TE Bvwg Beschluss 2018/11/23 W263 2207290-1

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Veröffentlicht am 23.11.2018
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Entscheidungsdatum

23.11.2018

Norm

AVG §69
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W263 2207290-1/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch die Richterin Mag. Christina KERSCHBAUMER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , vertreten durch Strohmayer Heihs Strohmayer Schlor Rechtsanwälte OG, Herrengasse 3-5, 3100 St. Pölten, gegen den Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt vom 01.08.2018, GZ: XXXX , wegen Wiederaufnahme des Verfahrens betreffend den Bescheid vom 28.05.2015, den Beschluss:

A)

Der Bescheid wird gemäß § 31 iVm. § 28 Abs. 3 zweiter Satz des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (VwGVG) aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Pensionsversicherungsanstalt zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1. Der nunmehrige Beschwerdeführer stellte im "Erstverfahren" am 19.03.2015 einen Antrag auf Gewährung einer Invaliditätspension bei der Pensionsversicherungsanstalt (im Folgenden: PVA).

2. Mit Bescheid der PVA vom 28.05.2015 wurde dieser Antrag abgelehnt: Das Vorliegen originärer Invalidität zum Zeitpunkt der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung werde anerkannt. Der Beschwerdeführer habe bis zum Stichtag nicht die erforderliche Mindestanzahl von 120 Beitragsmonaten der Pflichtversicherung erworben. Der Antrag sei daher abzulehnen gewesen.

Dieser Bescheid blieb unbekämpft.

3. Ein weiterer Antrag des Beschwerdeführers vom 25.01.2017 auf Gewährung einer Invaliditätspension wurde mit Bescheid der PVA vom 30.03.2017 mit im Wesentlichen gleicher Begründung abgelehnt.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer Klage beim Landesgericht St. Pölten als Sozialgericht und zog diese in der Tagsatzung am 13.04.2018 zurück.

3. Der Beschwerdeführer stellte in der Folge einen Antrag, datiert 16.04.2018, auf Wiederaufnahme des Verfahrens und brachte zusammengefasst vor, dass der Bescheid vom 28.05.2015 in Rechtskraft erwachsen sei.

Der weitere Bescheid vom 30.03.2017 sei mittels Klage bekämpft worden. Vor dem Landesgericht St. Pölten als Sozialgericht sei unter der GZ XXXX ein Verfahren geführt worden, in dessen Beweisverfahren die Frage des Vorliegens originärer Invalidität geklärt worden sei.

Das gerichtliche Beweisverfahren habe ergeben, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Aufnahme seiner ersten Erwerbstätigkeit - sohin mit Eintritt ins Erwerbsleben - noch in der Lage gewesen sei, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen. Dies unter Einsichtnahme in seine Schulzeugnisse, Zeugeneinvernahme seines ehemaligen Vorgesetzten XXXX in der Tagsatzung vom 13.04.2018 sowie Beurteilung seiner Krankengeschichte durch die gerichtlich beeidete Sachverständige Dr. XXXX . Erst durch die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes sei zu einem späteren Zeitpunkt Invalidität im Sinne des § 255 Abs. 3 ASVG eingetreten.

Diese Feststellungen hätten sich im Rahmen der mündlichen Erörterung des neurologisch- psychiatrischen Gutachtens mit der Sachverständigen XXXX in der Tagsatzung vom 13.04.2018 ergeben.

Durch die Einvernahme seines ehemaligen Dienstgebers sowie die Beurteilung seines Gesundheitszustandes durch die vom Gericht beauftragte Sachverständige würden nunmehr neue Beweismittel vorliegen, die geeignet seien, eine anderslautende Entscheidung hinsichtlich seines Antrages auf Gewährung einer Invaliditätspension hervorzurufen und sohin eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu rechtfertigen.

