TE Vfgh Erkenntnis 1997/6/17 G404/96, G405/96

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Veröffentlicht am 17.06.1997
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Index

95 Technik
95/08 Sonstiges

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
IngenieurG 1990 §5
IngenieurG 1990 §17

Leitsatz

Gleichheitswidrigkeit von Bestimmungen des IngenieurG 1990 mangels sachlicher Rechtfertigung für eine Differenzierung von Personen nach Ablegung der Reifeprüfung an einer Höheren Abteilung einer technischen Lehranstalt (vor Wirksamwerden des SchulorganisationsG) und an einer gemäß SchulorganisationsG eingerichteten Höheren technischen Lehranstalt

Spruch

Die Wortfolge "gemäß §72 Abs1 des Schulorganisationsgesetzes, BGBl. Nr. 242/1962, in der jeweils zum Zeitpunkt der Ablegung der Reifeprüfung geltenden Fassung, eingerichteten" im §5 sowie der §17 des Bundesgesetzes über die Standesbezeichnung "Ingenieur", BGBl. Nr. 461/1990 idF BGBl. Nr. 512/1994, werden als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. Juni 1998 in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1. Beim Verfassungsgerichtshof sind zu den Zahlen B769/96 und B2623/96 Verfahren über Beschwerden gemäß Art144 Abs1 B-VG anhängig, denen folgende Sachverhalte zugrundeliegt:

1.1. Mit Bescheid des Bundesministers für wirtschaftliche Angelegenheiten vom 25. Jänner 1996 wurde der Antrag des Beschwerdeführers im Verfahren B769/96 auf Verleihung der Berechtigung zur Führung der Bezeichnung "Diplom-HTL-Ingenieur" mangels Erfüllung der Voraussetzungen des §16 Abs1 Z1 iVm §17 und §5 des Ingenieurgesetzes 1990, BGBl. 461/1990 idF 512/1994 abgewiesen.

1.2. Ein Antrag des Beschwerdeführers zu B2623/96 auf Verleihung der Berechtigung zur Führung der Bezeichnung "Diplom-HTL-Ingenieur" wurde mit Bescheid des Bundesministers für wirtschaftliche Angelegenheiten vom 2. Juli 1996 gestützt auf §16 Abs1 Z1 und Z3 iVm §17 und §5 des Ingenieurgesetzes 1990, BGBl. 461/1990 idF 512/1994 abgewiesen.

2. Gegen die genannten Bescheide wenden sich die oben erwähnten Beschwerden, in denen die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichbehandlung aller Bundesbürger vor dem Gesetz behauptet und die Aufhebung der angefochtenen Bescheide beantragt wird.

3. Der Verfassungsgerichtshof hat am 10. Oktober 1996 aus Anlaß der Beratung über die beiden Beschwerden beschlossen, von Amts wegen gemäß Art140 Abs1 B-VG jeweils ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge "gemäß §72 Abs1 des Schulorganisationsgesetzes, BGBl. Nr. 242/1962, in der jeweils zum Zeitpunkt der Ablegung der Reifeprüfung geltenden Fassung, eingerichteten" im §5 sowie des §17 des Bundesgesetzes über die Standesbezeichnung "Ingenieur", BGBl. 461/1990 idF BGBl. 512/1994, einzuleiten.

4. §5 des Ingenieurgesetzes 1990 lautet:

"Höhere technische Lehranstalten im Sinne des §4 Abs1 Z1 sind die gemäß §72 Abs1 des Schulorganisationsgesetzes, BGBl. Nr. 242/1962, in der jeweils zum Zeitpunkt der Ablegung der Reifeprüfung geltenden Fassung, eingerichteten Lehranstalten, die der Erwerbung höherer technischer Bildung dienen, und deren allfällige Sonderformen.

Höhere land- und forstwirtschaftliche Lehranstalten im Sinne des §4 Abs1 Z1 sind die in §11 Abs1 des land- und forstwirtschaftlichen Bundesschulgesetzes, BGBl. Nr. 175/1966, in der Fassung BGBl. Nr. 328/1988 angeführten Lehranstalten.

Diplomprüfungen, durch die solche Sonderformen abgeschlossen werden, sind der Reifeprüfung gleichzuhalten."

§17 des Ingenieurgesetzes 1990 lautet:

"Höhere Lehranstalten im Sinne des §16 Abs1 Z1 und §16 Abs2 Z1 sind die im §5 angeführten Lehranstalten."

