TE Bvwg Erkenntnis 2018/9/12 W174 2126261-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.09.2018
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Entscheidungsdatum

12.09.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W174 2126261-1/14E

W174 2126269-1/14E

W174 2126265-1/13E

W174 2126267-1/13E

W174 2194045-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Viktoria MUGLI-MASCHEK als Einzelrichterin über die Beschwerden

1.) des XXXX , geboren am XXXX alias XXXX ,

2.) der XXXX , geboren am XXXX ,

3.) des XXXX , geboren am XXXX ,

4.) des XXXX , geboren am XXXX und

5.) des XXXX , geboren am XXXX

alle StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.04.2016,

1.) Zl. 1084092100/151158802,

2.) Zl. 1084092307/151158829,

3.) Zl. 1084092503/151158896,

4.) Zl. 1084092405/151158870

und vom 06.03.2018,

5.) Zl. 1173762104-171275633

nach einer mündlichen Verhandlung am 02.07.2018 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 leg.cit wird festgestellt, dass XXXX und XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind Ehegatten und die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer. Der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin, der Drittbeschwerdeführer und der Viertbeschwerdeführer reisten nach Österreich ein und stellten am 22.08.2015 Anträge auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen ihrer Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 25.08.2015 gaben die Beschwerdeführer im Wesentlichen an, aus Kabul zu stammen, der Volksgruppe der Tadschiken anzugehören und sunnitischen Glaubens zu sein. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin seien standesamtlich und traditionell verheiratet, der Erstbeschwerdeführer habe zehn Jahre die Schule besucht und sei zuletzt Offizier bei der afghanischen Nationalarmee gewesen.

Ihre Ausreise aus Afghanistan begründeten die Beschwerdeführer folgendermaßen:

Der Erstbeschwerdeführer sei wegen seiner Tätigkeit für die afghanische Nationalarmee von den Taliban mit dem Tode bedroht worden, weshalb er die Armee verlassen habe. Danach hätten die Taliban verlangt, dass man Ihnen einen der Söhne überlasse, um ihn in einem Ausbildungslager in Pakistan zum Selbstmordattentäter auszubilden. Zudem wolle die Zweitbeschwerdeführerin hier ein freies Leben führen, eine Frau dürfe in Afghanistan nicht alleine aus dem Haus gehen. Die beiden Kinder hätten keine eigenen Fluchtgründe.

3. Am 22.01.2016 wurden die Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) niederschriftlich einvernommen.

Dabei erklärte der Erstbeschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund im Wesentlichen, dass es im Jahr 1386 (2007/2008) einen Angriff auf die Provinz Khost gegeben habe, wo er als Kommandant für die Verteidigung zuständig gewesen sei. Während der Verteidigung dieser Provinz habe er für einen Monat zwei Stellvertreter gehabt, die anschließend zu ihren Einheiten zurückgekehrt seien. Nachdem sie die Provinz verteidigt hätten, sei der Beschwerdeführer für zwei Jahre zum militärischen Berater und Sicherheitsbeauftragten des Provinzgouverneurs von Khost ernannt und dadurch durch die Medien bekannt worden. In diesen beiden Jahren sei er für die Sicherheit des Gouverneurs zuständig gewesen und habe sich die Objekte angesehen, wo dieser sich aufgehalten habe. Dazu habe der Beschwerdeführer 50 Personen aus der Einheit sowie 20 Personen des Gouverneurs als Personal gehabt. In dieser Zeit hätten ihn die Taliban immer wieder aufgefordert, sie in das Land einzulassen, wofür er viel Geld bekommen würde. Seit 1386 sei er laufend am Handy bedroht worden, obwohl er zehnmal die SIM-Karten ausgetauscht habe. Gegen Ende 1388 (2009/2010) sei der Beschwerdeführer wieder zu seiner Einheit zurückgekehrt und habe bis zu deren Ermordung wieder mit seinen Stellvertretern zusammengearbeitet. Ein Jahr vor der Ausreise sei der erste und fünf Monate vor der Ausreise der zweite Stellvertreter des Beschwerdeführers ermordet und auch deren Familien getötet worden. Aus Angst habe der Beschwerdeführer dann drei Monate vor der Ausreise nicht mehr seinen Dienst verrichtet und sei zu Hause geblieben. Nach der Ermordung der ersten Familie, habe sich die Familie des Beschwerdeführers bei Verwandten aufgehalten. Der letzte Anruf der Taliban sei im März oder April 2015 gewesen. Dabei hätten sie dem Beschwerdeführer gesagt, dass sie ihn gewarnt hätten und ihn und seine Familie jetzt umbringen würden, wenn er nicht mit ihnen zusammenarbeite. Anschließend habe der Beschwerdeführer sein Telefon abgeschaltet und sei nur mehr über seinen Schwiegervater erreichbar gewesen. Warum er jahrelang (von 2007 bis 2015) keinem einzigen Angriff ausgesetzt gewesen sei, könne er nicht erklären. Die Taliban hätten gewollt, dass er mit ihnen zusammenarbeite.

4. Mit den gegenständlichen, im Spruch angeführten, Bescheiden des Bundesamtes vom 10.04.2016 wurden die Anträge der Erst- bis Viertbeschwerdeführer auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Unter Spruchpunkt III. wurde den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA Verfahrensgesetz wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Unter Spruchpunkt IV. wurde festgehalten, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

5. Dagegen wurde fristgerecht (gemeinsam) Beschwerde in vollem Umfang erhoben. In dieser wurde zusätzlich zum bisherigen Vorbringen angeführt, dass der Erstbeschwerdeführer ein Verwandter des mit den Taliban verfeindeten Leaders von Paghman XXXX sei, mit diesem in Verbindung gesetzt würde und sich auch deswegen fürchte.

