthaltsberechtigungen der BF1 bis BF6 aufgrund des gewährten subsidiären Schutzes bis 17.10.2019.

1.10. Am XXXX wurde in Graz XXXX (BF7) als Tochter von BF1 und BF2 geboren. Ihre Eltern stellten für sie als gesetzliche Vertreter am 11.01.2018 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren.

1.11. Am 04.06.2018 führte das BFA, Regionaldirektion Steiermark, Außenstelle Graz, im fortgesetzten Verfahren eine weitere Einvernahme von BF1, BF2 und BF3 im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache "Dari/Farsi" durch. Im Betreff der Niederschriften wurde angeführt: "EV zur Prüfung eines Aberkennungsverfahrens".

Die BF1 beantwortete Fragen zu ihren Lebensumständen im Herkunftsstaat, im Iran und in Österreich. Sie stamme aus einem namentlich genannten Dorf im Distrikt Barakijan, Provinz Logar (Afghanistan). Ihre Kindheit in Afghanistan sei "in Ordnung" gewesen. Sie habe das Haus sauber gehalten. Sie sei von ihren Eltern mit ca. 16 Jahren mit ihrem Cousin in Logar verheiratet worden und dann wegen der Sicherheitslage in Afghanistan (wegen Krieg) in den Iran geflüchtet, wo sie erstmals in die Schule gegangen sei.

In ihrer gemeinsamen Einvernahme wiederholten der BF2 und der BF3 im Wesentlichen ihre bisher getätigten Aussagen zu ihren Lebensumständen und machten Angaben zu ihrer Integration.

Laut Niederschriften wurde den BF "die aktuelle Länderinformation" zur Kenntnis gebracht.

1.12. Nach Durchführung des ergänzten Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheiden vom 09.06.2018 die Anträge der BF auf internationalen Schutz vom 05.01.2016 (BF1 bis BF6) sowie vom 11.01.2018 (BF7) gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.).

Den BF1 bis BF6 wurde der mit Bescheiden vom 17.10.2016 zuerkannte Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG aberkannt und die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen, der BF7 wurde der Status als subsidiär Schutzberechtigte in Abweisung ihres Antrages gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.).

Das BFA verband diese Entscheidungen in den Spruchpunkten III. bis VI. bzw. VII. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurden nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise der BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person der BF und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Die BF hätten keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung der BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihnen keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Die BF würden nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG erfüllen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe ihr Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung der BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die die BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätten, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass die BF bezüglich ihrer behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund ihrer Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wären. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Ein asylrelevantes Vorbringen hätten die BF weder glaubhaft noch überhaupt geltend gemacht. Die westliche Orientierung der BF1 hätte lediglich ihre Hilfsorganisation für sie behauptet, liege aber nicht vor. Die BF1 habe ein "unbeschwertes" Leben in Afghanistan geführt und das Land "lediglich" deshalb verlassen, weil dort Krieg geherrscht habe. Es könne "auch jetzt keine westliche Verinnerlichung" bei ihr erkannt werden, "welche ihr Leben in Afghanistan unmöglich machen würde". Kabul sei ein urbanes Zentrum, wo die Kleidervorschriften stark variierten. Die BF1 hätte somit durchaus die Möglichkeit, sich in jene Zentren zu begeben, wo sie sich als Frau "wohler" fühle.

Die vom BF2 vorgebrachte sechsmonatige Festhaltung seiner Person durch die Taliban bewertete das BFA als nicht durchgehend stimmig und plausibel vorgebracht und als somit nicht glaubhaft gemacht.

Die Aberkennung des vom BFA zuvor gewährten subsidiären Schutzes begründete das BFA im Wesentlichen mit einer geänderten Lage in Afghanistan.

1.12. Gegen diese Bescheide brachten die BF mit Schreiben ihres nunmehrigen anwaltlichen gewillkürten Vertreters vom 02.07.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG wegen "Mangelhaftigkeit des Verfahrens", mangelhafter bzw. unrichtiger Bescheidbegründung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung ein.