5. Der Verfassungsgerichtshof ging bei der Fassung seines Einleitungsbeschlusses vorläufig davon aus, daß die in Prüfung gezogene Wortfolge des §5 sowie der §17 Ingenieurgesetz 1990 von der belangten Behörde bei Erlassung des angefochtenen Bescheides angewendet wurden und sie daher auch der Verfassungsgerichtshof bei der Entscheidung über die Beschwerde, die zulässig zu sein scheint, anzuwenden hätte.

6. Seine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der oben angeführten Bestimmungen des Ingenieurgesetzes 1990 legte der Verfassungsgerichtshof in dem im Verfahren B769/96 gefaßten Einleitungsbeschluß wie folgt dar:

"Der Verfassungsgerichtshof hegt gegen den in Prüfung gezogenen Teil des §5 Ingenieurgesetz 1990 sowie gegen §17 desselben Gesetzes das Bedenken, daß es keine sachliche Rechtfertigung gibt für die Differenzierung, ob die Reifeprüfung abgelegt wurde an einer Höheren Abteilung einer technischen Lehranstalt (vor dem Schulorganisationsgesetz 1962) oder an einer gemäß §72 Abs1 Schulorganisationsgesetz 1962 eingerichteten Lehranstalt.

Das vom Bundesminister für wirtschaftliche Angelegenheiten vorgebrachte Argument, daß die Ausbildung auf technischem Gebiet einem erheblichen Wandel unterworfen sei, dürfte für sich allein keine ausreichende sachliche Begründung für die vorgenommene Differenzierung sein; dies vor allem deshalb, weil die erfolgreiche Ablegung der Reifeprüfung nach dem Lehrplan einer inländischen höheren technischen Lehranstalt gemäß §16 Abs1 Ingenieurgesetz 1990 nur eine der Voraussetzungen für die Verleihung der Berechtigung zur Führung der Bezeichnung 'Diplom-HTL-Ingenieur' ist.

Neben dieser (formellen) Voraussetzung muß der Antragsteller gemäß §16 Abs1 Z2 bis 4 leg. cit. noch folgende (materielle) Voraussetzungen erfüllen:

-

eine mindestens sechsjährige Berufspraxis, bei der die an der höheren technischen Lehranstalt erworbenen, für das Fachgebiet wesentlichen technischen Kenntnisse anzuwenden waren;

-

den Nachweis eingehender und umfassender Kenntnisse auf seinem Fachgebiet durch Vorlage einer schriftlichen Arbeit und

-

die erfolgreiche Ablegung einer fachlichen Prüfung vor Sachverständigen.

Damit scheint es aber beim Erfordernis der Reifeprüfung nicht darauf anzukommen, ob die Ausbildung dem aktuellen Stand der Technik entsprach, weil das aktuelle fachliche Niveau sowohl durch eine schriftliche Arbeit als auch durch eine fachliche Prüfung nachzuweisen ist.

Weiters vermag der Verfassungsgerichtshof nicht einzusehen, weshalb eine unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Schulorganisationsgesetzes 1962, also vor rund 33 Jahren abgelegte Reifeprüfung an einer höheren technischen Lehranstalt im Hinblick auf den derzeitigen Stand der Technik wesentlich anders zu bewerten ist als die vom Beschwerdeführer vor 36 Jahren abgelegte Reifeprüfung an der Höheren Abteilung einer technischen Lehranstalt.

Auch die Unterschiede in den Lehrplänen vor und nach dem Inkrafttreten des Schulorganisationsgesetzes 1962 dürften die genannte Differenzierung nicht rechtfertigen. Es ist zwar in der Verordnung BGBl. 207/1963 in einzelnen Gegenständen eine Erhöhung der Stundenzahl gegenüber dem vor dem Schulorganisationsgesetz 1962 geltenden Lehrplan feststellbar, und es finden sich im 'neuen' Lehrplan auch geänderte und dem Stand der Technik angepaßte Beschreibungen des zu vermittelnden Lehrstoffes. Aber die Gesamtunterrichtsstundenzahl ist im wesentlichen gleich geblieben; der 'neue' Lehrplan baut auf dem vorher geltenden auf und ist zum Großteil eine Fortschreibung des älteren Lehrplanes.