Am 25.05.2016 langten beim Bundesverwaltungsgericht (nicht übersetzte) "Militärausweise und Urkunden" sowie Fotos als Beleg für die Tätigkeit des Erstbeschwerdeführers bei der afghanischen Armee ein.

6. Am 13.11.2017 stellte die Zweitbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertretung für den nachgeborenen Fünftbeschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz (Antrag auf ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG). Dabei erklärte sie, dass ihr Kind keine eigenen Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen habe und an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen leide. Der Antrag beziehe sich ausschließlich auf die Fluchtgründe der Eltern. Beigelegt wurden die Geburtsurkunde sowie eine Meldebestätigung des Fünftbeschwerdeführers.

7. Mit dem gegenständlichen, im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes vom 06.03.2018 wurde der Antrag des Fünftbeschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Unter Spruchpunkt III. wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und unter Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA Verfahrensgesetz eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde festgehalten, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise des Fünftbeschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

7. Am 30.4.2018 legte das Bundesamt dem Bundesverwaltungsgericht für den Fünftbeschwerdeführer die bereits seitens seiner Familienmitglieder eingebrachte Beschwerde vor.

8. Am 26.06.2018 langte beim Bundesverwaltungsgericht die Stellungnahme der Beschwerdeführer zu den in Vorbereitung der mündlichen Verhandlung übermittelten Länderberichten ein, der nochmals die Dokumente des Erstbeschwerdeführers, die seine Tätigkeit bei der Armee belegen sollen, in Kopie beigefügt waren. In der Stellungnahme wurde im Wesentlichen das bisherige Vorbringen des Erstbeschwerdeführers wiederholt und es wurden Berichte zitiert, nach denen die Taliban in der Lage wären, Personen, die in ein anderes Gebiet umgezogen seien, zu finden und je nach Umständen zu töten. Bezüglich der Zweitbeschwerdeführerin wurde angemerkt, dass sie sich nicht getraut habe, vor einem männlichen Dolmetscher und Referenten geltend zu machen, dass sie mit ihrem jetzigen Ehemann zwangsverheiratet worden sei. Eine Trennung komme jedoch nunmehr ihrer Meinung nach zum Wohl der gemeinsamen Kinder nicht mehr infrage. Sie beantrage jedoch, in Abwesenheit ihres Ehemannes einvernommen zu werden. Zudem sei es offensichtlich, dass die Zweitbeschwerdeführerin westlich orientiert sei, was für eine Frau in Afghanistan eine Gefahr darstelle, wie aus den Richtlinien des UNHCR vom April 2016 hervorgehe.

9. Am 02.07.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprachen Pashtu und Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Das Bundesamt hatte auf die Teilnahme verzichtet.

Dabei führte die Zweitbeschwerdeführerin im Wesentlichen aus, der Volksgruppe der Tadschiken anzugehören, sunnitische Muslima zu sein und aus Kabul zu kommen. In Afghanistan habe sie vier Jahre die Schule besucht, keine weitere Ausbildung absolviert und auch nicht gearbeitet. Sie sei im Alter von elf Jahren verlobt worden und habe mit 15 geheiratet. Ihr Mann (der Zweitbeschwerdeführer) habe beim Militär gearbeitet, sie selbst damals nicht am Leben teilgenommen, habe nicht einkaufen und nicht selbst entscheiden können. Beim Verlassen des Hauses habe sie einen Tschador getragen, eine sehr lange Kleidung, die auch das Gesicht verdeckte. Praktisch sei sie nie hinausgegangen um etwas zu erledigen, sondern nur, um ihren Vater zu besuchen. In diesem Fall habe sie ihr Bruder begleitet.

Afghanistan hätte die Familie deshalb verlassen, weil ihr Mann Feinde gehabt habe. Grundsätzlich hätte er zuerst alleine mit dem ältesten Sohn nach Europa reisen und sie und das andere Kind nach Möglichkeit nachkommen lassen wollen, die Zweitbeschwerdeführerin habe jedoch nicht gewollt, dass man ihr Kind von ihr trenne und ihren Vater gebeten, nicht zu akzeptieren, sie inzwischen aufzunehmen.

Wenn ihr Mann zu Hause gewesen sei, habe er viel telefoniert und in diesen Gesprächen viel geschrien. Im Laufe der Zeit, habe die Zweitbeschwerdeführerin bemerkt, dass er Feinde habe. Nach Aussage ihres Gatten bestehe die Situation schon sehr lange, sie habe jedoch bis ca. drei Jahre vor der Ausreise nichts davon gewusst. Am Ende hätten sich die Drohungen intensiviert. Ihr ältester Sohn habe nur sechs Monate in die Schule gehen können, weil ihn jemand so stark und brutal geschlagen habe, dass ein Auge fast ausgetreten sei. Ihr Mann sei der Meinung gewesen, dass der Täter einer oder einige dieser Feinde gewesen sei. Mittlerweile habe man den Sohn im AKH zweimal operiert. Auch aus diesem Grund sei die Beschwerdeführerin aus Afghanistan weggegangen, damit zumindest ihre Söhne die Schule besuchen können.