In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Aberkennung des subsidiären Schutzes weder rechtens noch nachvollziehbar sei, da sich die Umstände im Herkunftsstaat nicht derart verändert hätten, dass sie eine Aberkennung rechtfertigen könnten. Im Gegenteil habe sich die Lage - insbesondere zuletzt in Kabul - dramatisch verschlechtert.

Das Vorbringen des BF2 bezüglich seiner angegebenen Festhaltung durch die Taliban sei stimmig und plausibel gewesen.

Die BF1 wolle ein selbstbestimmtes Leben führen und habe das BFA nicht hinreichend ermittelt, inwieweit sie "westlich orientiert" im Sinne der Rechtsprechung in Österreich sei.

1.13. Mit Schreiben ihrer zur Vertretung ebenfalls bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation vom 09.07.2018 langte am 12.07.2018 eine als Beschwerdeergänzung zu wertende "neuerliche Beschwerde" samt einer Vielzahl von Integrationsunterlagen bezüglich der BF ein. Auch in diesem Schreiben werden die in der oben genannten Beschwerde enthaltenen Punkte vorgebracht.

1.14. Das BVwG führte am 01.10.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der die BF in Begleitung ihres gewillkürten anwaltlichen Vertreters persönlich erschienen. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an einer Verhandlung.

Dabei gaben die BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

"[...] RI [Richter] gibt bekannt, dass die o.g. Beschwerdeverfahren zur gemeinsamen Verhandlung gemäß § 39 Abs. 2 AVG verbunden werden.

[...]

RI: Was ist Ihre Muttersprache?

BF: Dari. Aufgrund unseres langen Aufenthaltes im Iran (BF1 und BF2 haben vor ca. 20 Jahren geheiratet und sind dann in den Iran gegangen) sprechen wir auch Farsi.

RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für die BF?

D: Dari.

RI befragt BF, ob sie D gut verstehe; dies wird bejaht.

Zur heutigen Situation:

RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?

BF: Ja.

RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?

BF: Nein.

[...]

Der BF haben bisher keine Bescheinigungsmittel zu ihrer Identität vorgelegt und legen auch heute keine vor.

Zu ihrem Fluchtvorbringen bzw. zu ihrer Integration haben sie bisher ebenfalls keine Beweismittel vorgelegt. Heute legen sie weitere Belege vor, die in Kopie zum Akt genommen werden:

Deutschkursbestätigungen, Werte- und Orientierungskursbestätigungen, Spracheinstufungen, Empfehlungsschreiben, Arbeitszusage des AMS für den BF2 unter der Bedingung von Deutsch A2, Dienstvertrag des BF3 in der Gastronomie (ab 22.08.2018), Jugendcoaching für BF3, Schulzeugnisse und Bestätigungen bezüglich BF4 und BF5 u.a.m.

[...]

Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen

Lebensumständen:

RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?

BF: Ja.

RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF: Wir sind Hazara.

RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?

BF: Wir sind schiitische Moslems.

RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?

BF: BF1 und BF2 haben vor ca. 20 Jahren (1376, umgerechnet 1997/98) traditionell vor einem Mullah mit nahen Angehörigen (insgesamt ca. zwölf Personen) geheiratet. Bei der anschließenden Hochzeitsfeier waren viele Personen (vielleicht 100) anwesend.

BF3 und BF4 sind nicht verlobt. BF1 und BF2 haben nun fünf Kinder.

RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF1: Ich habe vier Jahre einen Alphabetisierungsunterricht im Iran besucht.

BF2: Ich habe vier Jahre lang die Schule in Afghanistan besucht, im Iran habe ich dann als Teppichknüpfer und Schweißer gearbeitet.

BF3: Ich habe acht Jahre lang eine afghanische Nachtmittagsschule im Iran besucht.

BF4: Ich habe sechs Jahre lang eine afghanische Nachtmittagsschule im Iran besucht.

RI an BF1: Waren Sie zufrieden damit, dass Sie nur vier Jahre lang einen Alphabetisierungskurs besuchen haben können?

