Entscheidungsdatum
09.10.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W177 2129447-1/26E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX geb. am XXXX, StA. Afghanistan, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst, ARGE Rechtsberatung, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 14.06.2016, XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.12.2016 und am 13.03.2018 zu Recht erkannt:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG
2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 08.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der Erstbefragung am 08.07.2015 gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund im Wesentlichen an, dass sein Vater für die afghanische Regierung gearbeitet habe, weswegen die Taliban die Familie bedrohen würden. Er selbst sei mit einem Messer attackiert und verletzt worden.
I.2. In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 13.06.2016 führte der Beschwerdeführer zum Fluchtgrund im Wesentlichen aus, dass sein Vater als Polizist tätig gewesen und aus Angst vor den Taliban in den Iran ausgereist sei. Die Taliban hätten im Haus der Familie nach dem Vater gesucht und den Beschwerdeführer mit einem Messer verletzt, weil sie seinen Vater nicht hätten finden können.
I.3. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 14.06.2016, durch Hinterlegung zugestellt am 21.06.2016, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs 9 festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen festgesetzt (Spruchpunkt IV). Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, die Gründe für das Verlassen des Heimatstaates seien nicht glaubhaft gewesen.
I.4. Mit Verfahrensanordnung vom 15.06.2016 wurde dem Beschwerdeführer für ein etwaiges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Rechtsberatungsorganisation zur Seite gestellt.
I.5. Gegen den oben dargestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.06.2016 richtet sich die am 29.06.2016 eingelangte vollumfängliche Beschwerde.
I.6. Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 15.12.2016 und am 13.03.2018 eine mündliche Verhandlung durch, an der eine Dolmetscherin für die Sprache Dari, der Beschwerdeführer und seine bevollmächtigte Rechtsvertreterin teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verzichtete auf die Teilnahme. Das Erkenntnis des AsylGH vom 23.10.2012 betreffend den Bruder des Beschwerdeführers wurde verlesen.
I.7. Am 07.03.2018 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers am Bundesverwaltungsgericht ein.
I.8. Mit Schreiben vom 19.06.2018 wurde die belangte Behörde aufgefordert, das Einvernahmeprotokoll des Bruders des Beschwerdeführers in Vorlage zu bringen. Dieses langte am 22.06.2018 am Bundesverwaltungsgericht ein und wurde dem Beschwerdeführer nebst Länderfeststellungen zur Stellungnahme übermittelt. Die Stellungnahme des Beschwerdeführers langte am 31.07.2018 am Bundesverwaltungsgericht ein.
I.8. Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
* Foto der Geburtsurkunde des Vaters des Beschwerdeführers
* Foto der Wehrdienstbestätigung des Großvaters des Beschwerdeführers
* Ausdruck einer Google-Bildersuche und eines Videos
* Foto eines Facebook-Chatverlaufes
* Konvolut medizinischer Unterlagen zur Herzklappeninsuffizienz des Beschwerdeführers
* Teilnahmebestätigung des ÖIF vom 25.10.2016 über die Teilnahme des Beschwerdeführers an einer Deutsch-Lerngruppe von 04.08.2016 bis 08.09.2016
* Kursbesuchsbestätigung des Instituts für angewandte Sprache für einen Deutschkurs A1
* Kursbesuchsbestätigung vom 25.11.2016 über die Teilnahme des Beschwerdeführers an der Übergangsklasse der BHAK und BHAS XXXX
* Bestätigung der XXXX vom 20.12.2016 über die Teilnahme des Beschwerdeführers an der Lerngruppe Treffpunkt Deutsch seit August 2016
* Bestätigung des Abschlusses der Übergangsstufe an der BMHS XXXX vom 30.06.2017
* Kursbesuchsbestätigung für einen Deutschkurs B 1.1 des XXXX vom 31.08.2017
* Teilnahmebestätigungen an einer gemeinnützigen Landschaftspflege für den Zeitraum 04.10. bis 07.10.2017 und den Zeitraum 11.10. bis 14.10.2017
* Besuchsbestätigung vom 06.03.2018 über die Psychotherapie des Beschwerdeführers wegen Belastungssymptomen, Ängsten und Panikattacken
* Schulbesuchsbestätigung der BHAK, BHAS und BHAK-B XXXX vom 07.03.2018
* Bestätigungen des ÖRK vom 08.03.2018 und vom 02.07.2018 über die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Schülerlotse seit Dezember 2017
* ÖSD Zertifikate A1 vom 21.11.2016, A2 vom 06.07.2017 und B1 vom 20.06.2018
* Bestätigung des Abschlusses der Übergangsstufe an BMHS vom 29.06.2018
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
II.1.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, geboren am XXXX und ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari.
