TE Vwgh Erkenntnis 2018/12/13 Ra 2018/18/0395

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.12.2018
beobachten
merken

Index

E000 EU- Recht allgemein;
E3L E19103010;
E6J;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

32011L0095 Status-RL Art10 Abs1 litb;
32011L0095 Status-RL Art6;
32011L0095 Status-RL Art9 Abs1;
32011L0095 Status-RL Art9 Abs2;
62011CJ0071 Y und ZVORAB;
62017CJ0056 Fathi VORAB;
AsylG 2005 §3 Abs1;
EURallg;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des H N in S, vertreten durch DDr. Rainer Lukits, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Jänner 2018, Zl. W198 2165319- 1/6E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 19. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, er habe sich im Freundeskreis mehrfach kritisch über den Koran geäußert, weil er ohne Bekenntnis sei und nicht an Gott glaube. Einer seiner Gesprächspartner habe ihn deshalb an die Taliban verraten, die ihn in der Folge gesucht hätten, woraufhin der Revisionswerber die Flucht ergriffen habe.

2 Mit Bescheid vom 26. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4 Begründend stellte das BVwG - soweit entscheidungsrelevant -

fest, der Revisionswerber stamme aus der Provinz Wardak und sei konfessionslos. Beweiswürdigend erwog es, dass die Angaben des Revisionswerbers zu seiner Konfessionslosigkeit gleichlautend und somit glaubhaft gewesen seien. Der vorgebrachte Fluchtgrund, wonach die Taliban ihn wegen seiner kritischen Äußerungen zum Islam verfolgt hätten, sei jedoch aufgrund von näher dargestellten Widersprüchen nicht glaubhaft. Rechtlich folgerte das BVwG, dass dem Vorbringen des Revisionswerbers keine drohende individuelle Verfolgung zu entnehmen sei. Auch sei dem Revisionswerber subsidiärer Schutz nicht zuzuerkennen, weil ihm als gesundem, erwerbsfähigem Mann mit langjähriger Schulbildung und vorhandener Berufserfahrung als Tischler und Obsthändler eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul offenstehe.

5 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Zur Zulässigkeit und in der Sache wird darin unter anderem geltend gemacht, im angefochtenen Erkenntnis fehlten Feststellungen und Erwägungen zur Gefährdung des Revisionswerbers aufgrund seiner Konfessionslosigkeit. Das BVwG habe ausdrücklich die Konfessionslosigkeit des Revisionswerbers festgestellt, diese jedoch im angefochtenen Erkenntnis nicht weiter berücksichtigt, obwohl der Abfall vom Islam in Afghanistan eine maßgebliche Verfolgungsgefahr aus religiösen Gründen begründe. Dies ergebe sich etwa aus dem aktenkundigen Länderinformationsblatt Afghanistan, wonach Abtrünnigkeit vom Islam als Kapitalverbrechen angesehen werde. Auch der Revisionswerber habe im Verfahren mehrfach angegeben, aufgrund seiner Konfessionslosigkeit im Fall der Rückkehr nach Afghanistan mit dem Tod bedroht zu sein. Nichtsdestotrotz enthalte das angefochtene Erkenntnis keine Feststellungen zur Bedrohung von konfessionslosen Afghanen. Sogar der eigene Abschnitt des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zur Religionsfreiheit sei in den landeskundlichen Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses nicht enthalten. Auch rechtliche Überlegungen im Zusammenhang mit der festgestellten Konfessionslosigkeit des Revisionswerbers seien im angefochtenen Erkenntnis nicht aufzufinden. Das BVwG habe daher den maßgeblichen Sachverhalt in Bezug auf die Konfessionslosigkeit des Revisionswerbers nicht genügend erhoben und habe eine rechtliche Würdigung der festgestellten Konfessionslosigkeit unterlassen. Das angefochtene Erkenntnis entspreche aus diesen Gründen nicht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis u.a. auf VwGH 20.5.2015, Ra 2015/20/0067).

6 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Die Revision ist zulässig und begründet.

8 Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen - zulässigen - Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.

9 Die Verfolgung aus Gründen der Religion ist nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK geschützt, wobei der Begriff der Religion auch atheistische Glaubensüberzeugungen umfasst (vgl. Art. 10 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU - Statusrichtlinie).

10 In seinem Urteil vom 4. Oktober 2018, Bahtiyar Fathi, C-56/17, hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) jüngst präzisiert, dass eine "schwerwiegende Verletzung" der Religionsfreiheit vorliegen muss, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt, damit die betreffenden Handlungen als Verfolgung im asylrechtlichen Sinne (vgl. Art. 9 Abs. 1 und 2 der Statusrichtlinie) gelten können. Dieses Erfordernis ist erfüllt, wenn die Person, die internationalen Schutz beantragt, aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in ihrem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Die Tatsache, dass einem Asylwerber im Herkunftsstaat etwa aufgrund eines Gesetzes über Apostasie eine Todes- oder Freiheitsstrafe droht, kann für sich genommen eine "Verfolgung" im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie darstellen, sofern eine solche Strafe in dem Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird (Rn. 94 bis 96).