BF1: Ja.

BF2: Sie hat Kinder bekommen, um die sie sich kümmern musste.

BF1: Ich habe zuhause als Schneiderin gearbeitet.

RI an BF1: Wenn Ihre kleinen Kinder einmal groß sind, wie stellen Sie sich Ihre Zukunft hier in Österreich vor?

BF1: Ich wünsche ihnen eine gute und blühende Zukunft, ich möchte, dass sie gute Menschen werden und der Gesellschaft dienen.

RI an BF1: Und was wollen Sie dann machen?

BF1: Ich möchte gerne einer Arbeit nachgehen, sobald sie älter werden. Am liebsten würde ich als Schneiderin arbeiten, und wenn das nicht möglich ist, dann könnte ich mir vorstellen, als Köchin zu arbeiten. Sobald meine Kinder älter sind, könnte ich mir vorstellen zu arbeiten. Ich war letzte Woche bei einer Taschenschneiderei, und sie meinten, dass sie eine 26-jährige (nach Nachfrage: Junge) benötigen, deshalb bekam ich die Arbeit nicht.

RI: Waren Sie in den letzten 20 Jahren igendwann einmal in Afghanistan?

BF1: Ich und meine Kinder nicht.

BF2: Ich wurde einmal abgeschoben, weil ich keine Dokumente hatte. Im Jahr 1393 (umgerechnet 2014/15) wurde ich nach Herat abgeschoben, von dort aus bin ich in mein Heimatdorf gefahren. Wir fuhren um 4 Uhr in der Früh los, um 20 Uhr waren wir in Kabul, und dann mussten wir weitere drei Stunden bis nach Logar fahren. Ich wurde dann von den Taliban festgenommen, sechs Monate war ich gefangen, sie haben mir vorgeworfen, ein Spion zu sein. Ich habe gesagt, dass ich in den letzten 18 Jahren überhaupt nicht in Afghanistan aufhältig war. Sie warfen mir aber vor, für die Regierung zu arbeiten, dann konnte ich in den Iran fliehen.

RI an BF1: Wovon haben Sie in der Zeit gelebt?

BF1: Aus meinen Einkünften aus meiner Tätigkeit als Schneiderin.

RI an BF3: Wie haben Sie das damals erlebt?

BF3: Es war sehr schwierig, ich habe als Maler gearbeitet, ich hatte nicht immer Lust, in die Schule zu gehen.

BF4: Für mich war es auch sehr schwierig. Nachmittags hatte ich immer Angst, als ich in die Schule ging, ich hatte Angst, dass die Polizisten mich festnehmen.

BF3: Als mein Vater noch in Afghanistan war, hat meine Mutter gesagt, dass ich nach Europa gehen soll.

BF4: Es war normal, ich habe mich gefreut, als mein Vater wieder gekommen ist.

RI: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

BF: In Österreich haben wir keine Verwandten.

BF2: Ich weiß nicht, wer noch in Afghanistan lebt, meine Eltern sind verstorben.

BF1: Meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester leben im Iran, und mein Vater ist in Isfahan (Iran) vor ca. zehn Jahren verstorben, als XXXX zwei Monate alt war.

Zur derzeitigen Situation in Österreich:

RI: Haben Sie Kontakt zu Österreichern? Haben Sie in Österreich wichtige Kontaktpersonen, und wie heißen diese?

BF1: Wir haben eine Bekannte namens Gabriele, wir besuchen uns gegenseitig, auch XXXX unternimmt mit uns Freizeitaktivitäten, Kochen, Schwimmen, Zeichnen.

BF2: Wir haben mehrere männliche und weibliche Bekannte, wir besuchen uns gegenseitig. Ich spiele, machmal auch mit meinen Söhnen, Fußball. In meiner Jugend habe ich sehr viel Fußball gespielt. Im Iran habe ich in einem afghanischen Team in einer inoffiziellen Liga gespielt. Ich spielte im Mittelfeld und im Tor.

BF3: Ich spiele Stürmer.