Die Identität des Beschwerdeführers steht, mit Ausnahme der Staatsangehörigkeit und Volksgruppenzugehörigkeit, mangels Vorlage identitätsbezeugender Dokumente nicht fest.
Der Beschwerdeführer leidet an einer Herzklappeninsuffizienz infolge einer Stichverletzung und damit einhergehender Kurzatmigkeit.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
II.1.2. Zu den Lebensumständen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer wurde in XXXX Provinz Ghazni, Afghanistan geboren. Er reiste im Jahr 2011 von seinem Heimatdorf in den Iran aus.
Der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat sechs Jahr die Schule besucht. Im Iran arbeitete er vier Jahre in einer Fabrik.
In Afghanistan leben noch vier Schwestern, ein Bruder und die Mutter des Beschwerdeführers. Der Vater des Beschwerdeführers lebt im Iran. Ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers lebt als subsidiär Schutzberechtigter in Österreich.
Der Beschwerdeführer hat beachtliche Integrationserfolge vorzuweisen.
II.1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Der Vater des Beschwerdeführers war für die afghanische Regierung tätig und im Zuge dessen für die Sicherheit der Straße vom Heimatdorf des Beschwerdeführers nach XXXX mitverantwortlich. Kollegen des Vaters wurden auf der Strecke XXXX geköpft. Daraufhin flüchtete der Vater des Beschwerdeführers in den Iran.
Vor der Ausreise des Beschwerdeführers drangen Taliban in das Haus der Familie des Beschwerdeführers ein, fragten nach seinem Vater, fügten dem Beschwerdeführer Stichwunden beim Herzen zu und drohten, den Beschwerdeführer zu töten, falls sein Vater sich nicht stellen würde.
Im Fall einer Rückkehr besteht die Gefahr der Verfolgung des Beschwerdeführers durch die Taliban bis hin zur Tötung.
Dass die afghanischen Behörden den Beschwerdeführer vor Angriffen der Taliban Schutz bieten können, ist nicht zu erwarten.
Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative steht dem Beschwerdeführer nicht zur Verfügung. Er ist auch in Kabul oder einer anderen größeren Stadt der Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt.
Gründe, nach denen der Beschwerdeführer von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen ist, sind nicht hervorgekommen.
II.1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat
Ghazni zählt zu den volatilen Provinzen Afghanistans mit starker Taliban-Präsenz und bewaffneten Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen. Die Taliban konnten in der Provinz nach 2001 an Einfluss gewinnen.
II.2. Beweiswürdigung:
II.2.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers, seiner Staatsangehörigkeit und Herkunft, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit und Lebensumstände ergeben sich aus seinen gleichbleibenden und glaubwürdigen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in der Beschwerde sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Auch die belangte Behörde ging in ihrem Bescheid bereits von der Glaubwürdigkeit der diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers aus.
Aufgrund der im Verfahren unterlassenen Vorlage eines unbedenklichen nationalen Identitätsdokuments bzw. sonstiger Bescheinigungsmittel konnte die weitere Identität des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden. Soweit dieser namentlich genannt wird, legt das Gericht auf die Feststellung wert, dass dies lediglich der Identifizierung des Beschwerdeführers als Verfahrenspartei dient, nicht jedoch eine Feststellung der Identität im Sinne einer Vorfragebeurteilung iSd § 38 AVG bedeutet.