11 Im vorliegenden Fall hat das BVwG zwar den vom Revisionswerber behaupteten Verfolgungshandlungen durch die Taliban wegen kritischer Äußerungen zum Koran (vor seiner Flucht) keinen Glauben geschenkt. Es hat aber gleichzeitig festgestellt, dass der Revisionswerber konfessionslos sei, ohne sich weiter damit zu beschäftigen, ob ihm deshalb bei Rückkehr in den Herkunftsstaat Verfolgung im oben genannten Sinne drohen würde. Auf diese prognostische Einschätzung kommt es im Rahmen der asylrechtlichen Prüfung aber entscheidend an.

12 Zu Recht rügt die Revision daher, dass sich das BVwG weder in seinen Länderfeststellungen noch in den rechtlichen Erwägungen des angefochtenen Erkenntnisses damit auseinandergesetzt hat, ob der Revisionswerber bei Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Konfessionslosigkeit Verfolgung gewärtigen müsste. Es hat dadurch sein Erkenntnis mit einem wesentlichen Verfahrensmangel belastet, zumal der Revisionswerber zutreffend darauf verweist, dass selbst das aktenkundige Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Stand 11.5.2017) eine (mögliche) strafrechtliche Verfolgung im Herkunftsstaat wegen Apostasie anspricht.

13 Der EuGH hat in dem bereits zitierten Urteil Bahtiyar Fathi insoweit klargestellt, dass die Behörden der Mitgliedstaaten in Verfahren, in denen es um die Bestrafung von Handlungen im Zusammenhang mit der Ausübung der Religionsfreiheit geht, auf der Grundlage der Aussagen des Antragstellers und gegebenenfalls der von ihm vorgelegten Dokumente oder auf der Basis von Informationen aus zuverlässigen Quellen ermitteln müssen, ob die in den Regelungen des Herkunftsstaats vorgesehene Todes- oder Freiheitsstrafe in der Praxis verhängt wird. Im Licht dieser Informationen haben die nationalen Behörden zu entscheiden, ob der Antragsteller tatsächlich Grund zu der Befürchtung hat, nach der Rückkehr in sein Herkunftsland verfolgt zu werden (Rn. 98).

14 Das BVwG wird daher im fortgesetzten Verfahren konkrete und aktuelle Feststellungen darüber zu treffen haben, ob dem Revisionswerber bei Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Konfessionslosigkeit Verfolgung drohen würde.

15 Dazu bedarf es zunächst einer näheren Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Revisionswerber seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal versteht, die er auch in Afghanistan leben wird (vgl. dazu ebenfalls die Ausführungen des EuGH im zitierten Urteil Bahtiyar Fathi, Rn. 88, wonach neben der individuellen Lage und den persönlichen Umständen des Antragstellers u.a. dessen religiöse Überzeugungen und die Umstände ihres Erwerbs, die Art und Weise, in der der Antragsteller seinen Glauben bzw. Atheismus versteht und lebt, sein Verhältnis zu den doktrinellen, rituellen oder regulatorischen Aspekten der Religion, der er nach eigenen Angaben angehört bzw. den Rücken kehren will, seine etwaige Rolle bei der Vermittlung seines Glaubens oder auch ein Zusammenspiel von religiösen Faktoren und identitätsstiftenden, ethnischen oder geschlechtsspezifischen Faktoren zu berücksichtigen sind).

16 Überdies ist auf das Urteil des EuGH vom 5. September 2012, Y und Z, C-71/11 und C-99/11, hinzuweisen, wonach eine begründete Furcht des Antragstellers vor Verfolgung vorliegt, sobald nach Auffassung der zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Antragstellers vernünftigerweise anzunehmen ist, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling können die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten, auf diese religiösen Betätigungen zu verzichten.

17 Nichts anderes kann gelten, wenn - wie im vorliegenden Fall - die "religiösen Betätigungen" darin liegen, den im Herkunftsstaat vorgeschriebenen Glauben nicht leben zu wollen, sondern sich - eben gerade durch das Unterlassen (erwarteter) religiöser Betätigungen - zu seiner Konfessionslosigkeit zu bekennen.

18 Sollte das BVwG zu dem Ergebnis gelangen, dass der Revisionswerber sich bei Rückkehr nach Afghanistan zu seiner Konfessionslosigkeit im zuvor genannten Sinne bekennen wird, hat es sich näher damit zu beschäftigen, ob ihm in diesem Fall tatsächlich Verfolgung drohen wird. Neben einer strafrechtlichen Verfolgung durch die staatlichen Behörden kämen dabei auch andere Verfolgungshandlungen nach Art. 9 der Statusrichtlinie durch Akteure im Sinne von Art. 6 der Statusrichtlinie in Betracht, vor denen ihn die Sicherheitsbehörden des Herkunftsstaates nicht schützen können oder wollen.

19 Das angefochtene Erkenntnis, das all diese Erwägungen vermissen lässt, war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 13. Dezember 2018

Gerichtsentscheidung

EuGH 62017CJ0056 Fathi VORAB
EuGH 62011CJ0071 Y und Z VORAB

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018180395.L00.1

Im RIS seit

15.01.2019

Zuletzt aktualisiert am

04.02.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten