Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Kinder 1. S*****-M*****, geboren ***** 2003, 2. Lia*****, geboren ***** 2004, 3. S*****-A*****, geboren ***** 2010, und 4. Lim*****, geboren ***** 2012, alle vertreten durch das Land Oberösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Landeshauptstadt Linz, Soziales, Jugend und Familie, 4041 Linz, Hauptstraße 1–5), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 31. Jänner 2018, GZ 15 R 41/18g, 15 R 42/18d, 15 R 43/18a und 15 R 44/18y-35, womit infolge Rekurses des Bundes die Beschlüsse des Bezirksgerichts Linz jeweils vom 22. November 2017, GZ 36 Pu 230/11s-22–25, bestätigt wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidung des Rekursgerichts wird aufgehoben und die Pflegschaftssache zur neuerlichen Entscheidung an das Rekursgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung:
Die 2003, 2004, 2010 und 2012 geborenen Kinder tschetschenischer Abstammung sind Staatsbürger der Russischen Föderation. S*****-M***** und Lia***** befinden sich seit 2005 in Österreich, S*****-A***** und Lim***** sind in Österreich geboren. Sie leben bei ihrer Mutter in Linz. Die Ehe der Eltern ist geschieden.
Mit Bescheiden des Bundesasylamts aus den Jahren 2008 (S*****-M***** und Lia*****), 2010 (S*****-A*****) und 2012 (Lim*****) war ihnen jeweils der Status als Asylberechtigter zuerkannt und gemäß § 3 Abs 5 AsylG festgestellt worden, dass ihnen kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
Mit einstweiliger Verfügung des Bezirksgerichts Linz vom 17. 7. 2017, GZ 36 Pu 230/11s-11, wurden S*****-M***** sowie Lia***** vorläufig monatliche Unterhaltsbeiträge in Höhe von 80 EUR und S*****-A***** sowie Lim***** vorläufige monatliche Unterhaltsbeiträge von jeweils 70 EUR zuerkannt (ON 11). Mit Beschluss vom 14. 8. 2017 wurde der Unterhalt ab 1. 6. 2017 in gleicher Höhe festgesetzt und die einstweilige Verfügung aufgehoben (ON 13).
Das Erstgericht gewährte den Kindern am 31. Jänner 2018 (erstmals) monatliche Unterhaltsvorschüsse gemäß den §§ 3, 4 Z 1 UVG, und zwar S*****-M***** vom 1. 8. 2017 bis 30. 9. 2021 in Höhe von 80 EUR; Lia***** vom 1. 8. 2017 bis 31. 7. 2022 in Höhe von 80 EUR; S*****-A***** und Lim***** jeweils vom 1. 8. 2017 bis 31. 7. 2022 in Höhe von jeweils 70 EUR.
Das Erstgericht traf folgende weitere Feststellungen:
Das Leben in Tschetschenien ist zwar „normal“, aber die Lebensumstände sind schlecht. Es besteht für Menschen tschetschenischer Abstammung keine medizinische Betreuung, die Lebensverhältnisse und die Ernährung sind sehr schlecht. Die Kinder und ihre Mutter haben Verwandte in Tschetschenien, können sich diesen aber nicht anschließen. Diese Verwandten sind arm und nicht in der Lage, die Familie aufzunehmen. Sie haben keinen Platz und keine Lebensmittel. An die noch in Tschetschenien lebende väterliche Großmutter können sich die Mutter und die Minderjährigen aufgrund der Scheidung der Ehe nicht wenden. Für alleinstehende Frauen, ist es nicht möglich, nach Tschetschenien zurückzukehren. Alleinstehende Frauen werden wegen ihrer Zugehörigkeit zur tschetschenischen Volksgruppe belästigt und drangsaliert.
Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen vorliegen. Der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren komme zwar verstärkt Indizwirkung zu, nehme dem Gericht aber nicht die Verpflichtung, die Flüchtlingseigenschaft jeweils selbständig zu prüfen. Die Volksgruppe der Tschetschenen werde aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit in der Russischen Förderation weiterhin diskriminiert und müsse sich vor willkürlicher Strafverfolgung und Benachteiligung durch staatliche Behörden fürchten.
