Entscheidungsdatum
31.10.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W131 2131438-1/22E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag Reinhard GRASBÖCK als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX, geb XXXX, StA: AFGHANISTAN gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom 20.07.2016, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, wie am 24.07.2018 mündlich verkündet und hiermit schriftlich ausgefertigt, beschlossen:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs 3 2. Satz VwGVG idgF behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (= Bf) beantragte am 11.01.2016 internationalen Schutz. Nach dem gänzlich abweislichen Bescheid vom 20.07.2016 und einer dagegen im Punkte der Talibanverfolgung als Fluchtgrund erhobenen Beschwerde wurde der Beschwerdeakt an das BVwG vorgelegt.
2. Nach anderweitiger gerichtsabteilungsmäßiger Vorzuständigkeit wurde der gegenständliche Beschwerdeakt der hier erkennenden Gerichtsabteilung zugewiesen (OZ 8 des Beschwerdeakts).
3. Im Frühjahr 2018 wurde für den Bf nach einer vorangehenden Beschwerdeergänzung neben integrationsbescheinigenden Unterlagen ua auch eine Taubescheinigung bei der persischen Christengemeinde vorgelegt, womit der gegenständliche Beschwerdefall auch unter dem Aspekt eines Nachfluchtgrunds der Konversion zu beurteilen sein dürfte.
4. Nach Verhandlungsausschreibung für 24.07.2018 langte am 20.07.2018 ein weiterer Schriftsatz ein, in dem unter Aufrechterhaltung der bisherigen Fluchtgründe als weiterer Fluchtgrund geltend gemacht wurde, dass der Bf bisexuell wäre und in Österreich insoweit Kontakte zu Transfrauen unterhalten würde.
Der Bf hätte aber bereits vor seiner Einreise nach Österreich homosexuelle Kontakte gehabt. Ein Neuerungsverbot würde - wegen Fehlerhaftigkeit des Verfahrens gemäß Beschwerdergänzung - nicht bestehen.
Der Bf hätte wegen der Einvernahme durch eine weibliche Dolmetschperson vor dem BFA nicht das notwendige Vertrauen gehabt, sich dieser Frau gegenüber als bisexuell zu offenbaren.
5. Am 23.07.2018 wurde schließlich eine neue Vollmacht für Frau XXXX von der Organisation "XXXX" vorgelegt; und wurde von dieser neuen Vertreterin mitgeteilt, dass die primären Fluchtgründe des Bf seine sexuelle Orientierung und die lange Abwesenheit aus der Heimat wäre. Der Bf würde daher ersuchen, die Konversion nicht als primären Fluchtgrund zu erachten.
6. Die Verhandlung am 24.07.2018; die vor Ergehen des anderweitigen Erkenntnisses des VwGH v 10.08.2018 zu Ra 2018/20/0314 durchgeführt wurde, verlief samt damaliger Verkündung des Zurückverweisungsbeschlusses in den hier interessierenden Teilen wie folgt [R = Richter; RV = Rechtsvertreterin des Bf]:
[...]
Nunmehr wird klargestellt, dass die Umfrage betreffend Ausschluss der Öffentlichkeit [...] und allenfalls die Belehrung gemäß § 301 StGB dann erfolgen werden, wenn zur Frage des Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung näher ermittelt wird.
RV ist damit einverstanden.
R: Können Sie sich an Ihre Befragungen vor dem BfA bzw. vor der Polizei erinnern?
Bf: Ja.
R: Sind Sie vor der Polizei vom Bestehen der Möglichkeit belehrt worden, dass eine Befragung durch einen Organwalter des gleichen Geschlechtes verlangt werden kann?
Bf: Nein.
R: Dem Bf wird vorgehalten ein Merkblatt über die Rechte und Pflichten des Asylwerbers im Asylverfahren, welches ih[m] nach der Niederschrift der Erstbefragung auch in der Sprache Dari ausgefolgt worden ist und welches auf Seite 4 die Passage enthält: "Sollte sich Ihre Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe Ihre sexuelle Selbstbestimmung begründen, so haben Sie das Recht von einer Person Ihres Geschlechts einvernommen zu werden". Die Frage daher, kennen Sie dieses Formular und haben Sie bei der Erstbefragung ein solches Formular erhalten?