BF4: Ich spiele im Tor und im Sturm.

RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.

RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?

BF: Wir verstehen Sie teilweise, wenn Sie nicht zu schnell sprechen.

BF2: Ich habe Sprachniveau A1 abgeschlossen.

BF3: Ich habe bereits B1 abgelegt.

BF4: Ich mache ein Jugendcoaching.

Angemerkt wird, dass der BF4 recht gut Deutsch spricht und sicherlich schon Niveau A2 aufweist, wenn nicht mehr. Die BF1 versteht auch die Fragen teilweise und beantwortet sie teilweise holprig auf Deutsch.

BF1: Mein A1-Kurs beginnt am Freitag.

RI: Wenn Sie auf die Straße gehen, wir machen Sie das?

BF: Ich gehe alleine außer Haus. Die Frauen müssen hier keine Angst haben.

RI an BF2: Haben Sie ein Problem damit?

BF2: Nein.

BF1: Weder meine Familie noch andere dürfen entscheiden, wann ich das Haus verlasse oder ob ich bedeckt oder ohne Tuch das Haus verlasse.

RI an BF1: Gehen Sie immer ohne Kopftuch?

BF1: Manchmal, aber meistens trage ich kein Kopftuch.

RI an BF1: Gehen Sie alleine Einkaufen und wie machen Sie das?

BF1: Ja. Ich gehe zum Geschäft und kaufe dort Tomaten, Windeln, Kleidung, Milch und Damenbinden ein.

RI: Wie zahlen Sie?

BF1: Ich bezahle das, was ich zahlen muss, 10, 20 oder 30 Euro. Ich zahle bar. Manchmal zahle ich auch mit einer Bankomatkarte.

RI: Haben Sie gemeinsam eine Bankomatkarte?

BF1: Ja, sie gehört meinem Mann.

RI: Müssen Sie ihm Rechenschaft abgeben, wieviel sie ausgegeben haben?

BF1: Nein, er fragt gar nicht nach.

Angemerkt wird, dass die BF diese Anwort spontan und authentisch laut gegeben hat. Sie erweckt den Eindruck, dass sie selbstbewusst und selbständig ist und auf Augenhöhe mit ihrem Ehemann verkehrt. Sie stillt in der Verhandlung ihr Kind.

Angemerkt wird weiters, dass die BF2 kurze gefärbte Haare hat und sie offen trägt und leicht geschminkt ist. Weiters trägt sie eine bunt gemusterte helle lange Bluse, sie hat pink lackierte Fingernägel, sie hat weiters eine blaue Jeans an und helle Sportschuhe. Unter der Bluse trägt sich ein sichtbares grell bunt gestreiftes T-Shirt. Sie trägt ein silberenes Armband.

RI an BF1: Sind Sie immer so gekleidet?

BF1: Ja, ich liebe es, kurze Oberteile zu tragen und mich sportlich zu kleiden. Ich mag es nicht gerne, lange Oberteile zu tragen. Manchmal trage ich auch kurze Blusen.

RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach? Wie ist Ihr Tagesablauf?

BF3: Ich gehe regelmäßig privat zu einer Dame, bei der ich unentgeltlich Violine und Viola spiele.

BF4: Ich habe eine Musikschule gefunden und möchte dort Klavierunterricht nehmen.

BF2: Das werden wir bezahlen.

RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?

BF: Nein.

RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?

BF1: Ich habe Kontakt mit meiner Mutter.

BF2: Ich habe niemanden mehr im Iran.

BF3: Ich kommuniziere ca. einmal pro Woche per Internet mit meinem Freund über Whatsapp.

BF4: Ich auch, mit einem anderen Freund.

Angemerkt wird, dass BF3 und BF4 diese Antworten auf Deutsch gegeben haben.

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.

Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint?.

BF1: Wir wollten in Österreich eine gute Zukunft haben für unsere Kinder. In Afghanistan hat Krieg geherrscht, und die Taliban waren dort. Wir haben geheiratet und sind dann in den Iran geflohen. Dort hatten wir keine Aufenthaltsberechtigung, wir hätten dort keine gute Zukunft, deswegen haben wir dann auch den Iran verlassen.

RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?

BF1: Das Leben dort ist schwieirg, ich habe Angst, festgenommen zu werden, Frauen werden geschlagen und misshandelt. Sie wissen ja, was der Frau FARKHONDA passiert ist, Frauen haben dort keine Freiheiten. Hier können Frauen zu jeder Tageszeit das Haus verlassen, in Afghanistan ist das überhaupt nicht möglich. Ich kann mich hier frei bewegen, diese Freiheit habe ich nicht in Afghanistan.

BFV [Vertreter der BF]: Könnten Sie so, wie sie gekleidet sind, auch in Afghanistan auf die Straße gehen?

BF1: Nein, dort herrscht keine Sicherheit, die Frauen haben keine Freiheiten. Die Frauen können sich nicht so anziehen.

BFV: Was müssten Sie dort tragen?

BF1: Lange Oberteile und eine Burka, in unserem Dort schon.

BFV: Haben Sie ein eigenes Handy?

BF1: Ja.

BFV: Sie gehen mit einer Bekannten Schwimmen, wie sind Sie da bekleidet?

BF1: Ich trage einen Bikini.

Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens der BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.

Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.

RI folgt BFV Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihm die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder weitere Fragen zu stellen.

RI befragt BF, ob sie noch etwas Ergänzendes vorbringen wollen.

BF2: Zwei meiner Cousins wurden in Afghanistan getötet, daraufhin sind meine Frau und ich in den Iran geflohen.

BF1, 3 und 4: Danke.

RI befragt BF, ob sie D gut verstanden habe; dies wird bejaht.

[...]"

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragungen am 01.06.2015 (BF3) und 05.01.2016 (BF1, BF2, BF3 und BF4) und der Einvernahmen vor dem BFA am 01.08.2015 (BF3) und 01.10.2016 (BF1, BF2 und BF3) und im fortgesetzten Verfahren am 04.06.2018 sowie die gegenständliche Beschwerde vom 02.07.2018 samt Ergänzung vom 09.07.2018

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat der BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Seiten 12 bis 91 des Bescheides im hier unnummerierten Teil des Verwaltungsaktes der BF1)

* Einvernahme der BF1, BF2, BF3 und BF4 im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 01.10.2018 sowie Einsichtnahme in folgende in der Verhandlung vorgelegten Dokumente:

* Deutschkursbestätigungen

* Werte- und Orientierungskursbestätigungen

* Spracheinstufungen

* Empfehlungsschreiben

* Arbeitszusage des AMS für den BF2 unter der Bedingung von Deutsch A2

* Dienstvertrag des BF3 in der Gastronomie (ab 22.08.2018)

* Jugendcoaching für BF3

* Schulzeugnisse und Bestätigungen bezüglich BF4 und BF5 u.a.m.

* Einsicht in folgende im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF:

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat und in der Provinz Logar, der Frauen sowie der ethnischen Minderheiten, insbesondere der Hazara (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 11.09.2018)

o Auszug aus einer Anfragebeantwortung von ACCORD zur Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen (u.a. mögliche Ausgrenzung oder Belästigungen); Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren, vom 12.06.2015 (a-9219)

o Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016

o Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016 daraus zur Lage der Frauen sowie

o Artikel in Asylmagazin 3/2017 "Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" von Friederike Stahlmann

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person der BF:

3.1.1. Die BF führen die Namen XXXX , geboren XXXX (BF1), ihr Ehemann XXXX , geboren am XXXX (BF2), ihr mittlerweile volljähriger gemeinsamer Sohn XXXX , geboren am XXXX (BF3), ihre minderjährigen Söhne XXXX , geboren am XXXX (BF4), XXXX , geboren am XXXX (BF5), und XXXX , geboren am XXXX (BF6), und ihre minderjährige Tochter XXXX , geboren in Österreich am XXXX (BF7).

