TE Bvwg Erkenntnis 2018/10/25 W196 2120934-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.10.2018
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Entscheidungsdatum

25.10.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art.133 Abs4
FPG §52

Spruch

W196 2120934-1/23E

W196 2120932-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Ursula SAHLING als Einzelrichterin über die Beschwerde von 1.) XXXX, geb. XXXX, 2.) XXXX, geb. XXXX, beide StA. Russische Föderation, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. German BERTSCH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.01.2016, ad 1.) Zl. 1054396602-150302535, ad 2.) Zl. 1091966006-151604926, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.08.2018 zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden gemäß § 3 Abs. 1 und § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

Den Beschwerden wird hinsichtlich Spruchpunkt III. stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.

(1.) XXXX und (2.) XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung " jeweils für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation reiste am 24.03.2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Zweitbeschwerdeführerin ist die am XXXX in Wien geborene Tochter der Erstbeschwerdeführerin. Für diese stellte ihre Mutter und gesetzliche Vertreterin am 22.10.2915 einen Antrag auf internationalen Schutz. Anfang Juni 2015 heiratete die Erstbeschwerdeführerin nach traditionellem islamischen Recht in Wien den aus Dagestan stammenden XXXX. Dieser ist derzeit in Österreich subsidiär schutzberechtigt und hat bis 10.12.2018 einen Aufenthaltstitel.

2. Im Zuge ihrer Ersteinvernahme vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 24.03.2015 gab die Erstbeschwerdeführerin an, aus XXXX, XXXX, Dagestan, Russische Föderation zu stammen. Dort habe sie von 2001 bis 2009 die Grundschule besucht. Danach habe sie in Machatschkala ein College, eine Mode-Schule, besucht. Sie gehöre der Volksgruppe der Awaren an und sei Muslimin. Sie sei dort seit 12.01.2014 traditionell verheiratet und sei im zweiten Monat schwanger. Sie spreche Awarisch und Russisch. Im Herkunftsland leben noch ihr Ehe-Mann, ihre Eltern und ein Bruder. Sie habe gegen ihren Willen heiraten müssen und wäre regelmäßig von ihrem Mann geschlagen worden. Sie sei dann zu einer Freundin nach Moskau geflüchtet und von dort nach Österreich. Fluchtgrund wäre die Angst vor ihrem Ehemann und vor ihrem Vater.

3. Am 03.12.2015 wurde die Erstbeschwerdeführerin durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein einer Dolmetscherin niederschriftlich einvernommen wobei sie die Angaben vom 24.03.2015 wiederholte und zu ihrem neuen Ehemann ergänzte, dass sie mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebe und er ihre Tochter adoptieren wolle. Ihr Inlandsreisepass befände sich bei der Freundin in Moskau. Dadurch dass sie ihrem ersten Gatten weggelaufen sei habe sie seine Ehre verletzt und fürchte nun, dass sie der Vater oder der Ex-Mann töten wolle. Sie habe nach ihrer zwangsweisen Heirat nur mit der Mutter über ihre Probleme reden könne. Aber diese konnte ihr bezüglich des gewalttätigen Ehemannes auch nicht helfen und meinte, dass sie es eben aushalten müsse. Sie sei von ihrem Exmann ausschließlich vergewaltigt worden und als sie schwanger wurde wollte er, dass sie das Kind abtreiben lasse. In dieser Absicht habe er sie dann auch sehr stark geschlagen und die Erstbeschwerdeführerin habe große Angst um ihr Kind gehabt. Bei ihrer Freundin in Moskau sei sie nicht geblieben da sie gefürchtet habe, dass sie dort von ihrer Familie hätte gefunden werden können.

5.

Mit Bescheiden vom 07.01.2016, 1.) Zl. 1054396602-150302535, ad

2.)

Zl. 1091966006-151604926, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl in Bezug auf die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkte I.) als auch bezüglich des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation ab (Spruchpunkt II.) und erteilte den Beschwerdeführerin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Begründend wird darin ausgeführt, dass der von der Erstbeschwerdeführerin geschilderte Fluchtgrund nicht nachvollziehbar sei, da sie sich weder an die Polizei noch an die russischen Behörden gewendet habe um ihrem gewalttätigen Ehemann zu entkommen und um Schutz zu finden. Das Sicherheitswesen funktioniere in der Russischen Föderation sehr wohl und Vergewaltigung sei ein strafrechtliches Delikt, welches von den Gerichten geurteilt wird. Des weiteren gäbe es Einrichtungen zum Schutz vergewaltigter Frauen. Die Erstbeschwerdeführerin habe daher keine asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat glaubhaft machen können.