Dies im Besonderen aufgrund der Tatsache, dass der im Jahr 2015 zu Unrecht im abweisenden Sinne ergangene Bescheid, einer positiven Entscheidung im geführten gerichtlichen Verfahren entgegengestanden sei.

4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid der PVA vom 01.08.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 18.04.2018 auf Wiederaufnahme des mit Bescheid vom 28.05.2015 rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens betreffend den Antrag vom 19.03.2015 auf Gewährung einer Invaliditätspension abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, dass der Bescheid vom 28.05.2015 innerhalb der Rechtsmittelfrist nicht bekämpft worden sei und somit in Rechtskraft erwachsen sei.

Am 25.01.2017 sei ein weiterer Antrag auf Gewährung einer Invaliditätspension gestellt worden, welcher mit Bescheid vom 30.03.2017 mangels Vorliegens von 120 Beitragsmonaten der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit abgelehnt worden sei, zumal der Beschwerdeführer bereits vor der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außerstande gewesen sei, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen. Gegen diesen Bescheid sei fristgerecht Klage erhoben worden. Diese sei in der Tagsatzung am 13.04.2018 zurückgezogen worden.

Gegenständlich sei zur Begründung der Wiederaufnahme auf das im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholte neurologisch-psychiatrische Gutachten vom 11.09.2017 sowie auf die Ausführungen der Sachverständigen in der gerichtlichen Tagsatzung am 13.04.2018 verwiesen worden, somit auf Beweismittel, welche erst ungefähr zwei Jahre nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens entstanden seien.

Es handle sich daher um erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens neu entstandenen Beweismittel.

Es seien zudem weder durch die Angaben des Zeugen XXXX noch durch die mündlichen Ausführungen der Sachverständigen Dr. XXXX in der gerichtlichen Tagsatzung am 13.04.2018 neue Tatsachen hervorgekommen, welche einen anderslautenden Bescheid herbeigeführt hätten, wozu näher ausgeführt wurde.

Weiters würde weder ein einem Sachverständigen in seinem Gutachten unterlaufener Irrtum noch neue Schlussfolgerungen eines dem Verwaltungsverfahren nicht beigezogenen Sachverständigen einen Wiederaufnahmegrund darstellen.

Die Partei, welche dem Wiederaufnahmeantrag gestellt habe, dürfe zudem kein Verschulden daran treffen, dass die neuen hervorgekommenen Tatsachen oder das neue vorgekommene Beweismittel nicht berücksichtigt werden habe können.

Der Beschwerdeführer hätte bereits im Rahmen des im Jahr 2015 durchgeführten Verwaltungsverfahrens bzw. im Rahmen eines durch Erhebung einer Klage gegen diesen Bescheid eingeleiteten sozialgerichtlichen Verfahrens die Möglichkeit gehabt, seinen ehemaligen Dienstgeber als Zeugen namhaft zu machen. Zudem hätte er bereits zum damaligen Zeitpunkt in einem sozialgerichtlichen Verfahren die Einholung eines weiteren Gutachtens aus dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie beantragen können. Es müsse daher davon ausgegangen werden, dass den Beschwerdeführer ein Verschulden treffe.

5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mittels seines Rechtsvertreters fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen ergänzend vor, dass sich die belangte Behörde bei ihrer abweisenden Argumentation auf veraltete Rechtsprechung stütze. Zuletzt habe der Verwaltungsgerichtshof zu Rechtssatz Ra 2017/19/0120 ausgeführt, dass auch neue, erst später entstandene Beweismittel einen Wiederaufnahmegrund bilden, sofern sie sich auf "alte" Tatsachen beziehen würden, wie dies hier mit dem Gesundheitszustand im Zeitpunkt des Beginns der Erwerbstätigkeit der Fall sei.