Bf: Ich kann mich daran nicht mehr erinnern. Ich glaube, dass ich diese Informationen nicht bekommen habe.
R: Amtswegig wird festgehalten, dass im vorliegenden Aktenmaterial das nachweisliche In-Kenntnis-Setzen nicht durch eine besondere Unterschrift des Bf dokumentiert ist.
Eröffnung der Verhandlung
R: Welche Religionszugehörigkeit haben Sie?
Bf: Zunächst war ich Moslem, jetzt bin ich ein Christ.
R: Welcher christlichen Konversion gehören Sie an?
Bf: Protestant.
R: Kennen Sie die XXXX Christengemeinde?
Bf: Ja, ich habe dieXXXXin der Kirche, wo ich zum Beten gehe, kennengelernt.
R: Wer ist der Chef der XXXX Christengemeinde in Wien?
Bf: Bruder XXXX.
R: Wissen Sie, dass Ihre Rechtsvertretung gestern an das Gericht geschrieben hat, dass Sie Ihr Asylbestreben nicht vorrangig auf Ihre Konversion stützen wollen?
Bf: Ja.
R: Die Verhandlung [wird] um 15:00 Uhr unterbrochen, da nachgesehen wird, ob der geladene Pastor bereits erschienen ist. Um 15:01 Uhr wird fortgesetzt.
Der gestern kurzfristig geladene Pastor betritt den Gerichtssaal (siehe zur Ladung OZ 13). Ihm wird erklärt, dass seine Einvernahme vorerst aufgrund von Neuerungen nicht mehr erforderlich ist.
Der Zeuge verzichtet [...].
R: Wird bestritten, dass der Bf in erster Instanz nicht nachweislich im Sinne von ausdrücklich und nachhaltig über seine Rechte gem. § 20 Abs. 1 AsylG belehrt wurde.
RV: Er wurde nicht nachweislich im Sinne von ausdrücklich und nachhaltig über seine Rechte gemäß § 20 Abs. 1 AsylG belehrt.
Schluss des Ermittlungsverfahrens.
Der Richter verkündet gemäß § 29 VwGVG den nachfolgenden Beschluss samt wesentlichen Entscheidungsgründen und erteilt die Rechtsmittelbelehrung:
A) In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid gem. § 28 Abs. 3 VwGVG aufgehoben und die Rechtssache zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gem. Artikel 133 Abs. 4 B-VG zulässig.
Tragende Gründe: Das Ermittlungsverfahren hat ergeben, dass der Beschwerdeführer in erster Instanz nicht besonders auf seine Rechte gem. § 20 Abs. 1 AsylG hingewiesen wurde.
Dadurch war ihm glaubhaft nicht bewusst, dass er das Recht hätte, bei Asylgründen im Zusammenhang mit der sexuellen Selbstbestimmung die Befragung durch einen Organwalter des gleichen Geschlechts zu verlangen. Das Gericht stellt dazu klar, dass nach seiner Auslegung des § 20 AsylG bei derartigen Asylgründen die Aussagenbarrieren gegenüber andersgeschlechtlichen Personen vermieden werden sollen, was bei der Befragung mit Übersetzungshilfe dazu führt, dass von dieser Bestimmung und dem Recht auf eine bestimmte Übersetzungsperson (dem Geschlecht nach) auch die Person des Dolmetschers bzw. Dolmetscherin umfasst ist.
Wegen dieses Verfahrensmangels der nicht entsprechenden Belehrung wurde der Beschwerdeführer um seine Möglichkeit gebracht, bereits in erster Instanz ohne psychische Barrieren seinen nunmehr im Beschwerdeverfahren zuletzt relevierten Asylgrund der Bisexualität ohne die zu vermeidenden psychischen Barrieren darzulegen.
