Entscheidungsdatum
30.10.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W256 2171616-1/5E
W256 2171617-1/4E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag. Caroline KIMM als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX alias XXXX, geboren am XXXX und 2. XXXX alias XXXX, geboren am XXXX, alle StA. Afghanistan, alle vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12. September 2017, 1. Zl. XXXX und 2. Zl. XXXX:
A) Die angefochtenen Bescheide werden betreffend Spruchpunkt I.
gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufgehoben und die Angelegenheiten zur Erlassung von neuen Bescheiden an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer, afghanische Staatsangehörige, stellten am 30. November 2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers.
Am 4. August 2017 wurde die Erstbeschwerdeführerin von der belangten Behörde unter Beiziehung eines männlichen Dolmetschers einvernommen. Dabei führte sie zu ihrem Fluchtgrund befragt zunächst im Wesentlichen aus, Probleme mit dem IS gehabt zu haben. Ihr Ehemann habe insofern sechs Monate vor ihr Afghanistan in Richtung Europa verlassen und habe sie anschließend für ca. drei Monate bei seiner Familie in Afghanistan gelebt. Diese habe die Erstbeschwerdeführerin nicht nur sehr schlecht behandelt, sondern auch eine neuerliche Heirat der Erstbeschwerdeführerin massiv gefordert. Die Erstbeschwerdeführerin sei daraufhin gemeinsam mit dem Zweitbeschwerdeführer zu ihrem Vater gezogen. Aufgrund ihrer ständigen Angst vor der Familie ihres Ehemannes habe sie aber schlussendlich Afghanistan u.a. gemeinsam mit ihrem Sohn verlassen.
Aus dem im Akt erliegenden Einvernahmeprotokoll geht nicht hervor, dass die Erstbeschwerdeführerin im Hinblick auf ihre vorgebrachte drohende Zwangsverheiratung durch die Familie ihres Mannes von der belangten Behörde auf die Möglichkeit der Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin hingewiesen worden ist. Die Beiziehung eines männlichen Dolmetschers wurde von ihr nicht verlangt.
Mit den angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), der Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde ihnen dagegen zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III). Begründend führte die belangte Behörde - sofern hier wesentlich - aus, die behauptete Verfolgung durch die Familie ihres Ehemannes sei nicht glaubhaft.
Gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide richtet sich die vorliegende Beschwerde der Beschwerdeführer. Die Erstbeschwerdeführerin sei durch die Familie ihres Ehemannes der Gefahr einer Zwangsverheiratung ausgesetzt (gewesen). Das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer sei daher zu Unrecht für unglaubhaft erklärt worden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt A)
Zur Erstbeschwerdeführerin:
Gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat. Diese Vorgangsweise setzt nach § 28 Abs. 2 Ziffer 2 voraus, dass die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht nicht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
In seinem Erkenntnis vom 26. Juni 2014, Zl. Ro 2014/03/0063, hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG insbesondere dann in Betracht kommen wird, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. jüngst auch den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 25. Jänner 2017, Zl. Ra 2016/12/0109, Rz 18ff.).
Das durchgeführte Verfahren ist in Bezug auf die Erstbeschwerdeführerin mangelhaft.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Gemäß § 20 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein Asylwerber, wenn er seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung gründet, von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
In seinem Erkenntnis vom 19. Dezember 2007, Zl. 2005/20/0321 hat der Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf die diesbezüglich inhaltsgleiche Vorgängerbestimmung des § 27 Abs. 3 AsylG 1997 ausgesprochen, dass Zweck dieser Bestimmung der Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung sein soll, weshalb dementsprechend auch die Beiziehung eines Dolmetschers des gleichen Geschlechtes nach dieser Bestimmung geboten ist.
Wird ein Asylwerber dennoch von einer Person eines anderen Geschlechts bzw. unter Beiziehung eines Dolmetschers eines anderen Geschlechts einvernommen, [...] wird [das] vielfach als krasser Ermittlungsmangel zu qualifizieren sein, der eine Behebung gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG rechtfertigt, sofern die beweiswürdigenden Erwägungen wesentlich auf der betreffenden Einvernahme aufbauen [...] (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht (2016) § 20 AsylG 2005, K3).
Im vorliegenden Fall hat sich die Erstbeschwerdeführerin im Rahmen ihrer Einvernahme vor der belangten Behörde auf eine drohende Zwangsverheiratung in Afghanistan und ihre darauffolgende Flucht und damit auf Gründe gestützt, die mit einem Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung in Zusammenhang stehen (siehe zum Eingriff in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung betreffend eine Zwangsverheiratung das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 18. September 2015, E1003/2014, wonach bereits die Furcht vor einer Zwangsverheiratung ausreichend ist; siehe dazu auch das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 27. Juni 2016, Ra 2014/18/0161).