In seinem gegen diese Entscheidung gerichteten Rekurs erhob der Bund (inhaltlich) eine umfangreiche Tatsachenrüge. Es wäre (ua) festzustellen gewesen, dass in der Russischen Föderation kein Krieg, sondern Frieden herrsche, sich die Menschen nicht in Lebensgefahr befänden, sehr viele Staatsangehörige der Russischen Föderation freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren, auch für alleinstehende Frauen, die mit Kindern in tschetschenisches Gebiet zurückkehren, die Situation nunmehr wesentlich verbessert sei, es grundsätzlich keine systematischen Diskriminierungen von Frauen gebe und keine Erkenntnisse darüber vorlägen, dass Staatsangehörige der Russischen Föderation mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt seien etc.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes nicht Folge. Aus der Entscheidung 10 Ob 19/17t ergebe sich, dass Personen, denen Asyl gewährt worden sei, ex lege die Flüchtlingsstellung zukomme. Eine Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft der Kinder werde vom Rekurswerber nicht behauptet. Ausgehend von dieser Rechtsansicht ließ das Rekursgericht die Tatsachenrüge unbehandelt.
Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs im Hinblick auf die – seines Erachtens – seit Ergehen der Entscheidung 10 Ob 19/17t nicht mehr einheitliche Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu.
Der Bund strebt mit seinem Revisionsrekurs die Abweisung des Antrags „auf Weitergewährung“ der Unterhaltsvorschüsse an.
Die Kinder halten dem in ihrer Revisionsrekursbeantwortung entgegen, dass es für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen ausschließlich darauf ankomme, dass sich ein Flüchtling berechtigt in Österreich aufhalte. Ihre Berechtigung zum Aufenthalt ergebe sich aus den Entscheidungen im Asylverfahren. Den Gerichten komme keine selbständige Prüfungsmöglichkeit zu, ob die Eigenschaft als Flüchtling noch bestehe.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs des Bundes ist zulässig und im Sinn des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
Der Oberste Gerichtshof hat in der zwischenzeitig ergangenen Entscheidung 10 Ob 40/18g zu der vom Rekursgericht als erheblich erachteten Rechtsfrage Stellung genommen, sodass auf die dort getroffenen Aussagen verwiesen werden kann.
1. Diese Aussagen lassen sich kurz dahin zusammenfassen, dass die Flüchtlingseigenschaft als Vorfrage für die Beurteilung des Personalstatuts der Kinder und damit verbunden die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 2 Abs 1 UVG vom Gericht weiterhin selbständig zu prüfen ist (RIS-Justiz RS0110397; RS0037183).
2. Die Bejahung der Asylberechtigung in einem Asylgewährungsbescheid bildet ein starkes Indiz für das Bestehen der Flüchtlingseigenschaft. Erfolgte eine Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren erst kurze Zeit vor der gerichtlichen Entscheidung, in der die Flüchtlingseigenschaft eine Vorfrage darstellt, wird das Gericht in der Regel von einer weiteren selbständigen Prüfung mangels gegenteiliger Anhaltspunkte absehen können. Anders wird es dann sein, wenn seit der Feststellung ein geraumer Zeitraum verstrichen ist und sich die Verhältnisse im Heimatstaat des Flüchtlings wesentlich geändert haben (RIS-Justiz RS0110397).
3. Im vorliegenden Fall datieren die Entscheidungen der Asylbehörden, mit denen den Kindern der Status als Asylberechtigter zuerkannt wurde, aus den Jahren 2008, 2010 und 2012, sodass die Indizwirkung der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren infolge der seither verstrichenen Zeit bereits reduziert ist. Die Gerichte haben sich daher mit der Frage zu befassen, ob die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und dem Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl 1974/78, weiter vorliegt.
4. Die Flüchtlingseigenschaft nach der GFK und dem Flüchtlingsprotokoll (BGBl 1974/78) setzt voraus, dass Personen sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb ihres Heimatlandes befinden und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt sind, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen“.
5. Das Erstgericht hat zum Fortbestehen der Flüchtlingseigenschaft seit Ergehen der Asylbescheide Feststellungen getroffen bzw diese als bescheinigt angesehen und daraus rechtlich abgeleitet, dass die Flüchtlingseigenschaft weiter besteht. Der Bund hat sich in seinem Rekurs gegen den vom Erstgericht festgestellten bzw als bescheinigt angesehenen Sachverhalt gewendet und anderslautende Tatsachenfeststellungen zur Flüchtlingseigenschaft begehrt (§ 52 Abs 2 AußStrG; § 53 AußStrG). Auf diese Tatsachenrüge ist das Rekursgericht – ausgehend von seiner Rechtsansicht – bisher nicht eingegangen.
6. Das Rekursgericht wird sich daher im fortgesetzten Verfahren mit dem bisher nicht behandelten Rekursvorbringen auseinandersetzen zu haben (§ 53 AußStrG).
7. Dies führt zur Aufhebung des Beschlusses des Rekursgerichts und zur Zurückverweisung der Pflegschaftssache an dieses zur neuerlichen Entscheidung.
Textnummer
E123596European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2018:0100OB00039.18K.0913.000Im RIS seit
11.01.2019Zuletzt aktualisiert am
11.01.2019