TE Bvwg Beschluss 2018/10/17 W265 2205311-1

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Veröffentlicht am 17.10.2018
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Entscheidungsdatum

17.10.2018

Norm

B-VG Art.133 Abs4
VOG §1
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W265 2205311-1/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Vorsitzende und die Richterin Dr. Tanja KOENIG-LACKNER sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, vertreten durch die gesetzliche Vertreterin XXXX, diese wiederum vertreten durch Rechtsanwalt XXXX, gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Oberösterreich, vom 24.07.2018, betreffend die Abweisung des Antrages auf Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Sozialministeriumservice zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang

Die minderjährige Beschwerdeführerin, vertreten durch ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin, stellte am 04.04.2018 beim Sozialministeriumservice, Landesstelle Oberösterreich (im Folgenden auch als belangte Behörde bezeichnet), einen Antrag auf Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) in Form von Übernahme der Kosten für psychotherapeutische Krankenbehandlung sowie Pauschalentschädigung für Schmerzengeld. Dabei gab sie an, zwischen November 2015 und November 2017 von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht worden zu sein, wobei er zwischen Frühling 2016 und Mitte November 2017 im Abstand von etwa zwei Wochen Vaginalverkehr an ihr durchgeführt habe. Im Zeitraum von etwa Mitte November 2015 bis Ende November 2017 sei die Beschwerdeführerin von ihrem Stiefvater darüber hinaus in einer Vielzahl von Angriffen im Brust- und Scheidenbereich auf der nackten Haut berührt worden, weiters habe er ihre Brüste und ihren Schambereich massiert und geknetet und habe die Beschwerdeführerin ihren Stiefvater zumindest einmal mit der Hand bis zum Samenerguss befriedigen müssen.

Die Mutter der Beschwerdeführerin gab am 11.04.2018 telefonisch bei der belangten Behörde bekannt, dass es im Strafverfahren gegen den Stiefvater zu keiner Aussage durch die Beschwerdeführerin gekommen und kein Gutachten zur Beschwerdeführerin erstellt worden sei, da der Täter voll geständig gewesen sei. Er sei zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, das Urteil sei aber noch nicht rechtskräftig, Ende Mai werde voraussichtlich eine Verhandlung am Oberlandesgericht stattfinden. Nach Rechtskraft des Strafurteiles werde eine Zivilrechtsklage eingebracht. Eine Feststellungsklage und Haftung für künftige mögliche Schäden bzw. Kosten sei geplant. Die Beschwerdeführerin sei derzeit nicht in Therapie, sie werde vom Kinderschutzzentrum betreut.

Die belangte Behörde nahm ein am 28.06.2017 ebenfalls seitens des Sozialministeriumservice erstelltes ärztliches Sachverständigengutachten zum Familienlastenausgleichsverfahren zum Akt, in welchem bei der Beschwerdeführerin eine Aufmerksamkeitsstörung mit leichten sozialen Integrationsschwierigkeiten und Ängsten vor Kleintieren mit einem Grad der Behinderung von 30 v.H. festgestellt wurde.

Mit E-Mail vom 03.05.2018 übermittelte die Mutter der Beschwerdeführerin einen Arztbrief der Kinderklinik XXXX vom 18.04.2018 über die ambulante Behandlung der Beschwerdeführerin von 29.03.2018 bis 12.04.2018, in welchem eine Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik, eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität, Schul- und Leistungsängste, eine Phobische Störung, eine Störung der Fein- und Graphomotorik, eine expressive Sprachstörung, der Verdacht auf Tubenbelüftungsstörung rechts, der Verdacht auf geringgradige Schalleitungsschwerhörigkeit beidseits und sexueller Missbrauch diagnostiziert wurden.

Nach Ersuchen der belangten Behörde übermittelte das Landesgericht XXXX das Urteil desselben Gerichtes vom XXXX sowie das Urteil des XXXX vom XXXX. Demnach wurde den Berufungen keine Folge gegeben und das Urteil des XXXX bestätigt, mit welchem der Stiefvater der Beschwerdeführerin wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs. 1 StGB, des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs. 1 StGB, des Vergehens des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs. 1 Z 1 und 2 StGB und des Vergehens der versuchten Nötigung nach den §§ 15 Abs. 1, 105 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafte in der Dauer von sieben Jahren verurteilt wurde.

Die belangte Behörde ersuchte den Ärztlichen Dienst um aktenmäßige Stellungnahme und Beantwortung der Frage, ob eine Psychotherapie aufgrund des sexuellen Missbrauchs in der Zeit von Mitte November 2015 bis Ende November 2017 notwendig bzw. medizinisch indiziert sei. Mit Stellungnahme vom 24.07.2018 gab die Chefärztin des Ärztlichen Dienstes eine Stellungnahme ab, in welcher sie ausführte, dass eine Psychotherapie aufgrund der Aktenlage gerechtfertigt sei.

Mit Bescheid vom 24.07.2018 bewilligte die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf Übernahme der Selbstkosten für psychotherapeutische Krankenbehandlung für die auf Grund der strafbaren Handlungen in der Zeit von etwa Mitte November 2015 bis etwa Ende November 2017 erlittenen Gesundheitsschädigungen ab Behandlungsbeginn.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 24.07.2018 wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf Leistungen nach dem Verbrechensopfergesetz in Form von Pauschalentschädigung für Schmerzengeld gemäß § 1 Abs. 1 und § 6a VOG ab und führte begründend aus, dass keine Verurteilung des Täters gemäß den Qualifikationstatbeständen der §§ 206 Abs. 3 bzw. 207 Abs. 3 StGB erfolgt sei, die jeweils eine schwere Körperverletzung im Sinne des § 84 Abs. 1 StGB voraussetzen. Gemäß § 6a VOG sei Pauschalentschädigung für Schmerzengeld in Höhe von € 2.000,- für eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1 StGB) zu leisten; sie betrage € 4.000,-, sofern die durch die schwere Körperverletzung verursachte Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit länger als drei Monate andauere. Da bei der Verurteilung des Täters ausschließlich die §§ 206 Abs. 1 und 2017 Abs. 1 StGB angeführt worden seien, habe das Amt aufgrund der Bindungswirkung des Strafurteils auf das Verbrechensopfergesetz leider keine Möglichkeit, gegen diese Ausführungen im Urteil zu entscheiden. Auf die Einholung eines Gerichtsgutachtens über die Schwere der psychischen Gesundheitsschädigungen sei verzichtet worden.

Mit Schriftsatz vom 04.09.2018 erhob die rechtsfreundlich vertretene Beschwerdeführerin gegen den Bescheid vom 24.07.2018, mit welchem der Antrag auf Pauschalentschädigung für Schmerzengeld abgewiesen wurde, fristgerecht die gegenständliche Beschwerde. Dabei wurde im Wesentlichen vorgebracht, es sei in einem Strafverfahren hinsichtlich sexuellen Missbrauchs absolut nicht üblich, auch wegen schwerer Körperverletzung im Sinne des § 84 Abs. 1 StGB zu verurteilen. Die Begründung der belangten Behörde, dass diese aufgrund der Bindungswirkung des Strafurteils keine andere Möglichkeit gehabt habe, als den Antrag abzuweisen, sei nicht nachvollziehbar. Der Stiefvater und Verurteilte habe sich schuldig bekannt und wäre daher, auch wenn ein Antrag auf Einholung eines Gerichtsgutachtens gestellt worden wäre, ein solcher Antrag abgewiesen worden. Es sei nicht Aufgabe des Strafgerichts, die Schwere einer psychischen Gesundheitsschädigung festzustellen, sondern sei dies vielmehr eine zivilrechtliche Angelegenheit. Die Beschwerdeführerin sei über zwei Jahre lang sexuell missbraucht worden und auch die Chefärztin des Ärztlichen Dienstes habe die Inanspruchnahme von Psychotherapie für kausal erachtet. Es werde der (bereits von der Mutter der Beschwerdeführerin vorgelegte) Bericht der Kinderklinik XXXX vorgelegt, bei dem schon alleine aus den Diagnosen und durchgeführten Tests ersichtlich sei, dass beinahe alle Parameter auffällig oder im Grenzbereich zur Auffälligkeit seien. Die Beschwerdeführerin erreiche demnach einen Gesamtwert von 78 bis 89, was ein Ergebnis im überdurchschnittlichen Bereich und klinisch in jedem Fall auffällig sei. Fakt sei, dass für eine schwere Körperverletzung eine mehr als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung die Voraussetzung sei und es daher fast lebensfremd erscheine, dass die belangte Behörde dies bei einem Missbrauch über zwei Jahre bei einem 12jährigen Kind bezweifle und auf die Bindungswirkung des Strafurteils verweise. Bei Missbrauch einer 12jährigen sei eher davon auszugehen, dass diese einen Dauerschaden habe und lebenslang an den Folgen leide oder leiden werde. Der Stiefvater werde aufgrund der langjährigen Haftstrafe niemals den anerkannten Schmerzengeldbetrag zahlen bzw. zahlen können und gehe bisher alles zu Lasten der Kindesmutter. Genau für derartige Fälle gebe es das Verbrechensopfergesetz und sei die Abweisung der Pauschalentschädigung für Schmerzengeld absolut nicht nachvollziehbar. Neben dem bereits erwähnten psychologischen Bericht der Kinderklinik XXXX wurde auch ein Anerkenntnis des Täters über weiteres Schmerzengeld in der Höhe von €9.000,- vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 9d Abs. 1 VOG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide nach diesem Bundesgesetz durch einen Senat, dem ein fachkundiger Laienrichter angehört. Gegenständlich liegt daher Senatszuständigkeit mit Laienrichterbeteiligung vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A).

