TE Bvwg Erkenntnis 2018/11/19 W103 1268966-2

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Veröffentlicht am 19.11.2018
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Entscheidungsdatum

19.11.2018

Norm

AsylG 2005 §6 Abs1 Z4
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W103 1268966-2/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE Rechtsberatung und Diakonie, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.03.2018, Zl. 732955906-2404230, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß den §§ 7 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4 iVm 6

Abs. 1 Z 4, 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer reiste als Minderjähriger im September 2003, gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern ins Bundesgebiet ein und stellte durch seine gesetzliche Vertreter einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer führte im damaligen Verfahren im Wesentlichen an, aufgrund der Probleme seines Vaters bzw. der Mutter als Minderjähriger aus Tschetschenien ausgereist und selbst keiner Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein.

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.12.2004 wurde der Asylerstreckungsantrag abgewiesen.

Der dagegen erhobenen Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 17.12.2008 zur Zl D9 256151-0/2008/22E, gemäß § 11 Abs 1 Asylgesetz 1997 stattgegeben, dem Beschwerdeführer in Österreich Asyl durch Erstreckung gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

3. Der Beschwerdeführer wurde in weiterer Folge straffällig (im Detail vgl. die unter Punkt 1.1.1. festgestellte Verurteilung).

Der BF wurde hinsichtlich der beabsichtigten Aberkennung seines Status als Asylberechtigter am 13.09.2017 von der belangten Behörde einvernommen und gab im wesentlichen an:

"LA: Mit Erkenntnis des Asylgerichtshof vom 17.12.2007 wurde Ihrer Beschwerde gegen den negativen Bescheid des BFA vom 3.12.2004 stattgegeben und Ihnen gemäß § 11 AsylG Asyl durch Erstreckung gewährt.

Sie wurden mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX wegen Verbrechen/Vergehen nach § 15 StGB, § 144 Abs. 1 StGB, § 145 Abs. 2 Z 1 StGB, § 297 Abs. 1 2.Fall StGB am 28.3.2017 rechtskräftig am 28.3.2017 verurteilt.

Gemäß § 7 AsylG Absatz 2 ist ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten jedenfalls einzuleiten, wenn der Fremde straffällig geworden ist.

Sie wurden vom Landesgericht XXXX rechtskräftig wegen verschiedener Delikte rechtskräftig verurteilt. Möchten Sie dazu etwas sagen?

A: Wegen meiner Verurteilung will ich jetzt nicht sprechen. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich möchte in Österreich leben und eine Familie gründen. Ich möchte nicht mehr ins Gefängnis. Das war das erste und letzte Mal.

LA: Was ist Ihre Furcht, sollten Sie in Ihre Heimat in die Russische Föderation zurückgeschickt werden?

A: Ich weiß nicht, was mich dort erwartet.

LA: Haben Sie Familienangehörige in Ihrer Heimat?

A: Ja. Befragt, meine Oma und meine Tanten sind in der Heimat. Meine Mutter hat vier Schwestern und auch mein Vater hat vier Schwestern. Sie sind alle verheiratet.

LA: Wo leben Ihre Tanten?

A: In Tschetschenien. Die eine lebte in Gudermes, die andere in Grosny.

LA: Haben Sie Kontakt zu Ihren Tanten?

A: Nein, nur zu meiner Oma. Befragt, das ist die Mutter von meinem Vater.

LA: Wo lebt Ihre Großmutter?

A: In XXXX. Befragt, meine Großmutter lebt alleine in ihrem Haus.

LA: Wie alt ist Ihre Großmutter?

A: Um die 70.

LA: Wie oft haben Sie Kontakt zu Ihrer Großmutter?

A: So einmal im Monat telefonieren wir. Befragt, mein Vater hat keine Brüder. Meine Mutter hat einen Bruder, ich weiß aber nicht, wo er ist. Weiters befragt, ich habe noch Cousins und Cousinen, die sind alle in Tschetschenien.

LA: Wie alt waren Sie, als Sie Ihre Heimat verlassen?