Zur Zweitbeschwerdeführerin wurde ausgeführt, dass ihre Mutter die Möglichkeit gehabt hätte sicher die Sicherheitsbehörden zuwenden und Schutz zu suchen. Auch liege in ihrem Fall kein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG vor, da der in der Geburtsurkunde angegebene Vater nicht ihr leiblicher Vater sei. Die amtswegige Überprüfung habe ergeben, dass sie keine anerkannten Fluchtgründe habe.

6. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer durch ihren Vertreter mit Schreiben vom 30.01.2016 vollinhaltlich Beschwerde und führte im Wesentlichen nach Wiederholung des Verfahrensgangs und Sachverhaltes aus, dass die Behörde völlig verkannt habe, dass die Erstbeschwerdeführerin nicht einmal von ihrer eigenen Mutter in Schutz genommen worden sei. Die Erstbehörde meine, in völligen Widerspruch zum Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin, dass diese einen Zugang zu ihrer Familie und damit auch eine gesicherte Existenz hätte, obwohl sie ja deutlich gemacht hätte, dass die Mutter wohl eindeutig auf Seiten des Ex-Mannes der Erstbeschwerdeführerin gestanden sei. Noch, dass ihr Vater ihr geholfen hätte, der sie ja in diese Zwangsehe hineingetrieben hätte.

Die Behörde habe sich weder mit der familiären Lage der Erstbeschwerdeführerin auseinandergesetzt bzw. habe diese familiäre Lage völlig ignoriert und habe die belangte Behörde die Rückkehrsituation der Beschwerdeführerin verkannt bzw. im Lichte der aktuellen Länderinformation zu ihrem Herkunftsland einer genaueren Prüfung unterziehen müssen und prüfen ob damit eine Gefährdung nach Art. 3 EMRK im Falle einer Rückkehr mit Sicherheit ausgeschlossen werden könne.

Die Beschwerdeführer stellen daher die Anträge das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchführen, in eventu dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft bzw. den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen, oder die Angelegenheit zur Sanierung der Verfahrensmängel an die belangte Behörde zur Erlassung eines neuen Bescheides zurückverweisen.

7. Am 06.08.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache, der Beschwerdeführer sowie deren Rechtsvertreter statt. Das Bundesamt entsendete keinen Vertreter. In dieser Beschwerdeverhandlung wurde die Erstbeschwerdeführerin ausführlich zu ihren Fluchtgründen und ihrer Integration in Österreich befragt wurde. Sie wiederholte im Rahmen dieser Verhandlung im Wesentlichen ihre bereits vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gemachten Angaben zu ihren Fluchtgründen.

Auszugsweise gab sie dabei folgendes an:

RI: Warum haben Sie Tschetschenien verlassen?

P: Ich habe geheiratet, das war am 12. November.

RI: Wie entstand die Heirat?

P: Mein Vater hat die Ehe arrangiert.

RI: Wer ist Ihr Vater, was hat er für einen Beruf?

P: Er überprüft die medizinischen Geräte.

RI: Was ist dann passiert?

P: Es war ein Cousin meines Vaters, am 12. November habe ich ihn geheiratet. Ich wollte ihn nicht heiraten, weil für mich war das mein Onkel, für mich war es unvorstellbar, dass das jetzt mein Mann sein sollte. Er war alt und ich habe ihn von Kindheit an gekannt. Ich wollte nicht in der ersten Nacht nach der Hochzeit mit ihm schlafen, ich habe ihn gebeten zu warten, aber er war nicht einverstanden. Das hat ihn sehr aufgeregt, dass ich nicht mit ihm schlafen wollte.

RI: Wie hat die Hochzeit ausgesehen. Sie waren nur islamisch verheiratet?