Dem dargestellten Zweck des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 entsprechend, wäre die belangte Behörde daher gehalten gewesen, die Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin unter Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin durchzuführen, bzw. die Erstbeschwerdeführerin über ihr diesbezügliches Recht zumindest in Kenntnis zu setzen. Die Erstbeschwerdeführerin hat die Beiziehung eines männlichen Dolmetschers weder von der belangten Behörde verlangt, noch wurde sie vom Bestehen einer anderen Möglichkeit in der gesetzlichen normierten Form in Kenntnis gesetzt.
Durch die Nichtbeachtung des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 hat die belangte Behörde der Erstbeschwerdeführerin aber die Möglichkeit genommen, über ihre drohende Zwangsverheiratung ungezwungen und ohne Hemmungen zu erzählen. Es kann daher nicht zweifelsfrei festgestellt werden, ob die Erstbeschwerdeführerin ausreichend Gelegenheit zur Darstellung der diesbezüglichen Gründe für ihren Aufenthalt außerhalb ihres Herkunftsstaates hatte, weshalb die gegenständliche Einvernahme zur Beurteilung des Sachverhaltes die Erstbeschwerdeführerin betreffend - wie von der belangten Behörde erfolgt - auch nicht herangezogen werden hätte dürfen. Der maßgebliche Sachverhalt kann daher erst durch die (neuerliche) den Anforderungen des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 entsprechende Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin sowie allenfalls durch die Vornahme weiterer, sich aus der neuen Einvernahme ergebenden, Ermittlungsschritte, wie Länderrecherchen, festgestellt werden.
Die belangte Behörde hat es daher - entgegen ihrer in § 18 AsylG 2005 normierten Ermittlungspflicht - insgesamt unterlassen, sich mit den von der Erstbeschwerdeführerin geltend gemachten Fluchtgründen eingehend zu befassen. Der Sachverhalt ist somit in wesentlichen Punkten umfassend ergänzungsbedürftig geblieben, weshalb im Hinblick auf diese besonders gravierenden Ermittlungslücken eine Zurückverweisung erforderlich und auch gerechtfertigt ist (vgl. dazu den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 20. Oktober 2015, Zl. Ra 2015/09/0088).
Die belangte Behörde wird daher im fortgesetzten Verfahren angehalten, sich mit den dargestellten Fluchtgründen der Erstbeschwerdeführerin eingehend auseinanderzusetzen und dazu konkrete Ermittlungsschritte, sei es durch eine gezielte und den Anforderungen des § 20 Abs. 1 AsylG entsprechende Befragung, durch Einholung von entsprechenden Länderberichten oder durch weitere sich daraus ergebender Maßnahmen, zu setzen.
Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Denn die belangte Behörde ist als Spezialbehörde im Rahmen der Staatendokumentation gemäß § 5 BFA-Einrichtungsgesetz für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig. Überdies soll eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden.
Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind daher im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Folglich war das Verfahren zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückzuverweisen.
Zum Zweitbeschwerdeführer:
Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang.
Beim Zweitbeschwerdeführer handelt es sich um einen Familienangehörigen im Sinne des § 2 Abs. 2 Z 22 AsylG 2005. Da das die Erstbeschwerdeführerin betreffende Verfahren hinsichtlich der Gewährung des Status von Asylberechtigten wieder bei der belangten Behörde anhängig ist und gemäß § 34 Abs. 4 AsylG Verfahren von Familienangehörigen "unter einem" zu führen sind, war der den Zweitbeschwerdeführer betreffende Bescheid ebenso aufzuheben (siehe dazu die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 30. Juni 2011, 2011/23/0098; vom 25. November 2009, 2007/01/1153; sowie vom 26. Juni 2007, 2007/20/0281, ua).
Eine mündliche Verhandlung konnte im vorliegenden Fall gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG unterbleiben, weil bereits aufgrund der Aktenlage feststand, dass die angefochtenen Bescheide "aufzuheben" waren. Dieser Tatbestand ist auch auf Beschlüsse zur Aufhebung und Zurückverweisung anwendbar (vgl. zur gleichartigen früheren Rechtslage Hengstschläger/Leeb, AVG [2007] § 67d Rz 22).
Zu Spruchpunkt B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist unzulässig, weil keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Dass eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG insbesondere dann in Betracht kommt, wenn die Verwaltungsbehörde bloß ansatzweise bzw. unzureichend ermittelt oder bloß ungeeignete Ermittlungen gesetzt hat, entspricht der oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Familienverfahren,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2018:W256.2171617.1.00Zuletzt aktualisiert am
09.01.2019