TE Vfgh Erkenntnis 2018/9/24 E1416/2018

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Veröffentlicht am 24.09.2018
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art8
AsylG 2005 §55
BFA-VG §9

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens betreffend einen afghanischen Staatsangehörigen aufgrund unzureichender Interessensabwägung hinsichtlich der Auswirkungen der Außerlandesbringung auf das Familienleben und das Kindeswohl der Tochter

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.       Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 23. August 2008 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde zurückgewiesen und der Beschwerdeführer wurde am 20. Jänner 2009 nach Italien überstellt. In Italien wurde dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Der Beschwerdeführer reiste am 27. August 2012 erneut ins österreichische Bundesgebiet ein und kehrte am 2. Oktober 2013 unter Gewährung von Rückkehrhilfe freiwillig in seinen Herkunftsstaat Afghanistan zurück. Am 7. April 2014 stellte der Beschwerdeführer neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, der – verbunden mit einer Anordnung zur Außerlandesbringung nach Italien – zurückgewiesen wurde. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde abgewiesen. Am 5. April 2016 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art8 EMRK gemäß §55 Abs1 AsylG 2005. Er begründete diesen Antrag damit, er führe seit dem 8. September 2015 eine Ehe mit einer afghanischen Staatsbürgerin in Österreich, der der Status einer Asylberechtigten zuerkannt worden sei. Seit 6. August 2015 lebten sie in einem gemeinsamen Haushalt und am 4. Oktober 2015 sei die gemeinsame Tochter geboren worden, der ebenfalls der Status einer Asylberechtigten zuerkannt worden sei. Das Familienleben lasse sich grenzüberschreitend nicht aufrecht erhalten und eine dauerhafte Familienzusammenführung in Italien sei wirtschaftlich nicht möglich. Am 14. November 2016 brachte der Beschwerdeführer Säumnisbeschwerde gemäß Art130 Abs1 Z3 B-VG ein.

2.       Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28. Jänner 2017 wurde der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art8 EMRK gemäß §55 AsylG 2005 abgewiesen. Begründend wurde im Wesentlichen angeführt, es bestehe zwar ein schützenswertes Familienleben, dieses erfahre jedoch auf Grund des längerfristigen unrechtmäßigen Aufenthaltes des Beschwerdeführers im Bundesgebiet und der Missachtung gesetzlicher Vorschriften und behördlicher Anordnungen im Hinblick auf die Bedeutung eines geordneten Fremdenwesens eine erhebliche Minderung, sodass die Abwägung der Interessen im Ergebnis zu Lasten des Beschwerdeführers ausfallen müsse. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte weiter aus, da gegen den Beschwerdeführer eine durchsetzbare und rechtskräftige Ausreiseentscheidung bestehe, sei die Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung in Verbindung mit der Abweisung des Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art8 EMRK gemäß §55 AsylG 2005 nicht erforderlich.

3.       Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 13. März 2018 als unbegründet ab und sprach die Unzulässigkeit der Revision an den Verwaltungsgerichtshof aus (Spruchpunkt I.). Das Verfahren über die Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wurde gemäß §31 Abs1 iVm §16 Abs1 VwGVG eingestellt. Die Revision wurde insoweit für gemäß Art133 Abs4 B-VG zulässig erklärt (Spruchpunkt II.).

3.1.    Der Beschwerdeführer habe als familiäre Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet seine Ehegattin und seine minderjährige, in Österreich geborene, Tochter, die beide über die afghanische Staatsangehörigkeit und den Status der Asylberechtigten verfügten. Seit August 2015 lebe der Beschwerdeführer mit seiner Ehegattin und später auch mit der gemeinsamen Tochter im gemeinsamen Haushalt. Es sei daher von einem bestehenden Familienleben des Beschwerdeführers in Österreich auszugehen. Die nach Art8 Abs2 EMRK gebotene Abwägung falle nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes dennoch zu Lasten des Beschwerdeführers aus. Der Beschwerdeführer habe seit seiner erstmaligen Einreise nach Österreich im August 2008 nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des bloß vorübergehenden Aufenthaltsrechts des Asylverfahrens verfügt. Nach seiner Überstellung nach Italien am 20. Jänner 2009 sei er zwei weitere Male nach Österreich eingereist; beim ersten Mal sei er am 2. Oktober 2013 unter Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt und beim zweiten Mal habe er am 7. April 2014 einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt, der im August 2015 erneut (rechtskräftig) als unzulässig zurückgewiesen worden sei.