P: Das wird in der Moschee gemacht, die Hochzeit wurde arrangiert. In die Moschee kommt jemand von der Seite der Braut, und der Bräutigam mit seinem Vater oder einem Verwandten, ich war gar nicht in der Moschee. Dort wird die Verantwortung für mich übergeben, sie übergeht auf meinen Mann. Die Hochzeit fand nicht am gleichen Tag statt, sondern erst am 12. November. Es gab ein Fest. Es war nicht lustig für mich. Ich habe mit Mama darüber gesprochen. Ich hatte Angst mit meinem Vater zu sprechen. Dann haben wir zusammengelebt aber ich war sehr dagegen. Es hat ihn sehr aufgeregt, dass ich es nicht will. Dann hat mir meine Mutter gesagt, dass ich nichts machen kann. Im Jänner wurde ich schwanger. Ich bin mit meiner Mutter zum Gynäkologen gegangen, der Gynäkologe hat gemeint, dass der Fötus tot ist. Er konnte die Gebärmutter nicht reinigen. Er schickte mich zu einem anderen Gynäkologen. Der zweite Gynäkologe hat gemeint, dass das Kind lebt. Ich habe dann entschieden, dass ich meinen Mann verlassen werde, ich fürchtete, dass ich sonst das Kind verlieren werde.

RI: Wie verlieren?

P: Er hat Gewalt mir gegenüber ausgeübt. Er hat mich geschlagen.

RI: Wusste er von dem Kind?

P: Ja. Er war nicht froh, als ich ihm gesagt habe, dass ich schwanger bin. Ich stand die ganze Zeit über Internet mit einer Freundin in Verbindung. Sie hat mir immer wieder gesagt, dass ich meinen Mann verlassen soll und zu ihr kommen soll. Ich habe ihr gesagt, dass ich am Freitag dem 6. März von zu Hause wegfahren werde. Mein Mann war am Freitag in der Moschee und ich hatte Zeit um auszureisen. Ich habe Geld genommen und bin um ca. 17 oder 18 Uhr von der Stadt Machatschkala nach Moskau mit einem Bus gefahren. Die Freundin wusste mit welchem Bus ich komme, sie wusste die Bus Nummer, sich hat auf mich gewartet. Sie sagte mir, dass sie jemanden kennt, der mir helfen kann. Über den Mann kann ich vielleicht ausreisen.

RI: Diese Freundin in Moskau, warum wollten Sie nicht in Moskau bei der Freundin bleiben?

P: Weil man ihre Adresse wusste.

RI: Nein, dass Sie auch in Moskau bleiben konnten? Sich eine Wohnung suchen?

P: Weil dort der leibliche Bruder meines Vaters wohnt, und ein Bruder des Vaters lebt zeitweise in Moskau. Ein anderer.

RI: Die hätten Sie dort gefunden?

P: Ich glaube schon. Als ich weggefahren bin, ist meine Mutter und mein Bruder zu meiner Freundin gekommen.

RI: Können Sie die Adresse der Freundin sagen?

P: Nein.

RI: Überhaupt nicht?

P: Nein.

RI: Haben Sie noch Kontakt zu der Freundin?

P: Derzeit nicht mehr, aber in der ersten Zeit, als ich nach Österreich kam habe ich ihr noch geschrieben.

RI: Eine andere Stadt außer Moskau in Russland?

P: Ich wollte kein Risiko auf mich nehmen, da ich Angst hatte, dass man mich dort findet.

RV: Sie haben gesagt, Sie haben mit Ihrem Vater nicht darüber geredet, weil Sie Angst hatten. Warum hatten Sie Angst?

P: Weil mein Vater auch gewalttätig war.

RV: Als Sie mit dem ersten Kind schwanger waren gingen Sie zum Gynäkologen, gab es einen Grund dafür?

P: Weil ich schwanger geworden bin.

RV: In der EB gaben Sie an, der erste Mann hätte Sie geschlagen, als er erfuhr, dass Sie schwanger waren?

P: Er hat mich geschlagen, aber ich bin nicht zum Arzt, weil er mich geschlagen hat, sondern weil ich schwanger war.

RI: Sind Tschetschenen nicht froh, wenn sie Kinder bekommen?

P: Ich weiß nicht warum das so war, er hatte ja schon Kinder.

RI: Wieso hatte er schon Kinder?

P: Weil er vor mir verheiratet war.

RI: Was war mit seiner Frau?