Ferner dürfte auch die vom Bundesminister für wirtschaftliche Angelegenheiten ins Treffen geführte Unterschiedlichkeit der Rechtsnormqualität der Lehrpläne vor und nach dem Schulorganisationsgesetz 1962 die genannte Differenzierung nicht rechtfertigen, da die Vermittlung technischen Wissens nicht von der Rechtsform der Lehrpläne (Weisung oder Rechtsverordnung), sondern vom vorgegebenen inhaltlichen Rahmen und von dem durch den Lehrkörper dargebotenen Unterrichtsinhalt abhängig ist.

Der Verfassungsgerichtshof nimmt daher vorläufig an, daß keine sachliche Rechtfertigung besteht für die Benachteiligung jener Personen, die - wie der Beschwerdeführer - vor dem Wirksamwerden des Schulorganisationsgesetzes 1962 an einer Höheren Abteilung einer technischen Lehranstalt die Reifeprüfung abgelegt haben."

7.1. Die Bundesregierung hat in ihrer Sitzung vom 18. Februar 1997 eine Äußerung beschlossen, in der sie zunächst zum Gegenstand des Gesetzesprüfungsverfahrens Stellung nimmt:

"§4 Abs1 sowie §16 Abs1 Ingenieurgesetz bestimmen, daß Berechtigungen zur Führung der Bezeichnung 'Ingenieur' bzw. der Bezeichnung 'Diplom-HTL-Ingenieur' an Personen zu verleihen sind, die unter anderem die Reifeprüfung nach dem Lehrplan inländischer höherer technischer Lehranstalten erfolgreich abgelegt haben. §5 leg. cit. definiert den Kreis der in §4 Abs1 Z1 genannten Lehranstalten als 'die gemäß §72 Abs1 Schulorganisationsgesetz, BGBl. 242/1962, in der jeweils zum Zeitpunkt der Ablegung der Reifeprüfung geltenden Fassung, eingerichteten Lehranstalten, die der Erwerbung höherer technischer Bildung dienen, und deren allfällige Sonderformen'. Gemäß §17 leg. cit. sind höhere technische Lehranstalten im Sinne des §16 Abs1 die in §5 angeführten Lehranstalten.

Nach Aufhebung der in Prüfung gezogenen Wortfolge des §5 erster Satz leg. cit. hätte dieser den folgenden Wortlaut:

'Höhere technische Lehranstalten im Sinne des §4 Abs1 Z1 sind die Lehranstalten, die der Erwerbung höherer technischer Bildung dienen, und deren allfällige Sonderformen.'

Ob hierunter auch die vormaligen Bundesgewerbeschulen zu verstehen wären, muß als zweifelhaft erscheinen; diese umfaßten die Fachschulen und die Höheren Abteilungen, wobei beide in den ersten zwei Jahren gemeinsam unterrichtet wurden."

7.2. Zu den Bedenken des Verfassungsgerichtshofes nimmt die Bundesregierung folgendermaßen Stellung:

"Der Verfassungsgerichtshof hegt gegen den in Prüfung gezogenen Teil des §5 des Ingenieurgesetzes 1990 sowie gegen §17 leg. cit. das Bedenken, es gebe keine sachliche Rechtfertigung für die Differenzierung, ob die Reifeprüfung an einer höheren Abteilung einer technischen Lehranstalt (vor dem Schulorganisationsgesetz 1962) oder an einer gemäß §72 Abs1 des Schulorganisationsgesetzes 1962 eingerichteten Lehranstalt abgelegt wurde. Hierzu ist aus Sicht der Bundesregierung folgendes festzustellen:

Die Standesbezeichnung 'Ingenieur' und die Bezeichnung 'Diplom-HTL-Ingenieur' sind Kennzeichnungen von Personen mit entsprechender technischer Qualifikation. Unter Berücksichtigung der graduellen Fortentwicklung der Lehrpläne sowie der Änderung der tatsächlichen Inhalte dieser Lehrpläne, die insbesondere aus technischen Entwicklungen resultierten, wählte der Gesetzgeber die nunmehr in §5 des Ingenieurgesetzes 1990 enthaltene Formulierung.