A: Zehn Jahre. Befragt, ich ging bis zur vierten Klasse in die Schule.

LA: In welcher Sprache unterhalten Sie sich zu Hause, innerhalb der Familie?

A: Mit meinen kleinen Geschwistern spreche ich deutsch, mit meiner Mutter unterhalte ich mich in der tschetschenischen Sprache.

LA: Sind Sie in Österreich Mitglied in einem Verein, einer religiösen Verbindung oder sonstigen Gruppierung?

A: Aktuell nicht. Ich war im Sportverein. XXXX Mitglied bin ich.

LA: Haben Sie ein Auto?

A: Nein, ich habe kein Auto. Ich habe aber den Führerschein. Jetzt kann ich mir kein Auto leisten. Ich muss mal Geld verdienen.

LA: Ich beende jetzt die Befragung. Wollen Sie noch etwas hinzufügen?

A: Ich möchte nichts mehr hinzufügen.

Anmerkung: HerrnXXXX wird die Niederschrift zwecks Durchsicht übergeben

LA: Haben Sie Einwendungen gegen die Niederschrift, wurde diese richtig und vollständig protokolliert?

A: Es wurde alles richtig aufgenommen."

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.03.2018 wurde der dem Beschwerdeführer der mit Bescheid vom 17.12.2008 zur Zl D9 256151-0/2008/22E, gemäß § 11 Abs 1 Asylgesetz 1997 zuerkannte Status eines Asylberechtigten gemäß § 7 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG unter einem festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Weiters wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG, der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.).

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 52 Absatz 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, iVm § 9 Abs 2 und 3 BFa-VG als auf Dauer für unzulässig erklärt- Gemäß § 58 Abs 2 und 3 AsylG 2005 iVm § 57 und 55 AsylG wurde eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 Abs 1 AsylG erteilt (Sp. III.).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stellte Identität und Staatsbürgerschaft des Beschwerdeführers fest (AS 536) und legte dem Bescheid umfassende Länderberichte zur aktuellen Lage in der Russischen Föderation zugrunde.

5. Der Entscheidung wurden darüber hinaus die folgenden Feststellungen zugrunde gelegt:

" (...) Zu Ihrer Person:

Sie sind Staatsangehöriger der Russischen Föderation mit tschetschenischer Abstammung.

Ihre Identität steht fest.

Ihnen wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 17.12.2008 durch Erstreckung Asyl gewährt.

Sie haben mit Frau XXXX einen Sohn namens XXXX.

Sie sind unverheiratet.

Sie sind ein junger, gesunder Mann im arbeitsfähigen Alter.

Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten:

Wegen des Verbrechens der versuchten schweren Erpressung nach §§ 15, 144 Abs. 1, 145 Abs. 2 Z. 1 StGB und der Verleumdung nach § 297 Abs. 1 zweiter Fall StGB, wurden Sie rechtskräftig verurteilt.

Zu den Gründen für die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und Ihrer Situation im Fall Ihrer Rückkehr:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass Sie bei einer Rückkehr in eine Existenz bedrohende Notlage gedrängt werden oder den Verlust Ihrer Lebensgrundlage zu erleiden haben.

Sie verfügen im Heimatland über soziale und familiäre Anknüpfungspunkte und würden Sie deshalb nach Ihrer Rückkehr auch Unterstützungs- und Unterkunftsmöglichkeiten vorfinden.

Sie bedürfen keiner medizinischen Behandlung. Sie leiden an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten.

Zu Ihrem Privat- und Familienleben und Ihrem Aufenthalt in Österreich:

Sie halten sich seit September 2003 im österreichischen Bundesgebiet auf.

In Österreich leben Ihre Mutter, Geschwister sowie Ihr dreijähriger Sohn.

Ihre Mutter und Geschwister sind asylberechtigt.

Die Kindesmutter ist zum dauernden Aufenthalt in Österreich berechtigt.

Ihr Sohn ist zur Niederlassung in Österreich berechtigt.

Sie haben in Österreich die Lehre als KFZ Techniker abgeschlossen.