Zu Ihrer Situation in Österreich erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie sich auch beim Ausgehen so anziehe, wie im Rahmen der mündlichen Verhandlung, wo sie modische bzw. westliche Kleidung trug. Meistens versuche sie am Vormittag, auch etwas zu lernen, zu lesen oder zu schreiben. Zweimal täglich verlasse sie ihr Zuhause, gehe z.B. einkaufen oder spazieren und nehme den Jüngsten mit. Mittwochs würden alle die Kirche besuchen, sodass sie auch mit vielen österreichischen Menschen Bekanntschaft gemacht habe. Normalerweise verlasse sie alleine das Haus, jedoch würde die Familie auch gemeinsam spazieren. Die Zweitbeschwerdeführerin bringe die Kinder in die Schule und begleite sie auch auf den Fußballplatz. In ihrem früheren Quartier habe es leider keine Möglichkeiten für Kursbesuche gegeben. An ihrer neuen Adresse habe sie einen Monat an einem Kurs teilgenommen, diesen jedoch unterbrochen, als ihr Kind auf die Welt gekommen sei. Da der Jüngste im Unterricht geweint habe, habe der Lehrer sie gebeten, derzeit nicht in den Unterricht zu kommen. Die Beschwerdeführerin wollte jedenfalls auf eigenen Beinen stehen, eine Ausbildung machen und arbeiten.

Der Erstbeschwerdeführer erklärte zunächst, dass bei seinem Geburtstag ein Fehler passiert sei, er habe einen Führerschein, der das richtige Datum zeigen. Er sei Tadschike und sunnitischer Moslem. In Afghanistan sei er Militäroffizier gewesen, sein Gehalt habe für die Familie gut gereicht. In der Heimat habe er neun Jahre die Schule besucht und anschließend einen sechsmonatigen Kurs in der Militär Universität absolviert. Von 1381 (2002) bis drei Monate vor seiner Ausreise sei er immer beim Militär tätig gewesen.

Zwei Jahre davon (1386-1383 bzw. 2007-2009) sei der Beschwerdeführer Securitychef des Bürgermeisters der auch Gouverneur von Khost gewesen sei, gewesen. Zu seinem Fluchtgrund gab er an, dass in dieser Zeit die Taliban den Bürgermeister angegriffen hätten und der Beschwerdeführer dabei von seinem Vorgesetzten den Befehl bekommen habe, ihn heil aus seinem Bürogebäude herauszubringen. An dem Tag hätten Sie eine direkte militärische Auseinandersetzung mit den Taliban gehabt, bei denen diese 13 Personen verloren hätten. Zudem sei der Beschwerdeführer im Fernsehen gezeigt worden, weshalb sein Gesicht den Taliban bekannt gewesen sei. Von dieser militärischen Auseinandersetzung an bis zu drei Monate vor seiner Ausreise, in denen er versteckt gelebt habe, habe es Drohungen der Taliban gegen ihn gegeben. Diese hätten immer die Nummer des Gouverneurs gewählt und der Beschwerdeführer als Securitychef abgehoben. Sie hätten ihm vorgeschlagen, dass er Ihnen den Gouverneur übergebe und anfangs sogar Bestechungsgeld angeboten. Der Beschwerdeführer habe jedes Mal abgelehnt. Als ein neuer Gouverneur den Posten übernommen habe, sei der Beschwerdeführer an die Front zurückgekehrt. Die Taliban hätten sowohl dem Beschwerdeführer, als auch seiner Familie gedroht. Nachdem er zurück zu seiner Einheit gegangen sei, hätten die Taliban ihre Bedrohungen fortgesetzt und verlangt, dass der Beschwerdeführer die Leute von seiner Frontabteilung verrate, was er aber niemals getan habe.

Er habe sehr lange Zeit mit seiner Frau darüber nicht gesprochen, um sie zu schützen. Letztendlich habe er ihr davon erzählt, besonders in den letzten drei Jahren vor der Ausreise. Vor allem, nachdem man den Sohn angegriffen und sein Auge fast zerstört habe. Dem Beschwerdeführer sei bewusst gewesen, von welcher Seite dieser Angriff und diese Gefahr gekommen sei. Später hätten die Taliban sogar sein Kind von ihm verlangt.

Ausschlaggebend für die Beendigung seines Dienstes seien die Ermordungen von zwei Personen gewesen. Die erste ein Jahr, die zweite drei Monate vor der Ausreise. Man habe den Beschwerdeführer auch bedroht, dass jetzt er und seine Familie an der Reihe seien.

Seine Frau habe ihn gebeten, mit ihm zusammen, egal wohin, zu fahren, weil die Kinder klein wären.

Sein Sohn sei im Alter von sechs oder sieben Jahren am Auge verletzt worden. Er sei sechs Monate zur Schule gegangen. Der Beschwerdeführer sei nicht dabei gewesen, aber habe davon gewusst. Nachgefragt, wie alt Buben in Afghanistan seien, wenn sie von den Taliban für den Kampf ausgebildet würden, erklärte der Beschwerdeführer, sie würden sie mit sieben Jahren mitnehmen und die Buben müssten bis zu ihrem zwölften Lebensjahr bleiben. Es sei nicht nur eine Kampfausbildung, sondern auch eine islamische Theologieausbildung. Dass er den Zwangsrekrutierungsversuch eines seiner Söhne vor dem Bundesamt nicht mehr erwähnt habe, begründete der Beschwerdeführer damit, dass es einen iranischen Dolmetscher gegeben habe. Er sei sicher, dieser habe ihn zu 80 % nicht verstanden.

Dass seine beiden Freunde bzw. Kameraden von den Taliban getötet worden seien, wisse er daher, weil die Taliban ihn danach angerufen und ihm das mitgeteilt hätten.

Nachgefragt erklärte der Beschwerdeführer, dass Rasul Sayaf einer der Führer des Dschihad sei und derzeit in einem Außenbezirk von Kabul lebe. Sein Vater habe als Butler in dessen Haus gearbeitet und sei deswegen auch getötet worden.