P: Er hat sich scheiden lassen.

RI: Wie viele Kinder hatte er?

P: Drei.

RV: Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?

P: Weil unsere Stadt, Bujnaksk, nicht groß ist. Und bei der Polizei hat seine Bekannte gearbeitet.

RI: Wieso hat Ihr jetziger Mann subsidiären Schutz bekommen, wissen Sie das?

P: Ich habe nicht gefragt.

RI stellt fest, dass es für die P eine innerstaatliche Fluchtalternative gäbe.

P: Wissen Sie, bei uns halten die Leute zusammen, wenn mein Vater etwas braucht und sich an seinen Bruder wendet, dann würde er es bekommen, man hätte mich jedenfalls gefunden.

RI: 14.500 Tschetschenen leben allein in Moskau.

RI: Wissen Sie etwas von Ihrer Familie, oder haben Sie keinen Kontakt?

P: Derzeit weiß ich nichts.

RI: Haben Sie Geschwister?

P: Ja, einen Bruder.

RI: Ich habe keine weiteren Fragen, ich möchte nur Ihren Mann fragen, warum er subsidiären Schutz hat.

RV: Sie hat angegeben, dass Sie bisher noch keinen Deutschkurs besucht hat?

P: Ich besuche noch keinen Kurs, weil es keine Kinderbetreuung gibt, ab September werde ich einen Kurs besuchen.

P verlässt den Saal, der Zeuge betritt den Saal.

RI befragt den Ehemann der PXXXX, ausgewiesen durch: Karte für subsidiär Schutzberechtigte, Nr. 2047801-004:

RI: Wer sind Sie und warum haben Sie subsidiären Schutz?

Z: Ich hatte eine Lebensgefährtin, ihre Brüder haben bei der Polizei gearbeitet, sie hat Hijab getragen, sie war gänzlich verhüllt. Sie ist spurlos verschwunden, ich weiß nicht wohin. Die Brüder haben mich festgehalten und zusammen geschlagen ich musste deswegen meine Heimat verlassen. Ich komme aus Dagestan, ich möchte heiraten, aber ich kann es nicht. Ich möchte meine Frau heiraten, ich habe alle Dokumente, vielleicht können Sie mir einen Rat geben, ich möchte heiraten, aber ich komme nicht zum Original der Geburtsurkunde. Vielleicht können Sie mir sagen, an welche Organisation ich mich hier wenden kann.

RI: Sie müssen Sich an Ihre Verwandten wenden.

Z: Wenn jemand einen positiven Bescheid bekommt, dann bekommt man auch hier eine Geburtsurkunde.

RI: Bei subsidiär Schutzberechtigten, geht man davon aus, dass sobald die Gefahr vorüber ist, diese wieder zurückkehren.

P: Ich möchte, dass meine Frau auch arbeiten geht, nicht sofort, sie muss erst die Sprache lernen. Die Kinder werden dann den Kindergarten besuchen.

RI: Was arbeiten Sie?

Z: Im Lager bei der Firma in Lenzing. HD Transporte.

RI weit RV an die Integrationsunterlagen einzusammeln.

Z auf Deutsch: Bitte geben Papier für meine Frau und mein Kind.

RI: Was Ihrer Frau passiert ist, würde rechtlich nicht zu Asyl führen.

Z: Aber sie wird umgebracht, wenn man sie nach Hause schickt. Das zweite Kind ist mein Kind, wie soll das gehen? Was mache ich, wenn sie einen negativen Beschied bekommt?

RI: Es gibt schon Voraussetzungen, z.B. wenn jemand fünf Jahre hier ist, und Integrationsleistungen erbracht hat, Ihre Frau ist erst seit drei Jahren hier.

Z: Geben Sie ihr irgendein Dokument!

RI: Die Entscheidungen müssen gerecht sein, d.h. für alle gleich. Es geht darum Menschen vor dem Tod zu retten.

Z: Aber sie wird umgebracht. In Russland ist alles korrupt, jede Information kann man kaufen.

RI: Da kann man Sie auch in Wien finden, noch viel leichter, weil es wenige Tschetschenen hier gibt.