Sie verfügen über sehr gute Deutschkenntnisse. Sie haben die 9. Schulstufe im Unterrichtsfach Deutsch positiv abgeschlossen (Jahres- und Abschlusszeugnis vom XXXX)."

Beweiswürdigend wurde insbesondere Folgendes erwogen:

"Zu Spruchpunkt I.:

§ 7 Abs. 1 AsylG 2005 sieht die zwingende Aberkennung des Status des Asylberechtigten bei Vorliegen eines der in Z 1 bis 3 genannten Tatbestände vor:

Unter anderem ist einem Fremden dieser Status von Amts wegen abzuerkennen, wenn ein Ausschlussgrund gem. § 6 AsylG 2005 vorliegt.

Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn gem. § 6 Abs. 1 Z 4 leg.cit. der Fremde von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist und er wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft darstellt.

Sie wurden von einem Landesgericht wegen des Verbrechens der versuchten schweren Erpressung und einer anderen strafbaren Handlung rechtskräftig verurteilt. Durch wiederholte Erpressung von Schutzgeldern haben Sie versucht, sich ein fortlaufendes Einkommen zu verschaffen. Mehrere gefährliche Drohungen mit zumindest einer Verletzung am Körper und abgegebene Schüsse Ihrerseits an den Fensterscheiben des Lokals, führten dazu, dass Sie zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren rechtskräftig verurteilt wurden.

Durch die missbräuchliche Verwendung einer Waffe, sowie die Tatsache, dass Sie eine andere Person psychisch und physisch angegriffen und am Körper verletzt haben, deutet eindeutig darauf hin, dass Sie eine Gefahr für die Gemeinschaft darstellen, umso mehr nicht auszuschließen ist, dass Sie abermals ein derartiges Verhalten gegen andere Personen setzen. Sie wurden auch erst vor ein paar Monaten aus der Haftanstalt entlassen und ist diese kurze Zeit nicht ausreichend, um eine positive Zukunftsprognose abgeben zu können.

Ihnen war daher gem. § 7 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten abzuerkennen.

Betreffend die Feststellungen zu den Gründen für die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und zu Ihrer Situation im Fall Ihrer Rückkehr:

In Ihrer Heimat befinden sich Ihre Großmutter sowie zahlreiche Tanten. So gaben Sie selbst an, dass sich Ihre Tanten in Gudermes und Grosny und Ihre Großmutter in XXXX aufhalten. Des Weiteren führten Sie Cousins und Cousinen in Ihrer Heimat an. Es ist daher davon auszugehen, dass Sie bei einer Rückkehr von Ihrer Familie, zumindest aber von Ihrer Großmutter, mit welcher Sie auch in Kontakt sind, unterstützt werden.

Zudem sind Sie ein junger, gesunder Mann im arbeitsfähigen Alter, der mit Sicherheit fähig und in der Lage ist, seinen unbedingt notwendigen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Sie sprechen auch nach wie vor Ihre Mutterspruche, gaben Sie dies am 13.9.2017 an."

6. Gegen den oben angeführten Bescheid wurde mit Schriftsatz vom 13.04.2018 unter gleichzeitiger Bekanntgabe des im Spruch ersichtlichen Vollmachtsverhältnisses fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde im vollen Umfang erhoben. Begründend wurde im Wesentlichen geltend gemacht, bei den dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Straftat handle es sich nicht um ein besonders schweres Verbrechen im Sinne der höchstgerichtlichen Judikatur, der Strafrahmen sei nicht ausgeschöpft worden. Überdies sei der BF wegen guter Führung nach 2 Jahren und 4 Monaten aus der Haft entlassen worden. Diese Verurteilung sei ihn überdies in der Einvernahme nicht vorgehalten worden, weswegen sein Recht auf Parteiengehör verletzt worden sei Hätte die belangte Behörde eine mängelfreie Zukunftsprognose angestellt, hätte sie berücksichtigen müssen, dass der Beschwerdeführer in Österreich sehr gut integriert wäre und ein soziales Netz (Sohn, Lebensgefährtin) in Österreich habe. Auch wolle dieser die derzeitige Haftstrafe zum Anlass nehmen, sein Leben von Grund auf zu ändern, er bereue seine Straftat.

7. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 17.04.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde am 22.10.2018 durch Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses der entscheidenden Geschäftsabteilung zugewiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage des Verwaltungsaktes der belangten Behörde und der in diesem Verfahren herangezogenen Hintergrundberichte zur aktuellen Lage in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien wird seitens des Bundesverwaltungsgerichts Folgendes festgestellt:

1.1. Der Beschwerdeführer führt die im Spruch genannten Personalien, ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe.

Der Beschwerdeführer reiste als zehnjähriger gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte im September 2003 durch seinen gesetzlichen Vertreter einen Antrag auf internationalen Schutz.

In Tschetschenien leben acht Tanten und die Großmutter, welche des BF nach einer eventuellen Rückkehr unterstützen können.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.03.2018 wurde der dem Beschwerdeführer der mit Bescheid vom 17.12.2008 zur Zl D9 256151-0/2008/22E, gemäß § 11 Abs 1 Asylgesetz 1997 zuerkannte Status eines Asylberechtigten gemäß § 7 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG unter einem festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Weiters wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG, der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.).

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 52 Absatz 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, iVm § 9 Abs 2 und 3 BFa-VG als auf Dauer für unzulässig erklärt- Gemäß § 58 Abs 2 und 3 AsylG 2005 iVm § 57 und 55 AsylG wurde eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 Abs 1 AsylG erteilt (Sp. III.).

1.1.1. Der Beschwerdeführer weist die folgenden strafgerichtlichen Verurteilungen auf:

LG XXXXvom 09.12.2015 RK 28.03.2017, § 297 (1) 2. Fall StGB, § 15 StGB §§ 144 (1), 145 (2) Z 1 StGB vom 19.03.2015, Freiheitsstrafe 3 Jahre 6 Monate.

Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer zum gegenständlichen Entscheidungszeitpunkt in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen würde oder von der Todesstrafe bedroht wäre. In diesem Zusammenhang wird insbesondere hervorgehoben, dass der Beschwerdeführer unter keinen schwerwiegenden Krankheiten leidet und einer Teilnahme am Erwerbsleben fähig ist.

1.2. Zum Herkunftsland des Beschwerdeführers (Russische Föderation respektive Tschetschenien) wird Folgendes festgestellt:

Politische Lage

Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).

Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).

Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).

Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,

http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017

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CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017

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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c24819, Zugriff 21.6.2017

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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017

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Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,

https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuer-moerder/274.903.855, Zugriff 13.7.2017

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RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,

http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017

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Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,

http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017

Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 21 Republiken der Russischen Föderation. Betreffend Fläche und Einwohnerzahl - 15.647 km2 und fast 1,3 Millionen Einwohner/innen (2010) - ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

Den Föderationssubjekten stehen Gouverneure vor. Gouverneur von Tschetschenien ist Ramsan Kadyrow. Er gilt als willkürlich herrschend. Russlands Präsident Putin lässt ihn aber walten, da er Tschetschenien "ruhig" hält. Tschetschenien wird überwiegend von Geldern der Zentralregierung finanziert. So erfolgte der Wiederaufbau von Tschetscheniens Hauptstadt Grosny vor allem mit Geldern aus Moskau (BAMF 10.2013, vgl. RFE/RL 19.1.2015).

In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres System geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und größtenteils außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert. So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens zurücktreten, nachdem er von Kadyrow kritisiert worden war, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter in die föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen im September 2016, wenn auch das Republikoberhaupt gewählt wird, durchzuführen. Die Entscheidung erklärte man mit potentiellen Einsparungen durch das Zusammenlegen der beiden Wahlgänge, Experten gehen jedoch davon aus, dass Kadyrow einen Teil der Abgeordneten durch jüngere, aus seinem Umfeld stammende Politiker ersetzen möchte. Bei den Wahlen vom 18. September 2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Den offiziellen Angaben zufolge wurde Kadyrow mit über 97% der Stimmen im Amt des Oberhauptes der Republik bestätigt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld HRW über Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte (ÖB Moskau 12.2016). In Tschetschenien hat das Republikoberhaupt Ramsan Kadyrow ein auf seine Person zugeschnittenes repressives Regime etabliert. Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 24.1.2017).

Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird hart vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die darauf aus wären, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtlern, aber auch von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert. Im März ernannte Präsident Putin Kadyrow im Zusammenhang mit dessen im April auslaufender Amtszeit zum Interims-Oberhaupt der Republik und drückte seine Unterstützung für Kadyrows erneute Kandidatur aus. Bei den Wahlen im September 2016 wurde Kadyrow laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt, wohingegen unabhängige Medien von krassen Regelverstößen bei der Wahl berichteten (ÖB Moskau 12.2016). Im Vorfeld dieser Wahlen zielten lokale Behörden auf Kritiker und Personen, die als nicht loyal zu Kadyrow gelten ab, z.B. mittels Entführungen, Verschwindenlassen, Misshandlungen, Todesdrohungen und Androhung von Gewalt gegenüber Verwandten (HRW 12.1.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):

Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

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HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/334746/476500_de.html, Zugriff 28.6.2017)

-

ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

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RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (19.1.2015): The Unstoppable Rise Of Ramzan Kadyrov, http://www.rferl.org/content/profile-ramzan-kadyrov-chechnya-russia-putin/26802368.html, Zugriff 21.6.2017

-

Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 21.6.2017

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).

Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens', bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).

Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist ein Ansteigen der Sympathien für den IS - v.a. auch auf Kosten des sog. Kaukasus-Emirats - festzustellen. Nicht nur die bislang auf Propaganda und Rekrutierung fokussierte Aktivität des IS im Nordkaukasus erregt die Besorgnis der russischen Sicherheitskräfte. Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar. Laut diversen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen kann man davon ausgehen, dass die Präsenz russischer Kämpfer in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasst. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresende 2015 liefen laut Angaben des russischen Innenministeriums rund 880 Strafprozesse, die meisten davon basierend auf den relevanten Bestimmungen des russischen StGB zur Teilnahme an einer terroristischen Handlung, der Absolvierung einer Terror-Ausbildung sowie zur Organisation einer illegalen bewaffneten Gruppierung oder Teilnahme daran. Laut einer INTERFAX-Meldung vom 2.12.2015 seien in Russland bereits über 150 aus Syrien zurückgekehrte Kämpfer verurteilt worden. Laut einer APA-Meldung vom 27.7.2016 hat der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB erläutert, das im Vorjahr geschätzte 3.000 Kämpfer nach Russland aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak oder Afghanistan zurückkehrt seien, wobei 220 dieser Kämpfer im besonderen Fokus der Sicherheitskräfte zur Vorbeugung von Anschlägen ständen. In einem medial verfolgten Fall griffen russische Sicherheitskräfte im August 2016 in St. Petersburg auf mutmaßlich islamistische Terroristen mit Querverbindungen zum Nordkaukasus zu. Medienberichten zufolge wurden im Verlauf des Jahres 2016 über 100 militante Kämpfer in Russland getötet, in Syrien sollen über 2.000 militante Kämpfer aus Russland bzw. dem GUS-Raum getötet worden sein (ÖB Moskau 12.2016).