Im Rahmen dieser Verhandlung wurden die Kopien, die auch in der letzten Stellungnahme an das Bundesverwaltungsgericht vorgelegt wurden, vom Dolmetscher übersetzt.

Zu Ihrer Situation in Österreich erklärte der Beschwerdeführer, er habe alle Entscheidungen seiner Frau übergeben, auch ihre Kleidung. Er habe ihr sogar vorgeschlagen, schwimmen zu gehen, wolle sogar, dass sie in Zukunft arbeite, wenn sie das selbst auch wünsche, und er hoffe, dass sie einen Job finde und auch einen Mann ihre Hand reiche. Von seiner Seite gebe es keinerlei Beschränkung. Sie gehe selbst einkaufen, eine bis eineinhalb Stunden pro Tag lerne sie. Am Nachmittag gehe sie meistens mit dem jüngsten Sohn in den Park, wenn sie den Beschwerdeführer dabeihaben wolle, begleite er sie gerne, ansonsten gehe sie alleine. Vor allem habe sie gute Kontakte zu österreichischen Familien und gehe auch mittwochs in die Kirche. Meistens begleite der Beschwerdeführer die Kinder zum Fußballspiel, an den Tagen, an denen er im Deutschkurs sei, begleite sie ihre Mutter. Manchmal gehe sie mit den Kindern auch zum Schwimmen. Sie würden immer wieder versuchen, dass die Kinder weiter lernen könnten. Dazu legte der Beschwerdeführer ihre Zeugnisse vor. Sobald die Kinder soweit sein, würde er ihnen die Entscheidungen selbst überlassen. Wenn er aufwache, helfe er seiner Frau beim Frühstück machen und versuche auch, den Kindern beim Lernen zu helfen. Auch mache er etwas für das Abendessen, kümmere sich um die Kinder und versuche, selbst weiter zu lernen.

Seine Frau wolle gerne in einem Geschäft als Verkäuferin arbeiten, der Beschwerdeführer sei sich sicher, je schneller dies gehe, umso besser würde es ihr gesundheitlich gehen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem, für die Entscheidung maßgeblichem Sachverhalt aus:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind Ehegatten und die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer. Der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin, der Drittbeschwerdeführer und der Viertbeschwerdeführer reisten nach Österreich ein und stellten am 22.08.2015 Anträge auf internationalen Schutz. Für den nachgeborenen Fünftbeschwerdeführer wurde am 13.11.2017 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Die Beschwerdeführer stammen aus Kabul, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und sind sunnitischen Glaubens.

Nicht festgestellt werden kann, dass die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Heimat ernstlich von den Taliban bedroht würden.

Die Zweitbeschwerdeführerin gehört zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen. Die ganze Familie ist westlich orientiert, die Zweitbeschwerdeführerin führt mittlerweile einen westlichen, selbstständigen und selbstbestimmten Lebensstil. Diese Lebensführung ist zu solch einem Bestandteil ihrer Identität geworden, dass nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken.

1.2. Zur Lage im Herkunftsland:

Das Bundesverwaltungsgericht trifft folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation):

KI vom 30.01.2018: Angriffe in Kabul (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

Landesweit haben in den letzten Monaten Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (The Guardian; vgl. BBC 29.1.2018). Die Gewalt Aufständischer gegen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen hat in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban erhöhen ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (Asia Pacific 30.1.2018).

Im Stadtzentrum und im Diplomatenviertel wurden Dutzende Hindernisse, Kontrollpunkte und Sicherheitskameras errichtet. Lastwagen, die nach Kabul fahren, werden von Sicherheitskräften, Spürhunden und weiteren Scannern kontrolliert, um sicherzustellen, dass keine Sprengstoffe, Raketen oder Sprengstoffwesten transportiert werden. Die zeitaufwändigen Kontrollen führen zu langen Wartezeiten; sollten die korrekten Papiere nicht mitgeführt werden, so werden sie zum Umkehren gezwungen. Ebenso werden die Passagiere in Autos von der Polizei kontrolliert (Asia Pacific 30.1.2018).

Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie 29.1.2019

Am Montag den 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der Islamische Staat bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).

Quellen zufolge operiert der IS in den Bergen der östlichen Provinz Nangarhar (The Guardian 29.1.2018); die Provinzhauptstadt Jalalabad wird als eine Festung des IS erachtet, dessen Kämpfer seit 2015 dort aktiv sind (BBC 24.1.2018). Nachdem der IS in Ostafghanistan unter anhaltenden militärischen Druck gekommen war, hatte dieser immer mehr Angriffe in den Städten für sich beansprucht. Nationale und Internationale Expert/innen sehen die Angriffe in den Städten als Überlappung zwischen dem IS und dem Haqqani-Netzwerk (einem extremen Arm der Taliban) (NYT 28.1.2018). .

Angriff im Regierungs- und Diplomatenviertel in Kabul am 27.1.2018

Bei einem der schwersten Angriffe der letzten Monate tötete am Samstag den 27.1.2018 ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 28.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (The Guardian 27.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Der Vorfall ereignete sich im Regierungs- und Diplomatenviertel und wird als einer der schwersten seit dem Angriff vom Mai 2017 betrachtet, bei dem eine Bombe in der Nähe der deutschen Botschaft explodiert war und 150 Menschen getötet hatte (Reuters 28.1.2018).

Die Taliban verlautbarten in einer Aussendung, der jüngste Angriff sei eine Nachricht an den US-amerikanischen Präsidenten, der im letzten Jahr mehr Truppen nach Afghanistan entsendete und Luftangriffe sowie andere Hilfestellungen an die afghanischen Sicherheitskräfte verstärkte (Reuters 28.1.2018).