Damit erscheint das durchgeführte Ermittlungsverfahren wegen des festgestellten Belehrungsfehlers in zentralen Punkten ermittlungsmangelhaft. Da in diesem Bereich des Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung noch überhaupt keine erstinstanzlichen Ermittlungen vorliegen, würde hier das BVwG weder rascher noch einfacher ermitteln.
Da Artikel 41 GRC in diesem durch EU-Richtlinien geprägten Rechtsbereich bereits eine umfassende und faire Ermittlung durch die Verwaltungsinstanz verlangt, legt bereits Artikel 41 GRC eine Aufhebung und Zurückverweisung nahe. Dazu kommt noch, dass Artikel 47 GRC ein Recht auf ein effektives Rechtsmittel an ein Gericht verlangt. Nach der gerichtlichen Auffassung umfasst dieses Verfahrensrecht daher insbesondere auch das Recht, bereits vorhandene Tatsachenfeststellungen auf Beweiswürdigungsebene zu bekämpfen, was nicht mehr möglich wäre, wenn das BVwG erstmalig betreffend einen bestimmten Asylgrund die Tatsachen erheben müsste, da dann das Recht auf gerichtliche Tatsachenkontrolle verloren gehen würde. Letzteres deshalb, weil der VwGH keine Tatsacheninstanz ist und der VfGH nur eine verfassungsrechtliche Grobprüfung durchführt.
Aus diesen Gründen erscheint es zweckmäßig bzw. unionsrechtlich geboten, von der Möglichkeit der Aufhebung und Zurückverweisung Gebrauch zu machen, zumal dies nicht mehr Aufwand verursacht, als der alternativ denkbare Weg gem. § 55 AVG in Verbindung mit § 17 VwGVG vorerst um Ermittlungen durch das BfA zu ersuchen, um selbige danach überprüfen zu können.
Die Revision war deshalb zuzulassen, weil keine verfestigte Rechtsprechung des VwGH zur Frage vorzulegen scheint, in welcher besonderen Weise der Beschwerdeführer gem. § 20 Abs 1 AsylG anzuleiten gewesen wäre.
[...]
Belehrung gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG:
Die Parteien werden gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG belehrt
1. über das Recht, binnen zwei Wochen nach Ausfolgung bzw. Zustellung der Niederschrift eine Ausfertigung des Erkenntnisses oder des Beschlusses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG zu verlangen;
2. darüber, dass ein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses oder Beschlusses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revision beim Verwaltungsgerichtshof und der Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof darstellt.
Die beschwerdeführende Partei verzichtet nach Belehrung über die Folgen des Verzichts gemäß § 25a Abs. 4a VwGG und § 82 Abs. 3b VfGG ausdrücklich auf
? die Revision beim Verwaltungsgerichtshof;
? die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof.
Da die belangte Behörde nicht erschienen ist, wird ihr die Niederschrift entsprechend zuzustellen sein, um ihre Rechte gem. § 29 Abs. 2a VwGVG zu wahren.
[...]
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Bf machte im Laufe des bisherigen Verfahrens zur Erlangung von internationalem Schutz mehrere Gründe geltend, wobei neben einer von den Taliban ausgehenden Gefahr und einer Konversion seit 20.07.2018 nunmehr insb vorrangig geltend gemacht wird, dass der Bf bereits vor seiner Einreise nach Österreich bisexuell gewesen wäre und seine Bisexualität erst in Österreich einem coming out - Prozess zuführen habe können; bzw rekurriert der Bf am 23.07.2018 vorrangig zusätzlich auf seine lange Abwesenheit von der Heimat als Fluchtgrund.
1.2. Der Bf wurde von der belangten Behörde nicht nachweislich in einer ihm ausreichend verständlichen Sprache im Rahmen einer Einzelfallmanuduktion davon in Kenntnis gesetzt, dass er Anspruch darauf hätte, im Falle des Fluchtgrunds des Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung von einem Organwalter gleichen Geschlechts einvernommen zu werden. IdS wurde weder behauptet noch ist sonst hervorgekommen, dass der Bf jemals darüber belehrt worden wäre, dass er - ratione legis - auch Anspruch darauf hätte, von einer Dolmetschperson gleichen Geschlechts befragt zu werden oder gegenteilig eine Dolmetschperson des anderen Geschlechts zu verlangen. Dem Bf waren seine Rechte gemäß § 20 Abs 1 AsylG, mit denen die vor dem BVwG unwidersprochen vorgebrachten Aussagehemmschwellen beseitigt hätten werden können, in erster Instanz nicht bewusst.