Die Feststellung zur Herzklappeninsuffizienz infolge einer Stichverletzung und damit einhergehender Kurzatmigkeit ergibt sich aus dem umfangreichen vorgelegten den Beschwerdeführer betreffenden Konvolut medizinischer Unterlagen.
Die Feststellung zur Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem im Akt einliegenden aktuellen Strafregisterauszug.
II.2.2. Zu den Lebensumständen des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zu den Lebensumständen des Beschwerdeführers ergeben sich aus dessen gleichbleibenden und glaubwürdigen Angaben. Auch die belangte Behörde ging bereits von der Richtigkeit der diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers aus.
Zur Feststellung der Integrationserfolge des Beschwerdeführers ist auf das umfassende ehrenamtliche Engagement, seine schulischen Erfolge und seine im Vergleich zu seiner Aufenthaltsdauer guten Deutschkenntnisse zu verweisen, die von den im Akt einliegenden Bestätigungen und Zertifikaten belegt werden.
II.2.3. Zu den Fluchtgründen
Die belangte Behörde begründet die fehlende persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers wesentlich mit der vermeintlichen Widersprüchlichkeit des Beschwerdeführers bei seinem Vorbringen zur Aufenthaltsdauer im Iran.
Der Beschwerdeführer gab allerdings durchgehend an, er habe Afghanistan etwa 2011 verlassen. Bereits in der Erstbefragung am 08.07.2015 führte er zum Verlassen seines Heimatstaates aus, er sei vor vier Jahren von seinem Heimatdorf aus ausgereist und in den Iran gefahren. Daraus lässt sich eine etwa vierjährige Aufenthaltsdauer im Iran erschließen sowie als Jahr der Ausreise 2011 errechnen. Damit stimmen die vom Beschwerdeführer in seiner niederschriftlichen Einvernahme am 13.06.2016 weitgehend überein, wo er zunächst angibt, er sei mit 17 Jahren - mit Blick auf das Geburtsdatum des Beschwerdeführers daher etwa im Jahr 2011 - aus Afghanistan ausgereist zu sein und später sagt, er habe vier Jahre im Iran verbracht. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerdeführer an, er habe Afghanistan nach dem dort gebräuchlichen Kalender Ende des Jahre 1389 - was etwa dem Jahr 2010/2011 nach dem gregorianischen Kalender entspricht - verlassen.
Zum von der belangten Behörde beweiswürdigend aufgegriffenen Widerspruch bei den Angaben zur Aufenthaltsdauer im Iran ist insbesondere noch anzumerken, dass die Behörde die Angaben des Beschwerdeführers zur Aufenthaltsdauer im Iran bei seiner Einvernahme vom 13.06.2016 offenbar nicht korrekt zu protokollieren vermochte, nachdem sich aus den protokollierten Jahreszahlen nach dem in Afghanistan gebräuchlichen Kalender ein Aufenthaltszeitraum von sechs Jahren und nach den in den gregorianischen Kalender transkribierten Jahreszahlen ein Aufenthaltszeitraum von acht Jahren ergibt. Dies lässt das Bundesverwaltungsgericht in diesem konkreten Punkt an der Korrektheit der Protokollierung zweifeln. Dieser von der belangten Behörde aufgezeigte vermeintliche Widerspruch kann daher keinen Einfluss auf die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers haben.
Aus dem eben ausgeführten ergibt sich auch, dass die aus dem vermeintlichen Widerspruch abgeleitete Behauptung der belangten Behörde, die Erinnerungen des Beschwerdeführers bezüglich seinen Auslandsaufenthalt seien nicht genau genug, als dass die Flucht des Beschwerdeführers aus Furcht um sein Leben ausgelöst hätte worden sein können, nichtzutreffend ist.