Z: Aber sie ist hier, und ist m eine Frau, sie hat mein Kind geboren, die Kinder sind ja an nichts schuldig. Ich liebe beide Töchter gleich, ich bemühe mich für beide da zu sein. Was macht sie, wenn sie nach Hause geht, sie wird umgebracht, was passiert dann mit den Kindern?

RI: Sie wird nicht nach Dagestan oder Moskau zurückgeschickt, wo anders ist es nicht gefährlich.

Z: Alle werden nach Moskau abgeschoben, sie wird dort registriert und wird dort ergriffen werden. Und was passiert mit mir?

RI: Es gibt eine Rechtsprechung, dass man mit fünf Jahren leichter hierbleiben kann.

Z: Ich habe nicht gebeten, dass es schneller geht. Ich habe nur gesagt, dass meine Tochter eine grüne Karte hat, und ich möchte, dass sie eine andere Karte hat, weil die Kinder von den Leuten die kommen, oft gleich Dokumente bekommen.

RI: Ihren Bescheid haben Sie den?

Z: Ich kann Ihnen den zukommen lassen.

......

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Aufgrund der Anträge auf internationalen Schutz vom 24.03.2015 bezüglich der Erstbeschwerdeführerin und vom 22.10.2015 bezüglich der Zweitbeschwerdeführerin, den Einvernahmen der Erstbeschwerdeführerin durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 24.03.2015 sowie durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 03.12.2015, des Bescheides vom 07.01.2016, der dagegen erhobenen Beschwerde vom 30.01.2016, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungs- und Gerichtsakten, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister sowie insbesondere auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung am 06.08.2018, werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

Zum Verfahrensgang:

Die Erstbeschwerdeführerin reiste am 24.03.2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz einbrachte. Die Zweitbeschwerdeführerin ist die am XXXX in Wien geborene Tochter der Erstbeschwerdeführerin. Für diese stellte ihre Mutter und gesetzliche Vertreterin am 22.10.2915 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Beide Anträge wurden mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom vom 07.01.2016, ad 1.) Zl. 1054396602-150302535, ad 2.) Zl. 1091966006-151604926, sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch bezüglich des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen; gleichzeitig wurde den Beschwerdeführern kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und gegen diese eine Rückkehrentscheidung erlassen. Gegen diesen Bescheid erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.

Anfang Juni 2015 heiratete die Erstbeschwerdeführerin nach traditionellem islamischen Recht in Wien den aus Dagestan stammenden XXXX. Dieser ist derzeit in Österreich subsidiär schutzberechtigt und hat bis 10.12.2018 einen Aufenthaltstitel.

Zu den Beschwerdeführern:

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehören der Volksgruppe der Awaren an, sind muslimischen Glaubens und beherrschen die russische Sprache. Ihre Identität steht fest.

Die Erstbeschwerdeführerin lebt aktuell mit ihrer Tochter XXXX, der Zweitbeschwerdeführerin, ihrem Ehemann, und der gemeinsamen Tochter Amina, im Bundesgebiet, bezieht Leistungen aus der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Sie ist bemüht die deutsche Sprache zu lernen und besucht einen Deutschkurs A1. Die Beschwerdeführer sind gesund und in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Der Ehemann ist Lagerarbeiter bei der Firma Lenzing.

Die Erstbeschwerdeführerin brachte glaubhaft vor von ihrem Vater mit einem gewalttätigen Ehemann zwangsverheiratet worden zu sein und war das Verhalten des Ehemannes gegenüber der Beschwerdeführerin ab diesem Zeitpunkt von Aggression geprägt und kam es zu mehrmaligen gewalttätigen Übergriffen und Misshandlungen, wovon die Beschwerdeführerin auch Verletzungen davontrug. Als ihr Exmann auch noch versuchte ihre Schwangerschaft durch Schläge zu beenden entschloss Sie sich die gemeinsame Wohnung heimlich zu verlassen und nächtigte bei einer Freundin in Moskau. Mit Hilfe der Freundin gelang es der Beschwerdeführerin nach Österreich zu flüchten.

Die Zweitbeschwerdeführerin ist die in Wien geborene Tochter der Erstbeschwerdeführerin und ihres Ex-Ehemannes und brachte keine eigenen Fluchtgründe vor.