Die belangte Behörde habe mit dem Verweis auf eine jedenfalls vorliegende originäre Invalidität überschießende Feststellungen im Wiederaufnahmeverfahren getroffen. Die inhaltliche Entscheidung sei dem wieder aufgenommenen Verfahren vorbehalten. Die medizinischen Erkenntnisse aus dem genannten Gerichtsverfahren würden jedenfalls geeignet erscheinen, um zu einer anderen Entscheidung zu gelangen.

Mit dem Verweis auf ein vorliegendes Verschulden des Beschwerdeführers übersehe die belangte Behörde, dass es keinerlei Beweisergebnisse oder Feststellungen dazu gebe, ob der Beschwerdeführer im Jahr 2015 gesundheitlich überhaupt dazu in der Lage gewesen sei, die Tragweite seiner Entscheidung - nämlich den Bescheid vom 28.05.2018 unbekämpft zu lassen - einzusehen und daher schuldhaft zu handeln. Seine Erkrankungen hätten es ihm in dieser Zeit jedenfalls unmöglich gemacht, diese Einsicht zu haben und entsprechend zu handeln, sodass ein schuldhaftes Unterlassen der Klage gegen den Bescheid nicht gegeben wäre. Sämtliche zur Beurteilung dieser Frage notwendigen medizinischen Unterlagen würden auch der belangten Behörde aus den gerichtlich geführten Verfahren zu XXXX vorliegen. Zur Verdeutlichung werde der bereits auch vorliegende Arztbrief XXXX vom 15.05.2013 vorgelegt, aus welchem sich bei den Diagnosen bereits zwei Jahre vor der Bescheiderlassung die Erkrankungen: Persönlichkeitsstörung, rezidivierende depressive Episode, gen. Angststörung, intermitt. Alkoholabusus mit Verhaltensstörung durch Alkohol, ergeben würden. Ebenso würden sich diese Diagnose im Entlassungsbrief des XXXX vom 12.05.2016 finden. All dies sein klarer Hinweis darauf, dass keine ausreichende Einsichtsfähigkeit im Jahr 2015 bestanden habe, sodass ein Verschulden nicht gegeben sein könne.

Die im Wiederaufnahmeantrag vorgebrachten Gründe hätten im Jahr 2015 noch nicht vorgelegen, sondern werden nur allenfalls das Ergebnis eines weiteren gerichtlichen Verfahrens gewesen. Konkrete Gründe seien also noch nicht vorgelegen, die bereits damals vorgebracht hätten werden können.

6. Die Beschwerde wurde gemäß § 14 Abs. 2 letzter Satz VwGVG dem Bundesverwaltungsgericht unter Anschluss der Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt. In der Stellungnahme führte die PVA ergänzend aus: Dafür, dass dem Beschwerdeführer im Jahr 2015 die Einsichts- und Urteilsfähigkeit gefehlt hätte, gebe es keine ausreichenden Anhaltspunkte und sei darauf hingewiesen, dass eine Sachwalterschaft weder zum damaligen Zeitpunkt noch aktuell aktenkundig sei, weshalb - bis zum Vorliegen eines gegenteiligen medizinischen Sachverständigengutachtens - davon auszugehen sei, dass der Beschwerdeführer über die erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit - trotz unbestrittener Maßen bestehender gesundheitlicher Beeinträchtigungen - verfüge bzw. verfügt habe.

Es sei auch darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer im damaligen Verwaltungsverfahren vom Kriegsopfer-und Behindertenverband für Wien, Niederösterreich und Burgenland (im Folgenden: KOBV) qualifiziert vertreten worden sei. Eine Zweitschrift des Bescheides vom 28.05.2015 sei mit Schreiben vom gleichen Tag an den KOBV übermittelt worden.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer stellte erstmals am 19.03.2015 einen Antrag auf Gewährung einer Invaliditätspension bei der PVA.

Der Antrag vom 19.03.2015 wurde mit Bescheid vom 28.05.2015 abgewiesen.

Der Beschwerdeführer stellte in der Folge einen Antrag, datiert mit 16.04.2018, auf Wiederaufnahme des Verfahrens.

Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 01.08.2018 abgewiesen.

Nach dem Beiblatt zum ursprünglichen Antrag auf Invaliditätspension vom 09.04.2015 wurde unter Krankheiten, Leiden, Gebrechen angeführt:

"rez. Depression, gen. Angststörung mit Panikattacken, Soziophobie, schädlicher Gebrauch v. Alkohol, SMV". Unter Krankenhausaufenthalte der letzten drei Jahre wurde angeführt: XXXX im April 2012 (ca. zwei Wochen), XXXX von April 2013 bis Mai 2013.

Aus dem ärztlichen Gutachten zur Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit nach § 252 Abs. 2 Z 2 ASVG von 26.11.2014 ergeben sich folgende Diagnosen: Rezidivierende depressive Verstimmung, gegenwärtigen mittelgradig depressiv; ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung; Panikstörung; schädlicher Gebrauch von Alkohol; Soziophobie; Kaufsucht.

Nach dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 11.09.2017 war der Beschwerdeführer von Februar 2016 bis April/Mai 2016 wiederrum im Krankenhaus XXXX aufhältig. Weiters nehme der Beschwerdeführer nach dem dortigen Entlassungsbericht keinen realen Kontakt zu Personen außer zu Familienmitgliedern auf und agiere in einer virtuellen Welt. In einem Familiengespräch mit Sozialarbeiterin und Eltern sei man übereingekommen, dass eine Sachwalterschaft in finanziellen Angelegenheiten notwendig erscheine. Weiters werde versucht, eine WG für den Beschwerdeführer zu organisieren.

Das neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 11.09.2017 zitiert weiter ein psychiatrisch-neurologisches Sachverständigengutachten, Sachwalterschaftssache, von XXXX vom 25.09.2016 auszugsweise. Demnach wird aus psychiatrischer Sicht eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und ängstlich vermeidenden Anteilen diagnostiziert. Der Beschwerdeführer zieht sich aus der Realität in eine Fantasiewelt zurück. Die in den Vorbefunden beschriebene wahnhafte Symptomatik darf in diesem Fall als Reaktion im Sinne einer psychotischen Entgleisung verstanden werden. Es wird die Errichtung der Sachwalterschaft zur Regelung der finanziellen Angelegenheiten sowie Vertretung gegenüber privater Vertragspartner als medizinisch indiziert angesehen.

Als psychiatrische Diagnosen werden im neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 11.09.2017 genannt: Kombinierte Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und ängstlich vermeidenden Anteilen; rezidivierende depressive Störung mittelgradig; psychische- und Verhaltensstörung durch Alkohol, aktuell abstinent; Kaufsucht; soziale Phobie.

2. Beweiswürdigung:

Der oben angeführte Verfahrensgang bzw. Sachverhalt ergibt sich unmittelbar aufgrund der unbedenklichen und unzweifelhaften Aktenlage.

Insbesondere das Beiblatt zum Antrag auf Invaliditätspension, das ärztliche Gutachten zur Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit von November 2014 und das neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 11.09.2017 sowie der Entlassungsbericht des XXXX vom 12.05.2016 liegen im Akt ein. Nicht nachvollziehbar ist, wann das Gutachten der Sachverständigen XXXX der PVA vorgelegt worden ist. Der Bescheid vom 01.08.2018 bezieht sich jedenfalls auf dieses (s. S. 2).

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.

Gemäß § 9 Abs. 2 Z. 1 VwGVG ist belangte Behörde in den Fällen des Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG jene Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat - vorliegend sohin die PVA.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idF BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG - insbesondere mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles - und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

Zu Spruchteil A):

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn (1.) der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

(2.) die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz kann das Verwaltungsgericht, sofern die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat, den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Der Verwaltungsgerichtshof hat die Voraussetzungen, unter denen das Verwaltungsgericht von der in § 28 Abs. 3 VwGVG festgelegten Befugnis zur Aufhebung und Zurückverweisung Gebrauch machen darf, im Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, näher präzisiert.