Der Beschwerdeführer gab zwar in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde am 13.06.2016 an, der Vorfall, in dessen Zuge er verletzt worden sei, habe sich vor etwa sechs oder sechseinhalb Jahren zugetragen, er gab jedoch in derselben Einvernahme ebenfalls an, dass seine Ausreise etwa einen Monat nach der durch den Vorfall notwendig gewordenen Operation erfolgte. Damit übereinstimmend gibt der Beschwerdeführer kurz später an, er sei nach dem Angriff etwa 20 Tage im Krankenhaus gewesen und sei dann nach weiteren etwa zehn bis 15 Tagen zuhause in den Iran ausgereist, woraus sich eine ähnliche zeitliche Einordnung der Ausreise zum Vorfall ergibt. Diese beiden Zeitangaben des Beschwerdeführers sind in der Beweiswürdigung der belangten Behörde jedoch völlig unberücksichtigt geblieben.
Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Einschätzung der Dauer von Zeitintervallen tendenziell ungenau ist, der Beschwerdeführer das Jahr der Ausreise durchgehend mit 2011 angegeben hat und er die Einbettung im kleineren zeitlichen Kontext zweimal in etwa gleichbleibend vornimmt, geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass der Vorfall sich ungefähr im Jahr 2010 oder 2011 ereignet hat. Demnach hat die mangelnde Sorgfalt der belangten Behörde bei der Würdigung des gesamten Vorbringens des Beschwerdeführers diese zur Annahme des mangelnden zeitlichen Zusammenhanges von Vorfall und Flucht geführt, ergibt sich aus den Schilderungen des Beschwerdeführers doch ein konsistentes Bild der zeitlichen Abläufe der Ereignisse. Dem von der belangten Behörde so bezeichneten "gravierendste[n] Fakt, der die Unglaubwürdigkeit [des] Vorbringens [des Beschwerdeführers] darstellt" ist damit der Boden entzogen.
Insbesondere ergibt sich, wie in der Beschwerde richtig moniert, dass der Bruder des Beschwerdeführers sowohl im Zeitpunkt des Vorfalles als auch im Zeitpunkt der Ausreise des Beschwerdeführers aus Afghanistan bereits in Österreich aufhältig war, stellte er seinen Antrag auf internationalen Schutz doch bereits am 03.11.2009. Außerdem gab der Bruder des Beschwerdeführers in seiner Stellungnahme vom 11.08.2012 an den Asylgerichtshof auch an, seit etwa einem Jahr keinen Kontakt mehr zu seiner Familie zu haben, weil er sie nicht erreichen könne und, dass er nicht wisse, was seither passiert sei. Ergänzt um das durchaus plausible Vorbringen in seiner Beschwerde, demzufolge die Mutter des Beschwerdeführers dessen Bruder nicht über die Messerattacke informierte, um ihn nicht zu beunruhigen, ergibt sich klar, dass der Bruder des Beschwerdeführers von dem Angriff im Lauf seines Verfahrens nicht erzählen konnte, weil er nicht davon wusste. Dass der Bruder des Beschwerdeführers den Vorfall unerwähnt ließ, schließt damit die Glaubwürdigkeit des Bruders des Beschwerdeführers nicht aus. Es ergibt sich viel mehr klar, dass die bereits oben dargelegte fehlerhafte zeitliche Einordnung durch die belangte Behörde zur vermeintlichen Inkonsistenz der Schilderungen der Brüder geführt hat.
Die Brüder geben viel mehr übereinstimmend an, dass der Vater mit den für die Sicherheit zuständigen Personen, welche von den Taliban ermordet wurden, zusammengearbeitet hat. Mag der Bruder des Beschwerdeführers den Vater auch nicht als Polizisten bezeichnen, so erwähnt er doch dessen Zugehörigkeit zur Partei und die Bedrohung aller Mitglieder und ehemaligen Mitglieder der Partei durch die Taliban und auch, dass sein Vater wegen seiner Mitgliedschaft von den Taliban gesucht wurde.
Auch die Beachtung der in § 15 AsylG normierten Mitwirkungspflichten und die Mitwirkung des Beschwerdeführers im Verfahren ist gemäß § 18 Abs. 3 AsylG bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens zu berücksichtigen.
