Rechtssatznummer
1Entscheidungsdatum
11.12.2018Norm
AEUV Art. 49Rechtssatz
* Aus dem Blickwinkel der verfassungsmäßigen Funktion der Verwaltungsge-richtsbarkeit, die zentral darin besteht, den Bürger vor rechtswidrigen Eingrif-fen der Gesetzgebung und der Verwaltung zu schützen, erscheint es schon als a priori verfehlt, den Materialien im Zuge der Auslegung von Gesetzen eine vorrangige Bedeutung beizumessen; denn auf diese Weise würden in der Re-gel – und damit letztlich gleichsam systematisch – jene Versäumnisse, die der Behörde im Gesetzgebungsprozess unterlaufen sind und die zu korrigieren im Übrigen ohnehin unschwer zu ihrer Disposition steht, im Nachhinein und zu-gleich im Widerspruch zum angesprochenen Verfassungsauftrag zu Lasten der Normunterworfenen, denen eine solche Möglichkeit gerade nicht zukommt, substituiert. Im Besonderen kommt den Gesetzesmaterialien im Zuge einer unionsrechtlichen Kohärenzprüfung allenfalls die Qualität einer rechtspoliti-schen Absichtserklärung jener Stelle, die diese verfasst hat (hier also: des Bundesministeriums für Finanzen), zu.
* Auf der Ebene der rechtspolitischen Zielsetzungen liegt die vorrangige Inten-tion des GSpG in einer Auslagerung bzw. in einer mit Konkurrenzschutz ver-bundenen Privatisierung des Glücksspielangebotes, wobei zudem eine Intensi-vierung des Spielerschutzes und der Suchtvorbeugung sowie eine Erhöhung bzw. Maximierung der Staatseinnahmen einander jeweils zumindest gleichwer-tige Teilstrategien bilden; vor diesem Ausgangspunkt verkörpern sodann auf der Ebene der (generellen) Maßnahmenbeurteilung – wie die gänzlich einseitig ausgeübte Kontrolltätigkeit durch Exekutive und Behörde zeigt – letztlich nicht Spielerschutz und Suchtvorbeugung, sondern der Konkurrenzschutz zuguns-ten der Bewilligungsinhaber und die Sicherung der Abgabeneinhebung das tat-sächliche Primärziel des glücksspielrechtlichen Monopolsystems.
* Dem gegenüber stell(t)en die Spielsucht und Kriminalität weder zum Zeit-punkt der Erlassung der Stammfassung des GSpG (BGBl 620/1989) noch im Zuge der Systemmodifikation durch BGBl I 73/2010 noch gegenwärtig ein ei-nen dringenden staatlichen Handlungsbedarf begründendes gesellschaftliches Problem dar, zumal verbotenes Glücksspiel tatsächlich nicht als gerichtlich strafbare Handlung, sondern lediglich als eine Ordnungswidrigkeit sanktioniert wird, sodass anstelle einer sozialen Stigmatisierung der bloße Bußgeldcharak-ter im Vordergrund steht; außerdem sind in Bezug auf das Automatenglücks-spiel – im Gegensatz zu den hochrentablen Glücksspielarten (v.a. Lotto) keine Werbeaktivitäten erkennbar, die einen Lenkungseffekt von den verbotenen hin zu den legalen Angeboten intendieren.
* Wenngleich ein System von Eingriffsbefugnissen, wie dies dem GSpG zu Grunde liegt, als zur Erreichung von Zielen wie Spielerschutz, Suchtprävention, Kriminalitätsbekämpfung, Kriminalitätsvorbeugung, Vollprivatisierung des Glücksspielangebotssektors, zweckbeschränkte Werbemaßnahmen und Maxi-mierung der daraus erzielbaren Staatseinnahmen allenfalls objektiv-abstrakt geeignet erscheinen mag, fehlt es diesem jedoch konkret schon von vornhe-rein an jenem rechtsstaatlich gebotenen Korrektiv, das einem Betroffenen ef-fektiv ermöglicht, einen in diesem Zusammenhang allenfalls begangenen be-hördlichen, vor allem aber exekutivorganlichen Missbrauch effektiv zu verhin-dern, zumal nicht nur – ex ante – ein richterlicher Vorbehalt gänzlich fehlt, sondern auch – ex post – den einschlägigen Rechtsmitteln eine aufschiebende Wirkung nicht ex lege zukommt, sondern eine solche allenfalls erst im Nach-hinein zuerkannt werden kann. Abgesehen davon, dass die erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. des Art. 47 EGRC jedenfalls insoweit nicht entsprechen, als diese ein für Behörden konzipiertes, durch Prinzipien wie Amtswegigkeit, Amtssachverständige, Be-weislastumkehr etc. gekennzeichnetes Verfahren anzuwenden haben, wird so dem europarechtlichen Grundrechtsstandard nicht entsprochen. Zudem ist in diesem Zusammenhang auch zu beachten, dass eine auf der Hand liegende und zugleich weniger eingriffsintensive Alternative zu einer Monopolkonzeption darin bestünde, unter grundsätzlicher Beibehaltung des bestehenden Systems (lediglich) die zahlenmäßige Limitierung der zu vergebenden Konzessionen (sowie allenfalls auch der aufzustellen erlaubten Glücksspielautomaten) zu eliminieren.
Schlagworte
Gesetzesmaterialien: Auslegung, Interpretation, rechtspolitische Absichtserklä-rung; Verwaltungsgerichtsbarkeit: verfassungsmäßige Funktion – fehlende Vereinbarkeit mit Art. 6 EMRK; Privatisierung, Konkurrenzschutz, Protektionis-mus; gleichwertige Teilstrategien; Automatenglücksspiel – keine dirigistischen Werbemaßnahmen; Unterschreitung des europäischen Grundrechtsstandards; unlimitiertes Bewilligungssystem als eingriffsmoderatere AlternativeAnmerkung
Alle Entscheidungsvolltexte sowie das Ergebnis einer gegebenenfalls dazu ergangenen höchstgerichtlichen Entscheidung sind auf der Homepage des Oö LVwG www.lvwg-ooe.gv.at abrufbar.European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGOB:2018:LVwG.413096.8.Gf.RoKZuletzt aktualisiert am
11.01.2019