Angriff auf die NGO Save the Children am 24.1.2018

Am Morgen des 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden dabei getötet und zwölf weitere verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich 50 Mitarbeiter/innen im Gebäude. Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018).

Der jüngste Angriff auf eine ausländische Hilfseinrichtung in Afghanistan unterstreicht die wachsende Gefahr, denen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in Afghanistan ausgesetzt sind (The Guardian 24.1.2018).

Das Gelände der NGO Save the Children befindet sich in jener Gegend von Jalalabad, in der sich auch andere Hilfsorganisationen sowie Regierungsgebäude befinden (BBC 24.1.2018). In einer Aussendung des IS werden die Autobombe und drei weitere Angriffe auf Institutionen der britischen, schwedischen und afghanischen Regierungen (Reuters 24.1.2018).

Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul am 20.1.2018

Der Angriff bewaffneter Männer auf das Luxushotel Intercontinental in Kabul, wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018).Fünf bewaffnete Männer mit Sprengstoffwesten hatten sich Zutritt zu dem Hotel verschafft (DW 21.1.2018). Die exakte Opferzahl ist unklar. Einem Regierungssprecher zufolge sollen 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet worden sein. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden(BBC 21.1.2018). Alle Fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).

Wie die Angreifer die Sicherheitsvorkehrungen durchbrechen konnten, ist Teil von Untersuchungen. Erst seit zwei Wochen ist eine private Firma für die Sicherheit des Hotels verantwortlich. Das Intercontinental in Kabul ist trotz des Namens nicht Teil der weltweiten Hotelkette, sondern im Besitz der afghanischen Regierung. In diesem Hotel werden oftmals Hochzeiten, Konferenzen und politische Zusammentreffen abgehalten (BBC 21.1.2018).

Zum Zeitpunkt des Angriffes war eine IT-Konferenz im Gange, an der mehr als 100 IT-Manager und Ingenieure teilgenommen hatten (Reuters 20.1.2018; vgl. NYT 21.1.2018).

Insgesamt handelte es sich um den zweiten Angriff auf das Hotel in den letzten acht Jahren (NYT 21.1.2018). Zu dem Angriff im Jahr 2011 hatten sich ebenso die Taliban bekannt (Reuters 20.1.2018).

Unter den Opfern waren ausländische Mitarbeiter/innen der afghanischen Fluggesellschaft Kam Air, u.a. aus Kirgisistan, Griechenland (DW 21.1.2018), der Ukraine und Venezuela. Die Fluglinie verbindet jene Gegenden Afghanistans, die auf dem Straßenweg schwer erreichbar sind (NYT 29.1.2018).

Quellen:

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Asia Pacific (30.1.2018): Taliban and IS create perfect storm of bloodshed in Kabul,

https://www.channelnewsasia.com/news/asiapacific/taliban-and-is-create-perfect-storm-of-bloodshed-in-kabul-9909494, Zugriff 30.1.2018

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BBC (29.1.2018): Kabul military base hit by explosions and gunfire, http://www.bbc.com/news/world-asia-42855374, Zugriff 29.1.2018

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BBC (24.1.2018): Save the Children offices attacked in Jalalabad, Afghanistan, http://www.bbc.com/news/world-asia-42800271, Zugriff 29.1.2018

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BBC (21.1.2018): Kabul: Afghan forces end Intercontinental Hotel siege, http://www.bbc.com/news/world-asia-42763517, Zugriff 29.1.2018

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DW - Deutsche Welle (21.1.2018): Taliban militants claim responsibility for attack on Kabul hotel, http://www.dw.com/en/taliban-militants-claim-responsibility-for-attack-on-kabul-hotel/a-42238097, Zugriff 29.1.2018

-

NYT - The New York Times (28.1.2018): Attack Near Kabul Military Academy Kills 11 Afghan Soldiers, https://www.nytimes.com/2018/01/28/world/asia/kabul-attack-afghanistan.html, Zugriff 29.1.2018

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NYT - The New York Times (21.1.2018): Siege at Kabul Hotel Caps a Violent 24 Hours in Afghanistan,

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Reuters (28.1.2018): Shock gives way to despair in Kabul after ambulance bomb,

https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-blast/shock-gives-way-to-despair-in-kabul-after-ambulance-bomb-idUSKBN1FG086, Zugriff 29.1.2018

-

Reuters (24.1.2018): Islamic State claims attack on Jalalabad in Afghanistan,

https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-blast-claim/islamic-state-claims-attack-on-jalalabad-in-afghanistan-idUSKBN1FD1HC, Zugriff 29.1.2018

-

Reuters (20.1.2018): Heavy casualties after overnight battle at Kabul hotel,

https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-attacks/heavy-casualties-after-overnight-battle-at-kabul-hotel-idUSKBN1F90W9, Zugriff 29.1.2018

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The Guardian (29.1.2018): Afghanistan: gunmen attack army post at Kabul military academy,

https://www.theguardian.com/world/2018/jan/29/explosions-kabul-military-academy-afghanistan, Zugriff 29.1.2018

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The Guardian (28.1.2018): 'We have no security': Kabul reels from deadly ambulance bombing,

https://www.theguardian.com/world/2018/jan/28/afghanistan-kabul-reels-bomb-attack-ambulance, Zugriff 29.1.2018

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The Guardian (27.1.2018): Kabul: bomb hidden in ambulance kills dozens,

https://www.theguardian.com/world/2018/jan/27/scores-of-people-wounded-and-several-killed-in-kabul-blast, Zugriff 29.1.2018

-

The Guardian (24.1.2018): Isis claims attack on Save the Children office in Afghanistan,

https://www.theguardian.com/world/2018/jan/24/explosion-attack-save-the-children-office-jalalabad-afghanistan, Zugriff 29.1.2018

KI vom 21.12.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2017 (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil - der Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Kräften und Regierungskräften hält landesweit an (UN GASC 20.12.2017). Zur Verschlechterung der Sicherheitslage haben die sich intensivierende Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften beigetragen (SIGAR 30.10.2017; vgl. SCR 30.11.2017).