Danach hat die meritorische Entscheidungspflicht des Verwaltungsgerichts Vorrang und bildet die Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme, deren Inanspruchnahme begründungspflichtig ist und die strikt auf den ihr gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist. Zur Aufhebung und Zurückverweisung ist das Verwaltungsgericht bei "krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken" befugt, was insbesondere dann der Fall ist, wenn die Verwaltungsbehörde "jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat", "lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt" oder "bloß ansatzweise ermittelt" hat oder wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden ("Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

Hat die Behörde erforderliche Ermittlungen zwar vorgenommen, die Ermittlungsergebnisse aber nicht ausreichend gewürdigt oder überhaupt davon abgesehen, diese in der Begründung des angefochtenen Bescheides darzulegen, so kommt eine Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht in Betracht. Dies ist etwa der Fall, wenn zwar die Bescheidbegründung dürftig ist, jedoch brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen (vgl. VwGH 10.09.2014, Ra 2014/08/0005; 17.02.2015, Ra 2014/09/0037; 27.01.2016, Ra 2015/08/0171 sowie 09.03.2016, Ra 2015/08/0025).

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes ist der oben dargelegte Maßstab betreffend die Anwendung von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG im vorliegenden Fall erfüllt, weil - wie aus den im Folgenden dargestellten Umständen ersichtlich - davon auszugehen ist, dass die belangte Behörde maßgeblich notwendige Ermittlungsschritte unterlassen hat:

Die maßgebenden Bestimmungen des AVG lauten:

"Wiederaufnahme des Verfahrens

§ 69. (1) Dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens ist stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und:

1. der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist oder

2. neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten, oder

3. der Bescheid gemäß § 38 von Vorfragen abhängig war und nachträglich über eine solche Vorfrage von der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. vom zuständigen Gericht in wesentlichen Punkten anders entschieden wurde;

4. nachträglich ein Bescheid oder eine gerichtliche Entscheidung bekannt wird, der bzw. die einer Aufhebung oder Abänderung auf Antrag einer Partei nicht unterliegt und die im Verfahren die Einwendung der entschiedenen Sache begründet hätte.

(2) Der Antrag auf Wiederaufnahme ist binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, wenn dies jedoch nach der Verkündung des mündlichen Bescheides und vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung geschehen ist, erst mit diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann der Antrag auf Wiederaufnahme nicht mehr gestellt werden. Die Umstände, aus welchen sich die Einhaltung der gesetzlichen Frist ergibt, sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen.

(3) Unter den Voraussetzungen des Abs. 1 kann die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann die Wiederaufnahme auch von Amts wegen nur mehr aus den Gründen des Abs. 1 Z 1 stattfinden.

(4) Die Entscheidung über die Wiederaufnahme steht der Behörde zu, die den Bescheid in letzter Instanz erlassen hat."

"Rechts- und Handlungsfähigkeit

§ 9. Insoweit die persönliche Rechts- und Handlungsfähigkeit von Beteiligten in Frage kommt, ist sie von der Behörde, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen."

"§ 11. Soll von Amts wegen oder auf Antrag gegen einen schutzberechtigten Beteiligten, der eines gesetzlichen Vertreters entbehrt, oder gegen eine Person, deren Aufenthalt unbekannt ist, eine Amtshandlung vorgenommen werden, so kann die Behörde, wenn die Wichtigkeit der Sache es erfordert, die Betrauung einer Person mit der Obsorge oder die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters oder Kurators beim zuständigen Gericht (§ 109 JN) veranlassen."