3.2.    Das Familienleben des Beschwerdeführers sei erst im Jahr 2015 begründet worden und somit zu einem Zeitpunkt entstanden, als gegenüber dem Beschwerdeführer – basierend auf sehr rasch durchgeführten Verfahren – bereits eine rechtskräftige asylrechtliche und fremdenpolizeiliche Entscheidung einschließlich einer rechtskräftigen Ausweisung ergangen gewesen sei; auf Grund dieser Entscheidung sei der Beschwerdeführer nach Italien überstellt worden. Ungeachtet dieser Entscheidung sei der Beschwerdeführer erneut nach Österreich eingereist und habe neuerlichen einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Das Familienleben des Beschwerdeführers habe während seines Aufenthaltes in Österreich daher nur deshalb entstehen und fortgesetzt werden können, weil die gegenüber dem Beschwerdeführer ergangenen asylrechtlichen und fremdenpolizeilichen Entscheidungen missachtet geblieben seien und der Beschwerdeführer beharrlich neuerliche Anträge gestellt habe, seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen und zum ganz überwiegenden Teil unrechtmäßig im österreichischen Bundesgebiet verblieben sei.

3.3.    Zu Lasten des Beschwerdeführers sei auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer sich jedenfalls ab dem Zeitpunkt der rechtskräftigen Zurückweisung seines Antrages im Dezember 2008 habe bewusst sein müssen, dass sein Aufenthalt in Österreich unsicher und zeitlich begrenzt sein würde. Er habe nicht auf einen dauerhaften rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich vertrauen dürfen. Das nach diesem Zeitpunkt entstandene Familienleben werde daher in seinem Gewicht erheblich herabgemindert.

3.4.    Soweit der Beschwerdeführer in seiner in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Stellungnahme auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes VfSlg 19.203/2010 verweise, sei ihm entgegen zu halten, dass dem vorliegenden Fall ein ganz anderer Sachverhalt zugrunde liege. In diesem Fall sei die Integration während eines sieben Jahre lang währenden einzigen Asylverfahrens erfolgt, in dem keine einzige rechtskräftige Entscheidung ergangen sei. Der Verfassungsgerichtshof habe dies ausdrücklich gerade jenen Fällen wie dem des Beschwerdeführers gegenüber gestellt, in denen die Integration auf einem nur durch Folgeanträge begründeten unsicheren Aufenthaltsstatus basiert habe. Auch dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 19. September 2014, U2377/2012, auf das ebenso in der Stellungnahme hingewiesen werde, habe ein Sachverhalt zugrunde gelegen, in dem die Integration während einer Zeit erfolgt sei, in der noch keine rechtskräftige Entscheidung vorgelegen habe. Für die Beschwerde sei folglich aus den beiden Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes nichts zu gewinnen.

3.5.    Da ein alleine durch beharrliche Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkter Aufenthalt keinen Rechtsanspruch aus Art8 EMRK bewirken könne (das Bundesverwaltungsgericht verweist auf das Erkenntnis VfSlg 19.086/2010 des Verfassungsgerichtshofes), sei die belangte Behörde nach Maßgabe einer Interessenabwägung im Sinne des §9 BFA-VG unter dem Aspekt des Familienlebens folglich zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes des Beschwerdeführers im Bundesgebiet das persönliche Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet überwiege und daher eine Verletzung des Art8 EMRK nicht vorliege.

3.6.    Auch unter dem Aspekt des Privatlebens träten in einer Interessenabwägung die privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem weiteren Aufenthalt in Österreich hinter die öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen zurück. Dem Beschwerdeführer sei zu Gute zu halten, dass er in Österreich Deutschkurse besucht habe und über Kenntnisse der deutschen Sprache zumindest auf dem Niveau A2 verfüge. Weiters berücksichtige das Bundesverwaltungsgericht auch den Umstand, dass der Beschwerdeführer sich 2015 ehrenamtlich als Übersetzer engagiert habe und dass er gelegentlich als Musiker auftrete. In der vorzunehmenden Interessenabwägung sei zugunsten des Beschwerdeführers daher jedenfalls zu berücksichtigen, dass er sich in der Zeit seines Aufenthaltes im Bundesgebiet um eine Integration in Österreich, obgleich in eher bescheidenem Maße, bemüht gezeigt habe. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer strafrechtlich unbescholten sei, vermöge nicht entscheidend zu seinen Gunsten zu wirken. Da er über keine Aufenthaltsberechtigung und über keine Arbeitserlaubnis verfügt habe, komme den vom Beschwerdeführer ausgeübten Beschäftigungen sowie einer Arbeitsplatzzusage keine wesentliche Bedeutung zu.

3.7.    Es sei zudem festzuhalten, dass dem Zeitraum des mehrmals unterbrochenen Aufenthaltes des Beschwerdeführers, in dem er die angeführten Integrationsschritte gesetzt habe, mit insgesamt etwa fünf Jahren im Sinne der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich allein betrachtet keine maßgebliche Bedeutung für die Interessenabwägung zukomme. Für diesen Zeitraum habe der Beschwerdeführer jedenfalls keine Integrationsleistung erbracht, die in Anbetracht der Zeit seines Aufenthaltes im Bundesgebiet für seinen Verbleib in Österreich Ausschlag geben würde. Das Interesse des Beschwerdeführers an der Aufrechterhaltung privater Kontakte in Österreich sei erheblich dadurch geschwächt, dass der Aufenthalt seit 2009 allein durch Folgeanträge und beharrliche Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkt worden sei und der Beschwerdeführer sich seines unrechtmäßigen und unsicheren Aufenthaltes stets habe bewusst sein müssen. Die öffentlichen Interessen wögen im vorliegenden Fall schwerer als die Interessen des Beschwerdeführers. Außerdem sei es dem Beschwerdeführer bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen auch nicht verwehrt, wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren.

3.8.    Das Verfahren über die Säumnisbeschwerde stellte das Bundesverwaltungsgericht ein, weil ein Bescheid fristgerecht nachgeholt worden sei.

4.       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und gleichzuhaltenden Rechten aus der Grundrechte-Charta, insbesondere Art7 GRC, Art24 GRC und Art8 EMRK, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Begründend wird dazu im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

4.1.    Auf den vorliegenden Fall sei die Grundrechte-Charta anzuwenden. Die Gestaltung der "Aufenthaltsberechtigung plus", die im Fall einer Stattgabe eines Antrages gemäß §55 AsylG 2005 auszustellen sei, sei bezeichnender Weise unionsrechtlich geregelt (Verordnung [EG] Nr 380/2008 zur Änderung der Verordnung [EG] Nr 1030/2002 zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenangehörige, Abl. L 115, 1). Falle ein Sachverhalt unter das Unionsrecht, sei Art7 GRC anzuwenden, der auch Maßstab für die Normenkontrolle im Sinne des Erkenntnisses VfSlg 19.632/2012 des Verfassungsgerichtshofes sei. Falle der Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, sei eine Prüfung im Lichte von Art8 Abs1 EMRK vorzunehmen. Die Anwendung von Art8 EMRK anstelle von Art7 GRC sei daher verfehlt gewesen. Eine kumulative Anwendung von Art7 GRC und Art8 EMRK werde ebenso ausgeschlossen wie Überlegungen hinsichtlich einer Übertragung der Schrankenregelung auf die jeweils andere Bestimmung.

4.2.    Im vorliegenden Fall sei die nationale Vorschrift des §55 AsylG 2005 nach dem Maßstab von Art7 GRC zu prüfen und es sei auch zu berücksichtigen, dass Art7 GRC iVm der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohles nach Art24 Abs2 GRC und unter Beachtung des in Art24 Abs2 GRC niedergelegten Grundrechts des Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen zu lesen sei. Eine Prüfung des Sachverhaltes unter dem Gesichtspunkt des Art7 GRC habe ebenso wenig stattgefunden wie eine Prüfung unter dem Gesichtspunkt des Günstigkeitsvergleiches mit Art8 EMRK. Einschränkungen des Art7 GRC gemäß Art52 Abs1 GRC seien offensichtlich verfehlt, da die Wahrung der Familieneinheit eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung sei, wie auch im Erwägungsgrund 4 der Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl. 2003, L 251, 12, explizit formuliert werde. Die Anwendung des Art7 GRC im Sinne des letzten Satzes von Art52 Abs3 GRC gewähre einen weitergehenden Schutz als Art8 EMRK, da die Rechtfertigung eines Eingriffes in das Recht gemäß Art8 Abs1 EMRK unter Bezugnahme auf "nationale Sicherheit", "wirtschaftliches Wohl des Landes" usw nicht in Betracht komme.

4.3.    Das angefochtene Erkenntnis stehe aber zudem im Widerspruch zu Art8 EMRK. Verabsäumt werde vor allem, dass das Kindeswohl bei der Interessenabwägung nach §9 BFA-VG zu berücksichtigen sei. Die vorgenommene Abwägung sei unverhältnismäßig, da sie zu einer Trennung des Kindes vom Vater bzw von der Mutter führe, wodurch eine Situation entstehe, die – vergleichbar zu Art19 Abs2 GRC – einer unmenschlichen Behandlung gleiche.

5.       Das Bundesverwaltungsgericht legte die Gerichts- und Verwaltungsakten vor, sah jedoch – ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II.      Rechtslage

Der im vorliegenden Fall einschlägige §55 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl I 100 idF BGBl I 68/2017, lautet:

"Aufenthaltstitel aus Gründen des Art8 EMRK

§55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine 'Aufenthaltsberechtigung plus' zu erteilen, wenn

1. dies gemäß §9 Abs2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß §9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl I Nr 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§5 Abs2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl I Nr 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs1 Z1 vor, ist eine 'Aufenthaltsberechtigung' zu erteilen."

III.    Erwägungen

1.       Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2.       Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

3.       Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art8 Abs2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:

3.1.    Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

3.2.    Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl EGMR 21.6.1988, Fall Berrehab, Appl 10.730/84 [Z21]; 26.5.1994, Fall Keegan, Appl 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR 19.2.1996, Fall Gül, Appl 23.218/94 [Z32]).

3.3.    Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl VfSlg 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR 25.2.1992, Fall Margareta und Roger Andersson, Appl 12963/87 [Z72] mwN; zu den Voraussetzungen für ein [potentielles] Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater siehe auch EGMR 15.9.2011, Fall Schneider, Appl 17.080/07 [Z81] mwN).

3.4.    Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art8 EMRK führen (vgl VfGH 28.2.2012, B1644/10 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl 50.435/99 sowie insbesondere EGMR 28.6.2011, Fall Nunez, Appl 55.597/09; 12.10.2016, E1349/2016).

Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind die konkreten Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung für ein Elternteil auf das Wohl eines Kindes zu ermitteln und bei der Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK zu berücksichtigen (vgl VfSlg 19.362/2011; VfGH 25.2.2013, U2241/12; 9.6.2016, E2617/2015; 19.6.2015, E426/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 14.3.2018, E3964/2017; 11.6.2018, E343/2018, E345/2018; 11.6.2018, E435/2018). Der Verfassungsgerichtshof nimmt an, es sei lebensfremd anzunehmen, dass der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrecht erhalten werden könne (vgl dazu VfGH 25.2.2013, U2241/12; 19.6.2015, E426/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 11.6.2018, E343/2018, E345/2018).

3.5.    Vor diesem Hintergrund erweist sich die Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK, die das Bundesverwaltungsgericht vornimmt, als unzureichend. Das Bundesverwaltungsgericht geht zwar bei seinen Feststellungen zum Sachverhalt und in der Beweiswürdigung von dem Umstand aus, dass der Beschwerdeführer eine Ehefrau und eine Tochter, beide afghanischer Staatsangehörigkeit, in Österreich hat, und es nimmt dementsprechend auch zutreffend an, dass ein Familienleben des Beschwerdeführers mit seiner Ehefrau und dem minderjährigen Kind vorliegt. Das Bundesverwaltungsgericht geht infolgedessen auch von einem Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens aus und nimmt eine Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK vor.

Im Ergebnis geht es aber – maßgeblich gestützt auf den Umstand, dass der Beschwerdeführer kontinuierlich fremden- und asylrechtliche Entscheidungen missachtet und die Ausreiseverpflichtung nicht befolgt habe – davon aus, der Eingriff sei gerechtfertigt, ohne bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen auf die Familie des Beschwerdeführers einzugehen. Es kommt zu dem Schluss, der allein durch die beharrliche Missachtung der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkte Aufenthalt begründe keinen Anspruch aus Art8 EMRK, weshalb die Abwägung der widerstreitenden Interessen zu Lasten des Beschwerdeführers ausgehen müsse.

3.6.    Dabei erörtert das Bundesverwaltungsgericht die Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Außerlandesbringung des Beschwerdeführers auf das Familienleben und auf das Kindeswohl der Tochter nicht. Insbesondere werden zu der mit der Rückkehr des Beschwerdeführers drohenden Trennung des Beschwerdeführers von seinem Kind keine Ausführungen gemacht (vgl zur Bedeutung der mit einer vergleichbaren Trennung verbundenen Auswirkungen VfSlg 19.362/2011). Das Kindeswohl und die Auswirkungen der Aufenthaltsbeendigung auf die Eltern-Kind-Beziehung finden keine Erwähnung. Das Bundesverwaltungsgericht vernachlässigt damit die grundrechtliche Verpflichtung, die Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung auf die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner Tochter und das Kindeswohl zu ermitteln (vgl zu dieser Verpflichtung VfSlg 19.362/2011 mwN; VfGH 12.10.2016, E1349/2016).

4.       Indem das Bundesverwaltungsgericht diese Umstände bei seiner Interessenabwägung nicht berücksichtigt hat, hat es – ungeachtet des Umstandes, dass das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Beschwerdeführer seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war (vgl zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach dieser Umstand zwar zu berücksichtigen ist, einen Eingriff in das Recht aus Art8 EMRK aber nicht ausschließt etwa VfGH 3.10.2012, U119/12; 25.3.2013, U2241/12) – diese mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Mangel belastet.

IV.      Ergebnis

1.       Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

2.       Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Privat- und Familienleben, Entscheidungsbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:E1416.2018

Zuletzt aktualisiert am

14.01.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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