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Nach § 28 Abs. 2 leg.cit. hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen und die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren, 2013, § 28 VwGVG, Anm. 11).

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet (vgl. auch VwGH 30.06.2015, Ra 2014/03/0054):

* Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht kommt nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

* Der Verfassungsgesetzgeber hat sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I Nr. 51/2012, davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.

* Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stellt die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz leg.cit. bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 leg.cit. verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das in § 28 leg.cit. insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

Der angefochtene Bescheid erweist sich vor diesem Hintergrund in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt aus folgenden Gründen als mangelhaft:

Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Verbrechensopfergesetzes (VOG) lauten:

"Kreis der Anspruchsberechtigten

§ 1 (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie

1. durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder

2. durch eine an einer anderen Person begangene Handlung im Sinne der Z 1 nach Maßgabe der bürgerlich-rechtlichen Kriterien einen Schock mit psychischer Beeinträchtigung von Krankheitswert erlitten haben oder

3. als Unbeteiligte im Zusammenhang mit einer Handlung im Sinne der Z 1 eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erlitten haben, soweit nicht hieraus Ansprüche nach dem Amtshaftungsgesetz, BGBl. Nr. 20/1949, bestehen,

und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Wird die österreichische Staatsbürgerschaft erst nach der Handlung im Sinne der Z 1 erworben, gebührt die Hilfe nur, sofern diese Handlung im Inland oder auf einem österreichischen Schiff oder Luftfahrzeug (Abs. 6 Z 1) begangen wurde.

...

Hilfeleistungen

§ 2 Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:

...

10. Pauschalentschädigung für Schmerzenzeld

Pauschalentschädigung für Schmerzengeld

§ 6a (1) Hilfe nach § 2 Z 10 ist für eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1 StGB) infolge einer Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1 als einmalige Geldleistung im Betrag von 2 000 Euro zu leisten; sie beträgt 4 000 Euro, sofern die durch die schwere Körperverletzung verursachte Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit länger als drei Monate andauert.

(2) Zieht die Handlung eine Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen (§ 85 StGB) nach sich, gebührt eine einmalige Geldleistung im Betrag von 8 000 Euro; sie beträgt 12 000 Euro, sofern wegen der Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen ein Pflegebedarf im Ausmaß von zumindest der Stufe 5 nach dem Bundespflegegeldgesetz (BPGG), BGBl. Nr. 110/1993, besteht."

Aufgrund des Urteils des XXXX, welches den Berufungen keine Folge gegeben und das Urteil des XXXX vom XXXX bestätigte, wurde festgestellt, dass der Stiefvater der Beschwerdeführerin die Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs. 1 StGB und des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs. 1 StGB sowie die Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs. 1 Z 1 und 2 StGB und der versuchten Nötigung nach den §§ 15 Abs. 1, 105 Abs. 1 StGB begangen hat, weshalb er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sieben Jahren verurteilt wurde.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bewirkt diese materielle Rechtskraft des Schuldspruches eines Strafurteiles, dass dadurch - vorbehaltlich einer allfälligen Wiederaufnahme des Strafverfahrens - mit absoluter Wirkung, somit gegenüber jedermann, bindend festgestellt ist, dass die schuldig gesprochene Person die strafbare Handlung entsprechend den konkreten Tatsachenfeststellungen des betreffenden Urteils rechtswidrig und schuldhaft begangen hat. Im Fall einer verurteilenden Entscheidung durch ein Strafgericht besteht daher eine Bindung der Verwaltungsbehörde in der Frage, ob ein gerichtlich zu ahndender Tatbestand erfüllt wurde. Durch die gerichtliche Verurteilung wird in einer für die Verwaltungsbehörde bindenden Weise über die Begehung der Tat abgesprochen. Eine eigene Beurteilung durch die Behörde ist damit nicht mehr zulässig, diese ist verpflichtet, die so entschiedene Frage ihrem Bescheid zugrunde zu legen.