Die BF sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und bekennen sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der BF ist Dari, sie sprechen aufgrund ihres langjährigen bzw. lebenslangen Aufenthaltes im Iran auch Farsi.

Die BF3 bis BF7 sind (zum Zeitpunkt der Antragstellung) minderjährige Kinder von BF1 und BF2 und leben im gemeinsamen Haushalt.

3.1.2. Lebensumstände:

Die BF1 und der BF2 lebten in einem namentlich genannten Dorf im Distrikt Barakijan, Provinz Logar (Afghanistan). Die BF1 wurde mit ca. 16 Jahren mit ihrem Cousin väterlicherseits verheiratet. Sie zogen wegen der prekären Sicherheitslage (zwei Cousins wurden von den Taliban getötet) aus Angst um ihr Leben für einen Monat nach Kabul und flüchteten anschließend in den Iran, wo sie 18 Jahre lebten und ihre vier Söhne (BF3, BF4, BF5 und BF6) geboren wurden.

Der BF2 sorgte als Teppichknüpfer und Schweißer für den Unterhalt der Familie, die BF1 besuchte vier Jahre lang einen Alphabetisierungskurs im Iran und war zuhause als Schneiderin erwerbstätig. Der BF3 besuchte im Iran acht Jahre lang eine afghanische Nachmittagsschule und arbeitete als Hilfsarbeiter auf Baustellen, der BF4 besuchte diese Schule sechs Jahre lang.

3.1.3. Die BF haben keine nahen Verwandten mehr im Herkunftsstaat. Im Iran leben Mutter Bruder und Schwester der BF1. Die BF verfügen in Afghanistan weder über familiäre noch über sonstige soziale Anknüpfungspunkte.

3.1.4. Die BF bemühen sich in beachtlicher Weise um ihre Integration in Österreich bemüht. Sie haben Deutschkurse besucht und an Werte- und Orientierungskursen teilgenommen. Die BF pflegen Bekanntschaften mit In- und Ausländern und betreiben sportliche Aktivitäten (Fußball, Schwimmen) sowie Freizeitaktivitäten wie Kochen und Zeichnen.

Der BF2 verfügt über eine bedingte Einstellungszusage. Der BF3 ist im Gastgewerbe erwerbstätig, der BF4 besuchte die Schule und nimmt Jugendcoaching bei einer Unterstützungseinrichtung wahr. Der BF5 besucht die Schule.

Der BF3 und der BF4 nehmen Musikunterricht (Violine, Viola, Klavier).

3.1.5. Die BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Die BF1 ist eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert ist. In Österreich kleidet, frisiert und schminkt sich die BF1 nach westlicher Mode. Sie geht selbständig Einkaufen und pflegt Bekanntschaften mit Österreichern, mit denen sie Freizeitaktivitäten wie Zeichen und Schwimmen (im Bikini) ausübt.

Die BF1 will in der Zukunft selbst einer Erwerbstätigkeit nachgehen und hat den Wunsch, als Schneiderin oder Köchin tätig zu sein. Sie hat sich schon selbständig um eine Anstellung als Schneiderin bemüht, wurde aber wegen ihres Alters nicht beschäftigt.

Die BF1 lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, wieder nach dem konservativ-afghanischen Wertebild zu leben. Ihre Einstellung und ihr Lebensstil stehen im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind.

Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden und auch entsprechend verfestigten Änderung ihrer Lebensführung würde die BF1 im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

3.2.2. Der BF2 hat mit seinem Vorbringen nicht glaubhaft gemacht, dass konkret und individuell er aus politischen oder religiösen Gründen der Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt war bzw. bei einer Rückkehr ausgesetzt sein würde.

Die BF haben nicht glaubhaft gemacht, dass konkret sie als Angehörige der Volksgruppe der Hazara sowie schiitische Muslimen bzw. dass jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara sowie schiitische Muslim in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.

3.2.3. Es liegen keine Gründe vor, nach denen die BF von der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten auszuschließen wären.

3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der BF getroffen:

3.3.1. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan "Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 11.09.2018, Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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