Wenn auch die sich bei einem Vergleich der Inhalte der einschlägigen Lehrpläne vor und nach dem Inkrafttreten des Schulorganisationsgesetzes ergebenden Unterschiede nicht signifikant erscheinen mögen, so zeigen sich doch Unterschiede bei Betrachtung einer größeren, etwa einige Jahrzehnte umfassenden Zeitspanne. So hat die von den einschlägigen Lehranstalten vermittelte Qualifikation, auch gemessen an den Lehrplänen, kontinuierlich zugenommen. Die zu Beginn sind der den am Ende des Betrachtungszeitraumes erworbenen Qualifikationen keinesfalls gleichwertig.

Innerhalb dieses Kontinuums hat der Gesetzgeber innerhalb des ihm zuzubilligenden Gestaltungsspielraums eine zeitliche Grenze normiert, die es ermöglicht, Ausbildungen, die als dem Stand der Technik entsprechend angesehen werden können, von jenen zu unterscheiden, die diesem Anspruch nicht mehr gerecht werden.

Hinzu kommt, daß die Bezeichnung 'Diplom-HTL-Ingenieur' den Besuch einer Schule eines bestimmten Typs, nämlich des Typs der Höheren Technischen Lehranstalt, indiziert. Die Führung der Bezeichnung 'Diplom-HTL-Ingenieur' durch eine Person, die eine solche Lehranstalt nicht besucht hat, wäre somit geeignet, bei Dritten, denen gegenüber diese Bezeichnung verwendet wird, eine die Ausbildung und somit die spezifische Qualifikation betreffende unzutreffende Vorstellung hervorzurufen.

Daß mit dem Abstellen auf die durch das Schulorganisationsgesetz geschaffene Rechtslage gewisse Härten verbunden sind, macht die in Prüfung gezogenen Bestimmungen noch nicht unsachlich; es muß dem Gesetzgeber gestattet sein, eine einfache und leicht handhabbare Regelung zu treffen; dies gilt auch für in Einzelfällen entstehende Unbilligkeiten, die mit der Setzung jedes Stichzeitpunktes zwangsläufig verbunden sind (VfSlg. 9645/1983, 11288/1987, 11900/1988 ua.).

Nach Ansicht der Bundesregierung sind die in Prüfung gezogenen Bestimmungen daher nicht aus den in den Einleitungsbeschlüssen dargelegten Gründen verfassungswidrig."

7.3. Die Bundesregierung beantragte daher den Ausspruch, die in Prüfung gezogenen Bestimmungen des Ingenieurgesetzes 1990 nicht als verfassungswidrig aufzuheben, in eventu für das Außerkrafttreten gemäß Art140 Abs5 B-VG eine Frist von 18 Monaten zu bestimmen, um die allenfalls erforderlichen legistischen Maßnahmen zu ermöglichen.

8. Die Beschwerdeführer in den Anlaßbeschwerdeverfahren erstatteten eine Äußerung, in der sie den Argumenten der Bundesregierung entgegentreten.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Es ist nichts vorgebracht worden oder sonst hervorgekommen, was gegen die Zulässigkeit der Anlaßbeschwerden spräche oder daran zweifeln ließe, daß der Verfassungsgerichtshof bei deren Beurteilung die in Prüfung gezogenen Bestimmungen der im Spruch genannten Wortfolge im §5 sowie des §17 des Ingenieurgesetzes 1990, BGBl. 461/1990 in der Fassung BGBl. 512/1994 in den Beschwerdeverfahren B769/96 und B2623/96, die Anlaß zu den zu G404/96 und G405/96 protokollierten Verfahren gaben, anzuwenden hat.

2. Die Bundesregierung weist darauf hin, daß nach allfälliger Aufhebung der in Prüfung gezogenen Wortfolge des §5 erster Satz Ingenieurgesetz 1990 zweifelhaft bliebe, ob die vormaligen Bundesgewerbeschulen als "Höhere technische Lehranstalten, die der Erwerbung höherer technischer Bildung dienen" zu verstehen wären.

Wie unter Punkt 3.4. näher ausgeführt, ist das Ausbildungsziel an einer Höheren technischen Lehranstalt von jenem an einer Höheren Abteilung einer technischen Lehranstalt wesensmäßig nicht verschieden, sodaß kein Zweifel darüber bestehen kann, daß nach Aufhebung der in Prüfung gezogenen Bestimmungen die Höheren Abteilungen einer Bundesgewerbeschule als Lehranstalten anzusehen sind, die der Erwerbung höherer technischer Bildung dienen. Da auch sonst die Prozeßvoraussetzungen in den von Amts wegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren gegeben sind, sind diese zulässig.

3. Aber auch das Vorbringen der Bundesregierung zu den Bedenken des Verfassungsgerichtshofes, es gebe keine sachliche Rechtfertigung für die Differenzierung, ob die Reifeprüfung abgelegt wurde an einer Höheren Abteilung einer technischen Lehranstalt oder an einer gemäß §72 Abs1 Schulorganisationsgesetz 1962 eingerichteten Lehranstalt, ist nicht geeignet, die inhaltlichen Bedenken des Verfassungsgerichtshofes zu zerstreuen.

3.1. Der Hinweis der Bundesregierung darauf, daß die Bezeichnung "Diplom-HTL-Ingenieur" Personen mit entsprechender technischer Qualifikation kennzeichne, vermag die vorgenommene Differenzierung der Ausbildungsvoraussetzungen nicht zu begründen.

Denn der Verfassungsgerichtshof geht - wie bereits im Einleitungsbeschluß dargelegt - davon aus, daß es beim Erfordernis der Reifeprüfung nicht darauf ankommt, ob die Ausbildung dem aktuellen Stand der Technik entsprach, weil das aktuelle fachliche Niveau sowohl durch eine schriftliche Arbeit als auch durch eine fachliche Prüfung nachzuweisen ist.

3.2. Damit gehen auch die Argumente der Bundesregierung ins Leere, ein Vergleich der Inhalte der Lehrpläne zeige, daß die von den einschlägigen Lehranstalten vermittelte Qualifikation kontinuierlich zugenommen habe, weshalb die zu Beginn des Betrachtungszeitraumes erworbene Qualifikation mit der am Ende des Betrachtungszeitraumes erworbenen Qualifikation nicht gleichwertig sei.

3.3. Ferner ist das weitere Vorbringen der Bundesregierung, der Gesetzgeber habe innerhalb des ihm zustehenden Gestaltungsspielraumes eine zeitliche Grenze normiert, die es ermögliche, Ausbildungen, die als dem Stand der Technik entsprechend angesehen werden können, von jenen zu unterscheiden, die diesem Anspruch nicht mehr gerecht werden, ebenfalls nicht geeignet, die Sachlichkeit der in Prüfung gezogenen Regelung darzutun, weil - wie oben ausgeführt - bei der Verleihung der Berechtigung "Diplom-HTL-Ingenieur" nicht bloß darauf abgestellt werden darf, ob die Ausbildung einem bestimmten Stand der Technik entsprach. Der Gesetzgeber hat daher bei der Festlegung der zeitlichen Grenze für die Ablegung der Reifeprüfung die Grenze des ihm zustehenden Gestaltungsspielraumes überschritten. Es kann auch nicht davon die Rede sein, daß durch die Festlegung eines Stichzeitpunktes nur in Einzelfällen Unbilligkeiten entstehen, schließt das Gesetz doch ohne sachliche Rechtfertigung alle Personen vom Erwerb der Bezeichnung "Diplom-HTL-Ingenieur" aus, die die Reifeprüfung an einer Höheren Abteilung einer technischen Lehranstalt abgelegt haben.

3.4. Schließlich meint die Bundesregierung, daß die Bezeichnung "Diplom-HTL-Ingenieur" den Besuch einer Höheren Technischen Lehranstalt indiziere. Die Führung dieser Bezeichnung durch eine Person, die eine solche Lehranstalt nicht besucht habe, sei geeignet, bei Dritten eine unzutreffende Vorstellung bezüglich der Ausbildung und damit der spezifischen Qualifikation hervorzurufen. Dieses Argument träfe nur dann zu, wenn die Ausbildung an einer Höheren Technischen Lehranstalt von jener an einer höheren Abteilung einer technischen Lehranstalt (Bundesgewerbeschule oder Bundeslehranstalt) wesensmäßig verschieden wäre. An beiden Lehranstalten ist die Ablegung einer Reifeprüfung vorgesehen. Die Absolventen beider Lehranstalten waren grundsätzlich zum Besuch einer wissenschaftlichen Hochschule berechtigt. Zwar waren die Absolventen höherer Gewerbeschulen gemäß der Verordnung BGBl. 100/1921 nur unter bestimmten Voraussetzungen zum Studium zugelassen. So erforderte zB die Zulassung an den Technischen Hochschulen den Erwerb der Reife mindestens mit Stimmeneinhelligkeit und den Nachweis eines bestimmten Studienerfolges während der ersten vier Semester; eine bedingungslose Zulassung war nur bei einem Reifezeugnis mit Auszeichnung vorgesehen. Aber selbst wenn man aus dem Vergleich der Zulassungsregelung des Jahres 1921 mit jener der nach dem Schulorganisationsgesetz BGBl. 242/1962 erlassenen Hochschulberechtigungsverordnung für Höhere technische und gewerbliche Lehranstalten eine Höherwertigkeit der Ausbildung an einer Höheren technischen Lehranstalt ableitet, so vermag auch eine solche Annahme die vorgenommenen Differenzierungen aus folgenden Gründen nicht zu tragen:

§14 Abs1 des Gesetzes vom 10. April 1872, betreffend die Organisation der technischen Hochschule (des polytechnischen Institutes) in Wien, RGBl. 54, sah einerseits vor, daß als ordentliche Hörer nur diejenigen aufgenommen werden, die ein staatsgültiges Maturitätszeugnis erworben haben. Weiters regelte

§14 Abs2 leg. cit., inwiefern das Maturitätszeugnis durch das Zeugnis einer ähnlich organisierten technischen Lehranstalt ersetzt werden könne.

In Ausführung dieser Bestimmung wurde die genannte Verordnung BGBl. 100/1921 erlassen und damit zum Ausdruck gebracht, daß die höheren Abteilungen der technischen Lehranstalten ähnlich organisiert waren wie die Maturitätszeugnisse vermittelnden Lehranstalten (zB Gymnasien). Andererseits war auch für Absolventen von Gymnasien keine bedingungslose Zulassung als ordentlicher Hörer vorgesehen; die Absolventen von Gymnasien mußten hinreichende Kenntnisse im geometrischen und Freihandzeichnen nachweisen.

Dazu kommt, daß die Hochschulberechtigungsverordnung für Höhere technische und gewerbliche Lehranstalten, BGBl. 228/1964, weiterhin Bedingungen für die Zulassung als ordentlicher Hörer an einer wissenschaftlichen Hochschule knüpft. Die erfolgreiche Ablegung der Reifeprüfung an einer Höheren technischen oder gewerblichen Lehranstalt berechtigt bedingungslos nur zum Besuch einer wissenschaftlichen Hochschule gleicher Fachrichtung als ordentlicher Hörer. Der Besuch einer wissenschaftlichen Hochschule verwandter oder fremder Fachrichtung ist an eine oder mehrere Zusatzprüfungen gebunden.

Aus der Tatsache, daß die Bedingungen für die Zulassung an einer wissenschaftlichen Hochschule vor und nach dem Schulorganisationsgesetz BGBl. 242/1962 im einzelnen unterschiedlich sind, kann aber nicht der Schluß auf einen wesensmäßigen Unterschied im Ausbildungserfolg gezogen werden, der es rechtfertigen würde, die dargestellten Differenzierungen vorzunehmen.

4. Die Annahme des Verfassungsgerichtshofes im Prüfungsbeschluß, daß keine sachliche Rechtfertigung bestehe für die Benachteiligung jener Personen, die vor dem Wirksamwerden des Schulorganisationsgesetzes 1962 an einer Höheren Abteilung einer technischen Lehranstalt die Reifeprüfung abgelegt haben, hat sich daher als zutreffend erwiesen.

5. Die Wortfolge "gemäß §72 Abs1 des Schulorganisationsgesetzes, BGBl. 242/1962, in der jeweils zum Zeitpunkt der Ablegung der Reifeprüfung geltenden Fassung, eingerichteten" im §5 sowie der §17 des Bundesgesetzes über die Standesbezeichnung "Ingenieur", BGBl. Nr. 461/1990 idF BGBl. 512/1994, waren daher als verfassungswidrig aufzuheben.

6. Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesbestimmung gründet sich auf Art140 Abs5 dritter und vierter Satz B-VG.

Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers über die Kundmachungspflicht stützt sich auf Art140 Abs5 erster Satz B-VG sowie auf §64 Abs2 und §65 VerfGG.

Die Entscheidung konnte gemäß 19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Standesbezeichnung, Ingenieure

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1997:G404.1996

Dokumentnummer

JFT_10029383_96G00404_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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