1.3. Der Bf wurde von der belangten Behörde gemäß AS 31 des Verwaltungsakts (Niederschrift über die Einvernahme im Asylverfahren unter Beiziehung der gerichtsbekannten Frau XXXX als Dolmetscherin einvernommen, ohne dass der Bf eine weibliche Dolmetscherin verlangt hätte.
1.4. Der Bf hat die Niederschrift über die Erstbefragung am 11.01.2016 zwar unterschrieben, wobei die Einvernahme nach dieser Niederschrift um 15.43 begann und um 16.25 endete, also weniger als eine Stunde dauerte. Gemäß Seite 2 dieser Niederschrift wäre dem Bf damals ein Merkblatt über die Rechte und Pflichten von Asylwerbern ausgefolgt worden, wobei dieses Merkblatt im gelegentlich der Beschwerdevorlage vorgelegten Verwaltungsaktenmaterial weder auf Deutsch noch auf Dari in den Verwaltungsakt eingebunden gewesen ist, aber ausweislich der OZ 17 des Gerichtsakts acht Seiten auf Deutsch umfasst. Auf der Seite 4 von 8 dieses Merkblatts findet sich - ersichtlich zB - in der OZ 17 des Gerichtsakts eine Belehrung zu § 20 Abs 1 AsylG auf Deutsch, in der auf den verfahrensrechtlich einvernehmenden Organwalter abgestellt wird, nicht aber auf die die Einvernahmekommunikation für die Behörde faktisch führende Dolmetschperson.
2. Beweiswürdigung:
Der Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem Akteninhalt/sprich den Bestandteilen des Verwaltungsakts, des Gerichtsakts; und den Ergebnissen der Verhandlung vom 24.07.2018.
Dass der Bf nicht im Rahmen einer Einzelfallmanuduktion, sohin nicht bei einem nachweislichen Zur - Kenntnis - Bringen, in einer ihm verständlichen Sprache über seine Rechte gemäß § 20 Abs 1 AsylG belehrt wurde, ergibt sich dabei insb bereits aus der Niederschrift über die Erstbefragung - § 14 AVG. Es wurde idS nicht protokolliert, dass der Bf über seine nach § 20 Abs 1 AsylG bestehenden Rechte (zB iZm Dolmetschpersonen) nachweislich konkret dazu belehrt wurde.
Dass dem Bf seine Rechte nach § 20 Abs 1 in erster Instanz nicht bewusst waren und er entsprechende aussagehemmschwellen gegenüber der weiblichen Dolmetscherin bei seiner Einvernahme hatte, entspricht dem unbestrittenen parteivorbringen und erschein vor dem Hintergrund von zB der Entscheidung des VwGH zu diesem Thema zu Zl 2001/01/0402 als schlüssig.
Die Tatsache der Befragung durch eine weibliche Dolmetscherin bei der Einvernahme vor dem BFA ergibt sich aus der Gerichtskenntnis über die Person dieser Dolmetscherin, die auch beim BVwG zu Übersetzungen bestellt wird.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht hier durch einen Einzelrichter, und wendet dabei abseits von Sonderverfahrensvorschriften in Materiengesetzen das VwGVG und gemäß § 17 VwGVG subsidiär das AVG an.
Zu A)
3.2. § 20 Abs 1 AsylG idF vom 24.07.2018 lautet:
§ 20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
3.2.1. Der Gesetzgeber hat im zweiten Satz dieser Bestimmung nicht nur eine Belehrung an sich normiert, sondern darüber hinaus verlangt, dass ein Asylwerber nachweislich über seine diesbezüglichen Rechte in Kenntnis zu setzen ist.