Die afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte verstärkten deutlich ihre Luftoperationen (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die in 22 Provinzen registriert wurden. So haben sich im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) Luftangriffe um 73% gegenüber dem Vorjahreswert erhöht (UN GASC 20.12.2017). Der Großteil dieser Luftangriffe wurde in der südlichen Provinz Helmand und in der östlichen Provinz Nangarhar erfasst (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die als Hochburgen des IS und der Taliban gelten (SIGAR 30.10.2017). Verstärkte Luftangriffe hatten wesentliche Auswirkungen und führten zu hohen Opferzahlen bei Zivilist/innen und regierungsfeindlichen Elementen (UN GASC 20.12.2017). Zusätzlich ist die Gewalt in Ostafghanistan auf die zunehmende Anzahl von Operationen der ANDSF und der Koalitionskräfte zurück zu führen (SIGAR 30.10.2017).

Landesweit kam es immer wieder zu Sicherheitsoperationen, bei denen sowohl aufständische Gruppierungen als auch afghanische Sicherheitskräfte Opfer zu verzeichnen hatten (Pajhwok 1.12.2017; TP 20.12.2017; Xinhua 21.12.2017; Tolonews 5.12.2017; NYT 11.12.2017).

Den Vereinten Nationen zufolge hat sich der Konflikt seit Anfang des Jahres verändert, sich von einer asymmetrischen Kriegsführung entfernt und in einen traditionellen Konflikt verwandelt, der von bewaffneten Zusammenstößen zwischen regierungsfeindlichen Elementen und der Regierung gekennzeichnet ist. Häufigere bewaffnete Zusammenstöße werden auch als verstärkte Offensive der ANDSF-Operationen gesehen um die Initiative von den Taliban und dem ISKP zu nehmen - in diesem Quartal wurde im Vergleich zum Vorjahr eine höhere Anzahl an bewaffneten Zusammenstößen erfasst (SIGAR 30.10.2017).

Sicherheitsrelevante Vorfälle

Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum (15.9. - 15.11.2017) 3.995 sicherheitsrelevante Vorfälle; ein Rückgang von 4% gegenüber dem Vorjahreswert. .

Insgesamt wurden von 1.1.-15.11.2017 mehr als 21.105 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, was eine Erhöhung von 1% gegenüber dem Vorjahreswert andeutet. Laut UN sind mit 62% bewaffnete Zusammenstöße die Hauptursache aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs [Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen], die in 17% der sicherheitsrelevanten Vorfälle Ursache waren. Die östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von den südlichen Regionen - zusammen wurde in diesen beiden Regionen 56% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Gezielte Tötungen und Entführungen haben sich im Vergleich zum Vorjahreswert um 16% erhöht (UN GASC 20.12.2017).

Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden vom 1.1.-30.11.2017 24.917 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan registriert (Stand: Dezember 2017) (INSO o.D.).

Zivilist/innen

Im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des letzten Jahres registrierte die UNAMA zwischen 1.1. und 30.9.2017 8.019 zivile Opfer (2.640 Tote und 5.379 Verletzte). Dies deutet insgesamt einen Rückgang von fast 6% gegenüber dem Vorjahreswert an (UNAMA 10.2017); konkret hat sich die Anzahl getöteter Zivilist/innen um 1% erhöht, während sich die Zahl verletzter Zivilist/innen um 9% verringert hat (UN GASC 20.12.2017).Wenngleich Bodenoffensiven auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer waren - führte der Rückgang der Anzahl von Bodenoffensiven zu einer deutlichen Verringerung von 15% bei zivilen Opfern. Viele Zivilist/innen fielen Selbstmordattentaten, sowie komplexen Angriffen und IEDs

zum Opfer - speziell in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Kandahar und Faryab (UNAMA 10.2017).

Zivile Opfer, die regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben wurden, sind um 37% zurückgegangen: Von insgesamt 849 waren 228 Tote und 621 Verletzte zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden, um 7%: von den 1.150 zivilen Opfer starben 225, während 895 verletzt wurden. Die restlichen Opfer konnten keiner Tätergruppe zugeschrieben werden (UNAMA 10.2017).

High-profile Angriffe:

Am 31.10.2017 sprengte sich ein Selbstmordattentäter in der "Green Zone" der Hauptstadt Kabul in die Luft. Der angebliche Täter soll Quellen zufolge zwischen 12-13 Jahren alt gewesen sein. Mindestens vier Menschen starben bei dem Angriff und ein Dutzend weitere wurden verletzt. Dies war der erste Angriff in der "Green Zone" seit dem schweren Selbstmordattentat im Mai 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017). der IS bekannte sich zu diesem Vorfall Ende Oktober 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017; UN GASC 20.12.2017)

Am 20.10.2017 sprengte sich ein Angreifer in der Shia Imam Zamam Moschee in Kabul in die Luft; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet und 45 weitere verletzt. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017; UN GASC 20.12.2017).