Es ist nicht davon auszugehen, dass den Beschwerdeführern aktuell in der gesamten Russischen Föderation Verfolgung durch ihren Ehemann droht und sie sich nicht in einem anderen Teil der Russischen Föderation niederlassen und die Hilfe staatlicher Behörden in Anspruch nehmen kann. Der Beschwerdeführerin kann daher die Rückkehr in die Russischen Föderation zugemutet werden, sie könnte sich in anderen Regionen der Russischen Föderation oder in Großstädten wie St. Petersburg oder Moskau niederlassen ohne vom gewalttätigen Ehemann gefunden zu werden.

Die Erstbeschwerdeführerin hat keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft gemacht. Die gesetzliche Vertreterin der Zweitbeschwerdeführerin, die Erstbeschwerdeführerin, hat keine eigenen Fluchtgründe für ihre Tochter vorgetragen und beziehen diese sich allesamt auf das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin.

Nicht festgestellt werden konnte, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung der Beschwerdeführer nach Georgien reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für diese als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.

Die Beschwerdeführer leiden an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen (im Endstadium), bezüglich derer es keine Behandlungsmöglichkeiten in ihrer Heimat gibt.

Die Erstbeschwerdeführerin und ihre Tochter erfüllen die Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005. Sie führen im Bundesgebiet ein schützenswertes Privat- und Familienleben. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin befindet sich seit 2012 im Bundesgebiet und verfügt über ein Bleiberecht als subsidiär Schutzberechtigter Flüchtling. Am 16.06.2017 wurde die gemeinsame Tochter Amina in Feldkirch geboren. Die Beschwerdeführer führen im Bundesgebiet ein schützenswertes Privat- und Familienleben.

Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation (21.07.2017):

1. Politische Lage im Allgemeinen

Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).

Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).

Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).

Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,

http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017

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CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017

-

GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c24819, Zugriff 21.6.2017

-

GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017

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Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,

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RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,

http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017

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Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,

http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017

2. Sicherheitslage im Allgemeinen

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).

Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens', bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).

Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist ein Ansteigen der Sympathien für den IS - v.a. auch auf Kosten des sog. Kaukasus-Emirats - festzustellen. Nicht nur die bislang auf Propaganda und Rekrutierung fokussierte Aktivität des IS im Nordkaukasus erregt die Besorgnis der russischen Sicherheitskräfte. Ein Sicherheitsrisiko stellt auch die mögliche Rückkehr von nach Syrien oder in den Irak abwandernden russischen Kämpfern dar. Laut diversen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen kann man davon ausgehen, dass die Präsenz russischer Kämpfer in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasst. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten Syrien und Irak zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen. Zu Jahresende 2015 liefen laut Angaben des russischen Innenministeriums rund 880 Strafprozesse, die meisten davon basierend auf den relevanten Bestimmungen des russischen StGB zur Teilnahme an einer terroristischen Handlung, der Absolvierung einer Terror-Ausbildung sowie zur Organisation einer illegalen bewaffneten Gruppierung oder Teilnahme daran. Laut einer INTERFAX-Meldung vom 2.12.2015 seien in Russland bereits über 150 aus Syrien zurückgekehrte Kämpfer verurteilt worden. Laut einer APA-Meldung vom 27.7.2016 hat der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB erläutert, das im Vorjahr geschätzte 3.000 Kämpfer nach Russland aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak oder Afghanistan zurückkehrt seien, wobei 220 dieser Kämpfer im besonderen Fokus der Sicherheitskräfte zur Vorbeugung von Anschlägen ständen. In einem medial verfolgten Fall griffen russische Sicherheitskräfte im August 2016 in St. Petersburg auf mutmaßlich islamistische Terroristen mit Querverbindungen zum Nordkaukasus zu. Medienberichten zufolge wurden im Verlauf des Jahres 2016 über 100 militante Kämpfer in Russland getötet, in Syrien sollen über 2.000 militante Kämpfer aus Russland bzw. dem GUS-Raum getötet worden sein (ÖB Moskau 12.2016).