3.2.2. Der VwGH hat zu einer funktionsgleichen Vorgängerbestimmung zur Zl 2001/01/0402 (und im gleichen Sinn wie zu Zlen 2008/20/0541 und 2001/01/0403) ausgeführt wie folgt:
[...] Dass sich darüber hinaus in den von der genannten Bestimmung erfassten Konstellationen in allen Stadien des Asylverfahrens auch die Beiziehung eines Dolmetschers gleichen Geschlechts als geboten erweist, versteht sich bei verständiger Würdigung dieser Vorschrift nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes von selbst, weil nur insoweit dem von § 27 Abs. 3 letzter Satz AsylG verfolgten Zweck (Abbau von Hemmschwellen) adäquat Rechnung getragen werden kann
[...]
3.2.3. Als rechtliches Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass § 20 Abs 1 AsylG idF vom 24.07.2018 (gemäß BGBl I 2017/145) ratione legis iSd Rsp des VwGH verlangt, dass ein Asylwerber vom BFA nachweislich davon in Kenntnis zu setzen ist, dass er bei Asylgründen iZm dem behaupteten Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung Anspruch auf Einvernahme auch unter Beiziehung einer Dolmetschperson gleichen Geschlechts hat, bzw das Recht hat, Gegenteiliges zu verlangen.
3.2.4. Der gesetzliche Zweck dieser Vorschrift bzw dieser sachgerechten Auslegung durch den VwGH besteht eindeutig darin, dass ein Asylwerber bei seinen Einvernahmen bei der Schilderung seiner Fluchtgründe nicht zusätzlich zur sonst notorisch stressbehafteten Situation auch noch mit der Hemmschwelle konfrontiert sein soll, mit einer Person über seine Fluchtgründe iSv § 20 Abs 1 AsylG kommunizieren zu müssen, der er sich auf Basis der Geschlechtlichkeit des Kommunikationspartners typischer Weise nicht anvertrauen will. Da der Kommunikationspartner bei einer Einvernahme unter Dolmetschbeiziehung aus der Natur der Sache heraus die Dolmetschperson ist, lässt das VwGH - Erk zu Zl 2001/01/0402 umso verständlicher erscheinen.
3.2.5. Bei den verba legalia in § 20 Abs 1 AsylG: "Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu
setzen." ... ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber hier zusätzlich
zu der ohnehin bestehenden Manuduktionspflicht gemäß § 13a AVG eine besondere Anleitungspflicht normiert hat. Eine unnotwendige bzw unnütze Zusatzregelung ist dabei dem Gesetzgeber nicht zu unterstellen.
Regelungsmethodisch vergleichbar in der Bundesrechtsordnung erlangt eine Vertragsbestimmung ungewöhnlichen Inhalts in (Vertrags-) Formblättern nur bei besonderem Hinweis des anderen darauf gemäß § 864a ABGB Gültigkeit .
Ähnlich schützt § 6 Abs 2 KSchG den Erklärungsempfänger von bestimmten einseitig vom anderen Vertragspartner gewollten Vertragsbestimmungen mangels durchgeführter Einzelaushandlung vor der Gültigkeit dieser typisch für den Erklärungsempfänger nachteiligen Vertragsbestimmungen.
Als Grundgedanke all dieser Regelungen erscheint damit deduzierbar, dass ein Erklärungsempfänger einer für ihn potentiell nachteiligen Nachrichtnach diesen Rechtsgrundlagen immer im Einzelfall zu bestimmten im Raum stehenden Rechtsfolgen angesprochen werden muss, um diese Rechtsfolgen danach bei ihm auch zu seinen Lasten anwenden zu können. Wird nicht konkret über die im Raum stehenden Rechtsfolgen gesprochen, verhält sich der Erklärende rechtswidrig, im Falle der fehlerhaften Belehrung gemäß § 20 Abs 1 AsylG, bei der der Asylwerber nicht nachweislich über seine Rechte gemäß § 20 Abs 1 AsylG belehrt wird, ereignet sich ein Verfahrensfehler, der wegen der nicht ausgeräumten, gesetzlich angenommenen Aussagehemmschwelle iSv VwGH Zl 2001/01/0402 zu wesentlichen Ermittlungsmängeln führt.