In dem Distrikt Solaina, in der westlichen Provinz Ghor, wurde ebenso eine Moschee angegriffen - in diesem Fall handelt es sich um eine sunnitische Moschee. Die tatsächliche Opferzahl ist umstritten:

je nach Quellen sind zwischen 9 und 39 Menschen bei dem Angriff gestorben (Independent 20.10.2017; vgl. NYT 20.10.2017; al Jazeera 20.10.2017).

Am 19.10.2017 wurde im Rahmen eines landesweit koordinierten Angriffes der Taliban 58 afghanische Sicherheitskräfte getötet: ein militärisches Gelände, eine Polizeistationen und ein militärischer Stützpunkt in Kandahar wären beinahe überrannt worden (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017). Einige Tage vor diesem Angriff töteten ein Selbstmordattentäter und ein Schütze mindestens 41 Menschen, als sie ein Polizeiausbildungszentrum in der Provinzhauptstadt Gardez stürmten (Provinz Paktia) (BBC 21.10.2017). In der Woche davor wurden 14 Offiziere der Militärakademie auf dem Weg nach Hause getötet, als ein Selbstmordattentäter den Minibus in die Luft sprengte in dem sie unterwegs waren (NYT 20.10.2017). Die afghanische Armee und Polizei haben dieses Jahr schwere Verlusten aufgrund der Taliban erlitten (BBC 21.10.2017).

Am 7.11.2017 griffen als Polizisten verkleidete Personen/regierungsfeindliche Kräfte eine Fernsehstation "Shamshad TV" an; dabei wurde mindestens eine Person getötet und zwei Dutzend weitere verletzt. Die afghanischen Spezialkräfte konnten nach drei Stunden Kampf, die Angreifer überwältigen. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Guardian 7.11.2017; vgl. NYT 7.11.2017; UN GASC 20.12.2017).

Bei einem Selbstmordangriff im November 2017 wurden mindestens neun Menschen getötet und einige weitere verletzt; die Versammelten hatten einem Treffen beigewohnt, um den Gouverneur der Provinz Balkh - Atta Noor - zu unterstützen; auch hier bekannte sich der IS zu diesem Selbstmordattentat (Reuters 16.11.2017; vgl. UN GASC 20.12.2017)

Interreligiöse Angriffe

Serienartige gewalttätige Angriffe gegen religiöse Ziele, veranlassten die afghanische Regierung neue Maßnahmen zu ergreifen, um Anbetungsorte zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempeln vor Angriffen zu schützen (UN GASC 20.12.2017).

Seit 1.1.2016 wurden im Rahmen von Angriffen gegen Moscheen, Tempel und andere Anbetungsorte 737 zivile Opfer verzeichnet (242 Tote und 495 Verletzte); der Großteil von ihnen waren schiitische Muslime, die im Rahmen von Selbstmordattentaten getötet oder verletzt wurden. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017).

Im Jahr 2016 und 2017 registrierte die UN Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Seit 1.1.2016 wurden 27 gezielte Tötungen religiöser Personen registriert, wodurch 51 zivile Opfer zu beklagen waren (28 Tote und 23 Verletzte); der Großteil dieser Vorfälle wurde im Jahr 2017 verzeichnet und konnten großteils den Taliban zugeschrieben werden. Religiösen Führern ist es möglich, öffentliche Standpunkte durch ihre Predigten zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017).

ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte

Informationen zur Stärke der ANDSF und ihrer Opferzahlen werden von den US-amerikanischen Kräften in Afghanistan (USFOR-A) geheim gehalten; im Bericht des US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR) werden Schätzungen angegeben:

Die Stärke der ANDSF ist in diesem Quartal zurückgegangen; laut USFOR-A Betrug die Stärke der ANDSF mit Stand August 2017 etwa 320.000 Mann - dies deutet einen Rückgang von 9.000 Mann gegenüber dem vorhergehenden Quartal an. Dennoch erhöhte sich der Wert um

3.500 Mann gegenüber dem Vorjahr (SIGAR 30.10.2017). Die Schwundquote der afghanischen Nationalpolizei war nach wie vor ein großes Anliegen; die Polizei litt unter hohen Opferzahlen (UN GASC 20.12.2017).

Im Rahmen eines Memorandum of Understanding (MoU) zwischen dem afghanischen Verteidigungs- und Innenministerium wurde die afghanische Grenzpolizei (Afghan Border Police) und die afghanische Polizei für zivile Ordnung (Afghan National Civil Order Police) dem Verteidigungsministerium übertragen (UN GASC 20.12.2017). Um sogenanntem "Geisterpersonal" vorzubeugen, werden seit 1.1.2017 Gehälter nur noch an jenes Personal im Innen- und Verteidigungsministerium ausbezahlt, welches ordnungsgemäß registriert wurde (SIGAR 30.10.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Taliban

Der UN zufolge versuchten die Taliban weiterhin von ihnen kontrolliertes Gebiet zu halten bzw. neue Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen - was zu einem massiven Ressourcenverbrauch der afghanischen Regierung führte, um den Status-Quo zu halten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive unternahmen die Taliban keine größeren Versuche, um eine der Provinzhauptstädte einzunehmen. Dennoch war es ihnen möglich kurzzeitig mehrere Distriktzentren einzunehmen (SIGAR 30.10.2017):

Die Taliban haben mehrere groß angelegte Operationen durchgeführt, um administrative Zentren einzunehmen und konnten dabei kurzzeitig den Distrikt Maruf in der Provinz Kandahar, den Distrikt Andar in Ghazni, den Distrikt Shib Koh in der Farah und den Distrikt Shahid-i Hasas in der Provinz Uruzgan überrennen. In allen Fällen gelang es den afghanischen Sicherheitskräften die Taliban zurück zu drängen - in manchen Fällen mit Hilfe von internationalen Luftangriffen. Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es, das Distriktzentrum von Ghorak in Kandahar unter ihre Kontrolle zu bringen - dieses war seit November 2016 unter Talibankontrolle (UN GASC 20.12.2017).