Die Wiederaufnahme des Verfahrens setzt nach § 69 Abs. 1 AVG voraus, dass es sich um ein Verwaltungsverfahren handelt, welches durch Bescheid erledigt wurde. Der verfahrensbeendende Bescheid muss bereits rechtsgültig erlassen, dh entweder mündlich verkündet oder schriftlich (in konventioneller oder elektronischer Form) zugestellt oder ausgefolgt worden sein und damit rechtliche Existenz erlangt haben (vgl Hengstschläger/Leeb, AVG § 69, Rz 1). Der Bescheid, mit dem das Verfahren abgeschlossen wurde, dessen Wiederaufnahme begehrt oder verfügt wird, muss in formelle Rechtskraft erwachsen sein, dh es darf - wie es in § 69 Abs. 1 erster Satz AVG heißt - "ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig" sein (vgl Hengstschläger/Leeb, AVG § 69, Rz 5, mwH).

Im vorliegenden Fall ist daher zunächst entscheidend, ob der Bescheid vom 28.05.2015 formell rechtskräftig ist. Aufgrund der Feststellungen ist jedoch zweifelhaft, ob der Bescheid vom 28.05.2015 rechtswirksam zugestellt worden ist bzw. ob der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Zustellung dieses Bescheides prozessfähig war. So wurde - wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt - im Jahr 2016 nach dem psychologisch-neurologischen Sachverständigengutachten, Sachwalterschaftssache, von XXXX vom 25.09.2016, eine Sachwalterschaft als medizinisch indiziert angesehen. Zuvor war der Beschwerdeführer von Februar 2016 bis Mai 2016 stationär in Psychotherapie im Krankenhaus XXXX und ergibt sich aus den vorliegenden Unterlagen eine bereits seit Jahren bestehende Krankengeschichte und sind die Diagnosen aus laienhafter Sicht im Wesentlichen gleichlautend.

Es ist darauf hinzuweisen, dass das Fehlen der Prozessfähigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen ist (VwGH 19.09.2000, 2000/05/0012). Für die Frage der Wirksamkeit einer Zustellung kommt es darauf an, ob der Zustellungsempfänger handlungsfähig war und nicht darauf, ob für ihn bereits ein Sachwalter bestellt worden ist (vgl. nochmals VwGH 19.9.2000, 2000/05/0012, mHa VwGH 24.11.1987, 87/11/0141).

Zur Frage der Wirkung der Bestellung eines Sachwalters führt der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung aus, dass die Sachwalterbestellung insofern konstitutiv wirkt, als ab ihrer Wirksamkeit die Prozess- und Handlungsfähigkeit im dort umschriebenen Ausmaß keinesfalls mehr gegeben ist (vgl. VwGH 23.04.1996, 95/11/0365, und VwGH 20.02.2002, 2001/08/0192). Sie wirkt weder zurück noch ist sie im dem Sinne konstitutiv, dass für Zeiträume vor der Bestellung des Sachwalters e contrario von der Prozessfähigkeit des Beteiligten auszugehen wäre. Vielmehr ist für diesen vergangenen Zeitraum aus der Sachwalterbestellung lediglich zu gewinnen, dass sich begründete Bedenken gegen die in Rede stehenden Fähigkeiten der betreffenden Person ergeben haben, sodass die vor diese Frage gestellte Behörde das Vorliegen dieser Fähigkeiten, dh der ausreichenden Diskretions- und Dispositionsfähigkeit zu den in Betracht kommenden Zeitpunkten zu prüfen hat (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 9, Rz 15, mwH). Für die Zeit vor der Sachwalterbestellung ist zu prüfen, ob der Beschwerdeführer schon damals nicht mehr prozessfähig gewesen ist und somit nicht mehr in der Lage war, Bedeutung und Tragweite des Verfahrens und der sich in diesem ereigneten prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten (vgl. VwGH 16.4.1984, 83/10/0254, 0255).