3.3. Verfahrensrechtlich ist an dieser Stelle vorerst auch festzuhalten, dass es unter Bedachtnahme auf VfGH zu U98/12 dem Bf nicht zu Nachteil gereicht, wenn der Bf im Rahmen seiner Erstbefragung mit einem männlichen Dolmetsch seine Fluchtgründe nicht umfassend dargelegt hat, da die Erstbefragung gemäß VfGH gerade nicht dazu dient; noch dazu wo der Bf bei seiner Erstbefragung im Formularpunkt 14 die Angst vor der Tötung durch die Taliban angegeben hat, was iZm Fluchtgründen gemäß § 20 Abs 1 AsylG und einer diesbezüglich zu erwartenden Beurteilung durch konservativ - islamische Kreise wie den Taliban die Fluchtgrundschilderung bei der Erstbefragung als bloß als unvollständig erscheinen lässt; zur möglichen Behandlung von Homosexuellen gemäß Scharia siehe zB Pacic, Islamische Rechtslehre (2014), 237. Bei seiner Einvernahme vor der belangten Behörde am 19.07.2016 wurde der Bf durch eine Frau als Dolmetscherin befragt und bestand damals genau jene Hemmschwellensituation, der der § 20 Abs 1 AsylG vorbeugen will.
Weiters ist verfahrensrechtlich festzuhalten, dass die Beschwerde des Bf bereits mit rechtsfreundlicher Unterstützung einer Rechtsberatungseinrichtung verfasst wurde, so dass entsprechend § 20 Abs 2 AsylG idF vom 24.07.2018 die Verhandlung vor dem BVwG mangels Beschwerdebehauptung gemäß § 20 Abs 1 AsylG auch mit einer weiblichen Dolmetscherin durchgeführt werden konnte, zumal § 20 Abs 1 AsylG nur eine besondere Ausformung der Manuduktionspflicht gemäß § 13a AVG ist und daher nicht zum Tragen kommen kann, wenn die hinsichtlich Manuduktion fragliche Verfahrenspartei ohnehin rechtsfreundlich beraten ist.
Zudem wurde vor dem BVwG nicht inhaltlich zur Frage des Fluchtgrunds gemäß § 20 Abs 1 AsylG ermittelt.
3.4. Verfahrensmäßig ist schließlich festzuhalten, dass bereits vor dem Hintergrund der österreichischen Verfassungslage eine erstinstanzliche Zuständigkeit des BVwG abzulehnen ist, siehe dazu jüngst VfGH zu G 186/2018, insoweit konform mit dem Gesetzesprüfungsantrag des VwGH in diesem Gesetzesprüfungsverfahren.
3.4.1. Unionsprimärrechtlich räumt Art 41 GRC ein Recht auf gute Verwaltung ein, was einen Anspruch auf gerechte Behandlung, und eine Pflicht zur ordnungsmäßigen Verwaltung bedeutet, siehe dazu Jarass, Charta der Grundrechte der EU3 Art 41 GRC Rzz 41ff. Mag man dabei Art 41 GRC gegenständlich nicht unmittelbar einschlägig erscheinen lassen, führen die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts zum gleichen Ergebnis, siehe dazu Jarass, aaO, Rz 9.
3.4.2. Sekundärrechtlich hatte der Bf gemäß Art 12 Abs 1 lit a der RL 2013/32/EU einen Anspruch auf entsprechende Belehrung gemäß § 20 Abs 1 AsylG auch auf Dari.
Aus Art 16 dieser Richtlinie erschließt sich dabei unionsrechtskonform in Vollziehung des AsylG, dass der Bf zu seinen Asylgründen zu befragen ist. Damit ist aber auch klar, dass der Schutzantrag des Bf bereits erstinstanzlich auf Basis bestimmter Asylgründe und dabei mit den entsprechenden Verfahrensgarantien, wie zB bei den Ausführungen zu Art 41 GRC dargestellt, zu prüfen ist. Dass es auf die jeweilig vorgebrachten Asylgründe ankommt, ergibt sich dabei auch aus Art 11 Abs 3 bzw Art 15 Abs 3 der zitierten RL.