Der russische Präsident Wladimir Putin setzt tschetschenische und inguschetische Kommandotruppen in Syrien ein. Bis vor kurzem wurden reguläre russische Truppen in Syrien überwiegend als Begleitcrew für die Flugzeuge eingesetzt, die im Land Luftangriffe fliegen. Von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - der Einsatz von Artillerie und Spezialtruppen in der Provinz Hama sowie von Militärberatern bei den syrischen Streitkräften in Latakia - hat Moskau seine Bodeneinsätze bislang auf ein Minimum beschränkt. Somit repräsentiert der anhaltende Einsatz von tschetschenischen und inguschetischen Brigaden einen strategischen Umschwung seitens des Kremls. Russland hat nun in ganz Syrien seine eigenen, der sunnitischen Bevölkerung entstammenden Elitetruppen auf dem Boden. Diese verstärkte Präsenz erlaubt es dem sich dort langfristig eingrabenden Kreml, einen stärkeren Einfluss auf die Ereignisse im Land auszuüben. Diese Streitkräfte könnten eine entscheidende Rolle spielen, sollte es notwendig werden, gegen Handlungen des Assad-Regimes vorzugehen, die die weitergehenden Interessen Moskaus im Nahen Osten unterlaufen würden. Zugleich erlauben sie es dem Kreml, zu einem reduzierten politischen Preis seine Macht in der Region zu auszubauen (Mena Watch 10.5.2017). Welche Rolle diese Brigaden spielen sollen, und ihre Anzahl sind noch nicht sicher. Es wird geschätzt, dass zwischen 300 und 500 Tschetschenen und um die 300 Inguscheten in Syrien stationiert sind. Obwohl sie offiziell als "Militärpolizei" bezeichnet werden, dürften sie von der Eliteeinheit Speznas innerhalb der tschetschenischen Streitkräfte rekrutiert worden sein (FP 4.5.2017).

Für den Kreml hat der Einsatz der nordkaukasischen Brigaden mehrere Vorteile. Zum einen reagiert die russische Bevölkerung sehr sensibel auf Verluste der russischen Armee in Syrien. Verluste von Personen aus dem Nordkaukasus würden wohl weniger Kritik hervorrufen. Zum anderen ist der wohl noch größere Vorteil jener, dass sowohl Tschetschenen, als auch Inguscheten fast alle sunnitische Muslime sind und somit derselben islamischen Richtung angehören, wie ein Großteil der syrischen Bevölkerung. Die mehrheitlich sunnitischen Brigaden könnten bei der Bevölkerung besser ankommen, als ethnisch russische Soldaten. Außerdem ist nicht zu vernachlässigen, dass diese Einsatzkräfte schon über Erfahrung am Schlachtfeld verfügen, beispielsweise vom Kampf in der Ukraine (FP 4.5.2017).

Bis jetzt war der Einsatz der tschetschenischen und inguschetischen Bodentruppen auf Gebiete beschränkt, die für den Kreml von entscheidender Bedeutung waren. Obwohl es momentan eher unwahrscheinlich scheint, dass die Rolle der nordkaukasischen Einsatzkräfte bald ausgeweitet wird, agieren diese wohl weiterhin als die Speerspitze in Moskaus Strategie, seinen Einfluss in Syrien zu vergrößern (FP 4.5.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.7.2017b): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_93DF338D07240C852A755BB27CDFE343/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/RussischeFoederationSicherheit_node.html, Zugriff 21.7.2017

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FAZ (26.4.2017):"Erst der Anfang", http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/anschlag-in-st-petersburg-russland-steht-im-visier-von-terror-14989012.html, Zugriff 21.7.2017

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FP - Foreign Policy (4.5.2017): Putin has a new secret weapon in Syria: Chechens,

http://foreignpolicy.com/2017/05/04/putin-has-a-new-secret-weapon-in-syria-chechens/, Zugriff 21.7.2017

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ICG - International Crisis Group (14.3.2016): The North Caucasus Insurgency and Syria: An Exported Jihad?

http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1458642687_238-the-north-caucasus-insurgency-and-syria-an-exported-jihad.pdf, S. 16-18, Zugriff 21.7.2017

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ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

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Mena Watch (10.5.2017): Russland setzt auf sunnitische Soldaten in Syrien,

http://www.mena-watch.com/russland-setzt-auf-sunnitische-soldaten-in-syrien/, Zugriff 21.7.2017

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Standard (25.4.2017): Al-Kaida reklamiert Anschlag auf U-Bahn in St. Petersburg für sich,

https://derstandard.at/2000056544365/Al-Kaida-reklamiert-Anschlag-auf-U-Bahn-in-St-Petersburg?ref=rec, Zugriff 21.7.2017

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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