Daher steht, basierend auf dem Urteil des XXXX und dem Urteil des XXXX unzweifelhaft fest, dass die Beschwerdeführerin Opfer des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen, des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen und des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses und somit Opfer einer Handlung im Sinne des § 1 VOG geworden ist. Darüber hinaus, nämlich ob die genannten Delikte eine schwere Körperverletzung der Beschwerdeführerin zur Folge hatten, treffen die Urteile des XXXX und des XXXX keine Feststellungen und können daher diesbezüglich keine Bindungswirkung entfalten.

Wie in der Beschwerde schlüssig ausgeführt, ist es zum einen äußerst unüblich, in einem Strafverfahren zum sexuellen Missbrauch auch wegen schwerer Körperverletzung im Sinne des § 84 Abs. 1 StGB und den Qualifikationstatbeständen der §§ 206 Abs. 3 bzw. 207 Abs. 3 StGB zu verurteilen. Zum anderen wurde aufgrund der geständigen Verantwortung des Stiefvaters keine Aussage der Beschwerdeführerin und auch kein Gutachten zu den potentiellen Folgeschäden, die bei der Beschwerdeführerin durch die erlittenen Verbrechen möglicherweise aufgetreten sind, eingeholt. Es kann sohin im vorliegenden Fall betreffend die Beurteilung der Schwere einer psychischen Gesundheitsstörung, welche das Ausmaß des § 84 Abs. 1 StGB erreicht, von keiner Bindungswirkung des Strafurteils ausgegangen werden, da dieses keine entsprechenden Feststellungen zu den Auswirkungen der Verbrechen auf die Beschwerdeführerin enthält. Wie ebenfalls richtigerweise in der Beschwerde hingewiesen, ist es in einem Strafverfahren betreffend sexuellen Missbrauch auch nicht die Aufgabe des Strafgerichts, die Schwere einer psychischen Gesundheitsschädigung festzustellen, sondern ist dies vielmehr eine zivilrechtliche Angelegenheit.

Aus diesem Grund ist nicht nachvollziehbar, warum die belangte Behörde (welche zur Frage, ob eine psychotherapeutische Behandlung aufgrund des erlittenen Missbrauchs notwendig bzw. medizinisch indiziert sei, sehr wohl um eine ärztliche Stellungnahme ersuchte) betreffend die für die Zuerkennung der Pauschalentschädigung für Schmerzengeld notwendige Klärung, ob die Tat eine schwere Körperverletzung gemäß § 84 Abs. 1 StGB zur Folge hatte, kein Sachverständigengutachten einholte, sondern sich auf eine vermeintliche Bindungswirkung des Strafurteils stützte, die - wie soeben ausgeführt - mangels Feststellungen zu einer etwaigen Körperverletzung nicht vorliegt.

Die belangte Behörde hat daher bisher keine geeigneten Ermittlungsschritte gesetzt, den maßgebenden Sachverhalt im Hinblick auf die Frage des Vorliegens einer schweren Körperverletzung infolge einer Handlung iSd § 1 Abs. 1 Z 1 VOG zu ermitteln.

Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein jahrelanger regelmäßiger schwerer sexueller Missbrauch an einem Mädchen im Alter von zehn bis 12 Jahren meist nicht ohne psychische Folgen bleibt. Ein Hinweis auf diesbezügliche Probleme der Beschwerdeführerin findet sich in dem vorgelegten Befund der Kinderklinik XXXX vom 18.04.2018. Die Chefärztin des Ärztlichen Dienstes hielt daher in ihrer Stellungnahme vom 24.07.2018 allein aufgrund der Aktenlage eine Psychotherapie für gerechtfertigt. Zum Zwecke der Feststellung, ob die vorliegenden strafbaren Handlungen bei der Beschwerdeführerin eine schwere Körperverletzung im Sinne des § 84 Abs. 1 StGB zur Folge hatten, wird die belangte Behörde im fortgesetzten Verfahren ein psychologisches bzw. psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen haben.

Unter diesen Gesichtspunkten leidet der angefochtenen Bescheid unter erheblichen Ermittlungsmängeln und erweist sich für das Bundesverwaltungsgericht der vorliegende Sachverhalt als so mangelhaft, dass weitere notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes diesbezüglich unerlässlich erscheinen.

Da der maßgebliche Sachverhalt noch nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückzuverweisen.

2.5. Einfall der mündlichen Verhandlung

Aufgrund der Behebung des angefochtenen Bescheides konnte eine Verhandlung gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen.

2.6. Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Bindungswirkung, Ermittlungspflicht, Kassation, Körperverletzung,
mangelnde Sachverhaltsfeststellung, Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W265.2205311.1.00

Zuletzt aktualisiert am

08.01.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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