Kommt es aber maßgeblich auf die Asylgründe des jeweiligen Asylwerbers für die Entscheidung über den Asylantrag an, erscheint durch die RL 2013/32/EU gewährleistet, dass iS einer Verfahrensgarantie die Pflicht besteht, über jeden Asylgrund eine erstinstanzliche Entscheidung herbeizuführen.
Dass erstinstanzlich über jeden Asylgrund zu entscheiden ist, ergibt sich nach hier vertretener Ansicht insb auch daraus, dass Art 46 Abs 1 der bezogenen Verfahrensrichtlinie einen wirksamen Rechtsbehelf an ein Gericht vorsieht, was nicht gewährleistet wäre, würde das BVwG faktisch als erste Instanz erstmalig über einen bestimmten Fluchtgrund entscheiden.
3.4.3. Wiederum unionsprimärrechtlich räumt Art 47 GRC das - primärrechtlich - abgesicherte subjektive Recht ein, dass betreffend die jeweiligen durch die Union garantierten Rechte ein wirksamer Rechtsbehelf an ein Gericht gewährleistet ist. Unter diese Verfahrensgarantien fallen dabei sämtliche durch Unionsrecht geprägten subjektiven Rechte, also insb auch die bereits in den Richtlinien 2011/95/EU und 2013/32/EU vorgezeichneten Rechte, die durch das nationale Asylrecht umzusetzen sind - siehe dazu Jarass, aaO, Art 47 GRC, Rz 6.
Ein wirksamer Rechtsbehelf iSv Art 47 GRC setzt dabei nach hier vertretener Auffassung auch die Möglichkeit voraus, Tatsachenfragen im Rechtsmittelwege durch ein Gericht neu beurteilen zu lassen, was aber nicht mehr gewährleistet wäre, wenn bestimmte Tatsachen, die als Asylgrund in Frage stehen, erstmalig auf Tatsachenebne durch das BVwG festgestellt werden müssten, zumal es instanzenmäßig über dem BVwG keine umfassend tätige gerichtliche Tatsacheninstanz mehr gibt, die die wirksame gerichtliche Tatsachenkontrolle gewährleisten würde. (Der VwGH gemäß B-VG und VwGG ist keine gerichtliche Tatsacheninstanz, der VfGH gemäß B-VG und VfGG nimmt lediglich eine vefassungsrechtliche Grobprüfung und damit keine umfassende Prüfung von Tatsachenfragen vor. Sohin fehlte es insoweit am unionsrechtlich erforderlichen wirksamen Rechtsbehelf in Tatsachenfragen iSv Art 47
GRC.)
3.5. Der § 28 Abs 3 VwGVG lautet in den hier interessierenden Teilen:
[...] Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. [...]
Diese Bestimmung ermöglicht eine Zurückverweisung einer Rechtssache an die Verwaltungsbehörde, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen, die der VwGH grundlegend in der Entscheidung zu Zl Ro 2014/03/0063 zusammengefasst hat. Demnach gilt:
[...] Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl [...].
3.6. In Anwendung der vorstehenden Ausführungen auf den vorliegenden Fall ist damit zusammenfassend auszuführen:
3.6.1. Der Bf wurde erstinstzanzlich nicht entsprechend darüber belehrt, dass er gemäß § 20 Abs 1 AsylG das Recht hätte, wegen seiner erst nunmehr vorgebrachten Bisexualität, die bereits vor seiner Einreise nach Österreich gelebt worden war, entweder von einer Person gleichen Geschlechts einvernommen zu werden oder aber Gegenteiliges verlangen zu können, wobei sich diese Rechte des Bf iSv VwGH 2001/01/0402 insb auch auf die den Bf einvernehmenden Dolmetschpersonen beziehen..
Durch diesen Manuduktionsfehler gilt das Neuerungsverbot gemäß § 20 Abs 1 Z 2 BFA - VG nicht und kann der Bf daher auch erst jetzt auf den Fluchtgrund der Bisexualität rekurrieren.