Der russische Präsident Wladimir Putin setzt tschetschenische und inguschetische Kommandotruppen in Syrien ein. Bis vor kurzem wurden reguläre russische Truppen in Syrien überwiegend als Begleitcrew für die Flugzeuge eingesetzt, die im Land Luftangriffe fliegen. Von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - der Einsatz von Artillerie und Spezialtruppen in der Provinz Hama sowie von Militärberatern bei den syrischen Streitkräften in Latakia - hat Moskau seine Bodeneinsätze bislang auf ein Minimum beschränkt. Somit repräsentiert der anhaltende Einsatz von tschetschenischen und inguschetischen Brigaden einen strategischen Umschwung seitens des Kremls. Russland hat nun in ganz Syrien seine eigenen, der sunnitischen Bevölkerung entstammenden Elitetruppen auf dem Boden. Diese verstärkte Präsenz erlaubt es dem sich dort langfristig eingrabenden Kreml, einen stärkeren Einfluss auf die Ereignisse im Land auszuüben. Diese Streitkräfte könnten eine entscheidende Rolle spielen, sollte es notwendig werden, gegen Handlungen des Assad-Regimes vorzugehen, die die weitergehenden Interessen Moskaus im Nahen Osten unterlaufen würden. Zugleich erlauben sie es dem Kreml, zu einem reduzierten politischen Preis seine Macht in der Region zu auszubauen (Mena Watch 10.5.2017). Welche Rolle diese Brigaden spielen sollen, und ihre Anzahl sind noch nicht sicher. Es wird geschätzt, dass zwischen 300 und 500 Tschetschenen und um die 300 Inguscheten in Syrien stationiert sind. Obwohl sie offiziell als "Militärpolizei" bezeichnet werden, dürften sie von der Eliteeinheit Speznas innerhalb der tschetschenischen Streitkräfte rekrutiert worden sein (FP 4.5.2017).

Für den Kreml hat der Einsatz der nordkaukasischen Brigaden mehrere Vorteile. Zum einen reagiert die russische Bevölkerung sehr sensibel auf Verluste der russischen Armee in Syrien. Verluste von Personen aus dem Nordkaukasus würden wohl weniger Kritik hervorrufen. Zum anderen ist der wohl noch größere Vorteil jener, dass sowohl Tschetschenen, als auch Inguscheten fast alle sunnitische Muslime sind und somit derselben islamischen Richtung angehören, wie ein Großteil der syrischen Bevölkerung. Die mehrheitlich sunnitischen Brigaden könnten bei der Bevölkerung besser ankommen, als ethnisch russische Soldaten. Außerdem ist nicht zu vernachlässigen, dass diese Einsatzkräfte schon über Erfahrung am Schlachtfeld verfügen, beispielsweise vom Kampf in der Ukraine (FP 4.5.2017).

Bis jetzt war der Einsatz der tschetschenischen und inguschetischen Bodentruppen auf Gebiete beschränkt, die für den Kreml von entscheidender Bedeutung waren. Obwohl es momentan eher unwahrscheinlich scheint, dass die Rolle der nordkaukasischen Einsatzkräfte bald ausgeweitet wird, agieren diese wohl weiterhin als die Speerspitze in Moskaus Strategie, seinen Einfluss in Syrien zu vergrößern (FP 4.5.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.7.2017b): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_93DF338D07240C852A755BB27CDFE343/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/RussischeFoederationSicherheit_node.html, Zugriff 21.7.2017

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FAZ (26.4.2017):"Erst der Anfang", http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/anschlag-in-st-petersburg-russland-steht-im-visier-von-terror-14989012.html, Zugriff 21.7.2017

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FP - Foreign Policy (4.5.2017): Putin has a new secret weapon in Syria: Chechens,

http://foreignpolicy.com/2017/05/04/putin-has-a-new-secret-weapon-in-syria-chechens/, Zugriff 21.7.2017

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ICG - International Crisis Group (14.3.2016): The North Caucasus Insurgency and Syria: An Exported Jihad?

http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1458642687_238-the-north-caucasus-insurgency-and-syria-an-exported-jihad.pdf, S. 16-18, Zugriff 21.7.2017

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ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

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Mena Watch (10.5.2017): Russland setzt auf sunnitische Soldaten in Syrien,

http://www.mena-watch.com/russland-setzt-auf-sunnitische-soldaten-in-syrien/, Zugriff 21.7.2017

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Standard (25.4.2017): Al-Kaida reklamiert Anschlag auf U-Bahn in St. Petersburg für sich,

https://derstandard.at/2000056544365/Al-Kaida-reklamiert-Anschlag-auf-U-B

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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