Im Rahmen von Sicherheitsoperationen wurden rund 30 Aufständische getötet; unter diesen befand sich - laut afghanischen Beamten - ebenso ein hochrangiger Führer des Haqqani-Netzwerkes (Tribune 24.11.2017; vgl. BS 24.11.2017). Das Haqqani-Netzwerk zählt zu den Alliierten der Taliban (Reuters 1.12.2017).

Aufständische des IS und der Taliban bekämpften sich in den Provinzen Nangarhar und Jawzjan (UN GASC 20.12.2017). Die tatsächliche Beziehung zwischen den beiden Gruppierungen ist wenig nachvollziehbar - in Einzelfällen schien es, als ob die Kämpfer der beiden Seiten miteinander kooperieren würden (Reuters 23.11.2017).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Der IS war nach wie vor widerstandsfähig und bekannte sich zu mehreren Angriff auf die zivile Bevölkerung, aber auch auf militärische Ziele [Anm.: siehe High-Profile Angriffe] (UN GASC 20.12.2017). Unklar ist, ob jene Angriffe zu denen sich der IS bekannt hatte, auch tatsächlich von der Gruppierung ausgeführt wurden bzw. ob diese in Verbindung zur Führung in Mittleren Osten stehen. Der afghanische Geheimdienst geht davon aus, dass in Wahrheit manche der Angriffe tatsächlich von den Taliban oder dem Haqqani-Netzwerk ausgeführt wurden, und sich der IS opportunistischerweise dazu bekannt hatte. Wenngleich Luftangriffe die größten IS-Hochburgen in der östlichen Provinz Nangarhar zerstörten; hielt das die Gruppierungen nicht davon ab ihre Angriffe zu verstärken (Reuters 1.12.2017).

Sicherheitsbeamte gehen davon aus, dass der Islamische Staat in neun Provinzen in Afghanistan eine Präsenz besitzt: im Osten von Nangarhar und Kunar bis in den Norden nach Jawzjan, Faryab, Badakhshan und Ghor im zentralen Westen (Reuters 23.11.2017). In einem weiteren Artikel wird festgehalten, dass der IS in zwei Distrikten der Provinz Jawzjan Fuß gefasst hat (Reuters 1.12.2017).

Politische Entwicklungen

Der Präsidentenpalast in Kabul hat den Rücktritt des langjährigen Gouverneurs der Provinz Balkh, Atta Mohammad Noor, Anfang dieser Woche bekanntgegeben. Der Präsident habe den Rücktritt akzeptiert. Es wurde auch bereits ein Nachfolger benannt (NZZ 18.12.2017). In einer öffentlichen Stellungnahme wurde Mohammad Daud bereits als Nachfolger genannt (RFE/RL 18.12.2017). Noor meldete sich zunächst nicht zu Wort (NZZ 18.12.2017).

Wenngleich der Präsidentenpalast den Abgang Noors als "Rücktritt" verlautbarte, sprach dieser selbst von einer "Entlassung" - er werde diesen Schritt bekämpfen (RFE/RL 20.12.2017). Atta Noors Partei, die Jamiat-e Islami, protestierte und sprach von einer "unverantwortlichen, hastigen Entscheidung, die sich gegen die Sicherheit und Stabilität in Afghanistan sowie gegen die Prinzipien der Einheitsregierung" richte (NZZ 18.12.2017).

Die Ablösung des mächtigen Gouverneurs der nordafghanischen Provinz Balch droht Afghanistan in eine politische Krise zu stürzen (Handelsblatt 20.12.2017). Sogar der Außenminister Salahuddin Rabbani wollte nach Angaben eines Sprechers vorzeitig von einer Griechenlandreise zurückkehren (NZZ 18.12.2017).

Atta Noor ist seit dem Jahr 2004 Gouverneur der Provinz Balkh und gilt als Gegner des Präsidenten Ashraf Ghani, der mit dem Jamiat-Politiker Abdullah Abdullah die Einheitsregierung führt (NZZ 18.12.2017). Atta Noor ist außerdem ein enger Partner der deutschen Entwicklungshilfe und des deutschen Militärs im Norden von Afghanistan (Handelsblatt 20.12.2017).

In der Provinz Balkh ist ein militärischer Stützpunkt der Bundeswehr (Handelsblatt 20.12.2017).

Quellen:

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al Jazeera (20.10.2017): Deadly attacks hit mosques in Kabul and Ghor,

http://www.aljazeera.com/news/2017/10/dozens-feared-dead-attacks-afghanistan-171020142936566.html, Zugriff 20.12.2017

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BBC (31.10.2017): Kabul Green Zone attacked by suicide bomber, http://www.bbc.com/news/world-asia-41819850, Zugriff 20.12.2017

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BBC (21.10.2017): Afghan suicide mosque attacks kill scores of worshippers, http://www.bbc.com/news/world-asia-41699320, Zugriff 20.12.2017

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BS - Business Standard (24.11.2017): Key Haqqani network leader among dozens killed in Afghanistan, http://www.business-standard.com/article/news-ani/key-haqqani-network-leader-among-dozens-killed-in-afghanistan-117112400292_1.html, Zugriff 21.12.2017

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Guardian (7.11.2017): Kabul TV station defiantly resumes broadcasting moments after Isis attack ends, https://www.theguardian.com/world/2017/nov/07/gunmen-attack-kabul-tv-station-after-explosion, Zugriff 20.12.2017

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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