3.6.2. Wegen des aufgezeigten Manuduktionsfehlers in erster Instanz hat es die Behörde verfahrensfehlerkausal unterlassen, ohne Vorliegen der Aussagehemmschwelle iSv VwGH 2001/01/0402 irgendwelche geeigneten Ermittlungsschritte zu setzen, um zu überprüfen, ob der Bf tatsächlich bisexuell ist und ob dem Bf daher aus diesem Grund Verfolgung gemäß § 3 AsylG in Afghanistan droht.
Die belangte Behörde hat es insoweit verfahrensfehlerkausal unterlassen, auch nur ansatzweise geeignet zum vorgebrachten Fluchtgrund der Bisexualität gehörig zu ermitteln. Derart mangelhafte Ermittlungen machen eine Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs 3 VwGGVG zulässig - VwGH Zl Ro 2014/03/0063.
3.6.3. Wenn - auch abseits der zwischenzeitig durch den VfGH zu G186/2018 neuerlich betonten Verpöntheit der erstinstanzlichen Tätigkeit des BVwG (iZm (hier) Fluchtgründen) - über die dargestellte Unionsrechtslage klar ist, dass in den Mitgliedsstaaten der erforderliche Sachverhalt je Fluchtgrund unionsrechtskonform in einem fairen, gerechten und objektiven Verfahren ermittelt wird;
und dass danach für den Bf ein effektives bzw wirksames Rechtsmittel an ein Gericht isd Art 47 GRC (bzw iSd Sekundärrechts) auch in Tatsachenfragen zur Verfügung stehen muss,
erschien es gegenständlich geradezu indiziert bzw unionsrechtlich geboten, durch die ausgesprochene Aufhebung und Zurückverweisung sicherzustellen, dass der Bf (auch) bei seinem Fluchtgerund der Bisexualität jene Verfahrensrechte und den Instanzenzug an ein Gericht für ein wirksames Rechtsmittel auch in Tatsachenfragen hat, die dem Bf über das Unionsrecht zustehen.
Dass das BVwG im Vergleich zu dem ausweislich öffentlich zugänglicher Informationen planstellenmäßig aktuell sehr gut ausgestatteten BFA die fraglichen Ermittlungen zum neuen Fluchtgrund rascher und schneller erledigen könnte, wurde nicht behauptet und ist auch sonst nicht bekannt, zumal zB ua ein potentiell indiziertes Glaubhaftigkeitsgutachten durch Psychologen/Psychiater im Gefolge der zB auch in Deutschland - aktuell mitunter modifiziert - vertretenen Nullhypothese (iSd des BGH v ursprünglich 30. Juli 1999, 1 StR 618/98) vor dem BFA und vor dem BVwG (samt Entgegentretensmöglichkeit auf gleicher fachlicher Ebene und potentiellem Obergutachten) wohl gleich viel Zeit in Anspruch nehmen wird, nachdem jeweils zuvor die unionsrechtliche Zulässigkeit zB auch eines derartigen Beweismittels vorab entsprechend beurteilt wurde.
Dementsprechend war das dem BVwG gesetzlich eingeräumte Zuzrückverweisungsermessen gemäß § 28 Abs 3 VwGVG gegenständlich iSd Zurückverweisung auszuüben.
Zu B) Zulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision war bereits deshalb zuzulassen, weil (zum Entscheidungszeitpunkt 24.07.2018) keine verfestigte Rechtsprechung des VwGH zur Frage vorgelegen ist, in welcher Weise der Beschwerdeführer gemäß § 20 Abs 1 AsylG anzuleiten gewesen wäre, um das nachweisliche In - Kenntnis - Setzen iSv § 20 Abs 1 AsylG zu gewährleisten, welches gemäß VwGH zu Zl 2001/01/0402 auch für Dolmetschpersonen auf Behördenseite gilt.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Kassation, mangelndeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2018:W131.2131438.1.00Zuletzt aktualisiert am
08.01.2019