Vor dem Hintergrund der zitierten Rechtsprechung war es im vorliegenden Zusammenhang an der Behörde gelegen, die ausreichende Diskretions- und Dispositionsfähigkeit zum Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides vom 28.05.2015 zu prüfen; dies auch deshalb, weil das Fehlen der Prozessfähigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen ist. Auf ein Fehlen der ausreichenden Diskretions- und Dispositionsfähigkeit deuten im vorliegenden Fall die jahrelange, dokumentierte Krankengeschichte hin sowie die in den Jahren 2012 und (nach einem Suizidversuch) 2013 erfolgten Krankenhausaufenthalte, der im Jahr 2016 wiederrum erfolgte stationäre Krankenhausaufenthalt nach dessen Entlassungsbericht der Beschwerdeführer keine realen Kontakte zu Personen außer zu Familienmitgliedern aufnehme und das offenbar in einer Sachwalterschaftssache erstellte psychiatrisch-neurologische Gutachten vom 25.09.2016, wonach die Errichtung der Sachwalterschaft zur Regelung der finanziellen Angelegenheiten sowie die Vertretung gegenüber von privaten Vertragspartnern als medizinisch indiziert angesehen werde.

Hinsichtlich der für die Beurteilung des Eintritts der formellen Rechtskraft des Bescheides vom 28.05.2015 wesentlichen Frage der wirksamen Zustellung an den Beschwerdeführer oder einen von ihm bestellten Vertreter vor dem Hintergrund einer ausreichenden Diskretions- und Dispositionsfähigkeit des Beschwerdeführers finden sich jedoch weder Feststellungen im angefochtenen Bescheid, noch wurde dies im Rahmen eines Gutachtens von einem medizinischen Sachverständigen in Prüfung gezogen.

Soweit die belangte Behörde erstmals im Vorlageschreiben darauf hinweist, dass der Beschwerdeführer im damaligen Verfahren durch den KOBV qualifiziert vertreten gewesen sei und eine Zweitschrift des Bescheides auch an diesen übermittelt worden sei, so ist darin einerseits keine gesetzliche Vertretung zu sehen. Nur ein gültig zu Stande gekommenes Vollmachtsverhältnis bleibt von einem Verlust der Handlungsfähigkeit unberührt (vgl. VwGH 26.06.2002, 2000/04/0071). Zum anderen handelt es sich bei Zweitschriften grundsätzlich um Abschriften bzw. -lichtungen ohne Bescheidcharakter. Vorgelegt wurde lediglich das Begleitschreiben, nicht aber das im Vorlageschreiben als "Zweitschrift des Bescheids vom 28.05.2018" bezeichnete Schriftstück selbst sowie abgesehen von einem Schreiben des KOBV vom 17.03.2015 keine weiteren diesbezüglichen Unterlagen.

Die Behörde hat zur Frage, ob der Bescheid vom 28.05.2015 rechtswirksam zugestellt worden ist, nur unzureichende bzw. bloß ansatzweise Ermittlungen durchgeführt.

Angesichts des aufgezeigten Ermittlungsbedarfs erachtet das Bundesverwaltungsgericht ein Vorgehen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG erforderlich. Weder steht - wie dargetan - der maßgebliche Sachverhalt fest (Z 1 leg.cit.), noch wäre die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden (Z 2 leg.cit.).

Gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG konnte eine mündliche Verhandlung entfallen.

Zu Spruchteil B):

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

In der Beurteilung wurde unter Bezugnahme auf einschlägige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 23.04.1996, 95/11/0365; VwGH 20.02.2002, 2001/08/0192; VwGH 19.09.2000, 2000/05/0012; VwGH 24.11.1987, 87/11/0141) dargelegt, dass im Verfahren vor der belangten Behörde maßgeblich notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt keine grundsätzliche Rechtsfrage vor, vielmehr orientiert sich die Entscheidung an den oben zitierten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zur Anwendung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG.

Es ist daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung,
Prozessfähigkeit, Rechtskraft, Sachwalter, Wiederaufnahme

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W263.2207290.1.00

Zuletzt aktualisiert am

18.01.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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