Der VwGH hat in ständiger Judikatur erkannt, dass es für die Glaubhaftmachung der Angaben erforderlich ist, dass der Beschwerdeführer die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert, und dass diese Gründe objektivierbar sind, wobei zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals des "Glaubhaft-Seins" der Aussage des Asylwerbers selbst wesentliche Bedeutung zukommt. Damit ist die Pflicht des Antragstellers verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der Voraussetzungen und für eine Asylgewährung spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzungen liefern. Insoweit trifft den Antragsteller eine erhöhte Mitwirkungspflicht (VwGH vom 11.11.1991, 91/12/0143, VwGH vom 13.04.1988, 86/01/0268). Der Antragsteller hat daher das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (u.a. VwGH vom 26.06.1997, 95/18/1291, VwGH vom 17.07.1997, 97/18/0336, VwGH vom 05.04.1995, 93/180289). Die Mitwirkungspflicht bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in seiner Sphäre gelegen sind, und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann.
Der Beschwerdeführer brachte im Kern gleichbleibend und stringent vor, dass sein Vater als Polizist tätig war und in Folge der Ermordung seiner Kollegen in den Iran flüchtete: So gab er bereits in seiner Erstbefragung am 08.07.2015 zum Fluchtgrund befragt an, sein Vater habe für die Regierung gearbeitet, weswegen die Familie durch die Taliban bedroht werde. Auch seine Schnittverletzung an der Brust und die Umstände ihrer Entstehung erwähnte der Beschwerdeführer bereits in seiner Erstbefragung. In seiner niederschriftlichen Einvernahme am 13.06.2016 konkretisierte der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen dahingehend, dass sein Vater als Polizist für die Sicherheit einer Hauptstraße verantwortlich gewesen und Kollegen seines Vaters auf dieser Strecke geköpft worden seien. Entgegen der Ausführungen der belangten Behörde sind die Schilderungen des Beschwerdeführers zum Schnittverletzungs-Vorfall durchaus detailreich und lebensnah. Auch konnte das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der lebhaften und glaubwürdigen Schilderungen des Beschwerdeführers im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 15.12.2016 und vom 13.03.2018 und seines in diesem Zuge gewonnenen persönlichen Eindrucks vom Beschwerdeführer zu dem Schluss kommen, dass der Beschwerdeführer Ereignisse geschildert hat, die er tatsächlich erlebt hat.
Zur Herzklappeninsuffizienz des Beschwerdeführers führt die belangte Behörde lediglich aus, der Beschwerdeführer sei infolge einer Operation wieder gesund, stellt aber keinerlei Zusammenhang mit den Angaben des Beschwerdeführers in seiner Erstbefragung vom 08.07.2015, wo er die Messerattacke bereits erwähnt hat, und der Aussage des Beschwerdeführers in seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde vom 13.06.2016 her, wo er angibt, die Taliban hätten ihn mit dem Messer verletzt, als sie seinen Vater im Haus seiner Familie gesucht haben.
Allerdings geht aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen hervor, dass der Beschwerdeführer an einem Zustand nach einer Messerstichverletzung mit Trikuspidalinsuffizienz (= Form der Herzklappeninsuffizienz) und damit einhergehender Belastungsdyspnoe (= Kurzatmigkeit) leidet. Diese medizinischen Belege wurden von der belangten Behörde in keiner Weise gewürdigt, tragen aber unter Berücksichtigung der gleichbleibend vorgebrachten Messerattacke dazu bei, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers ausgehen muss.
Die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers wird auch dadurch gestützt, dass er im Wesentlichen relativ genaue und weitgehend übereinstimmende, konsistente und plausible Angaben zu seinen Lebensumständen gemacht hat und auf Fragen nach Details und näheren Umständen von behaupteten Vorfällen sowohl vor der belangten Behörde als auch vor dem Bundesverwaltungsgericht ohne langes Zögern und fragwürdiges Ausweichen regelmäßig unmittelbar und plausibel antworten konnte.
Auch das Verhalten des Beschwerdeführers seit seinem Aufenthalt in Österreich - insbesondere seine aufrichtigen Integrationsbemühungen durch ehrenamtliches Engagement, Schulbesuch, Besuch mehrerer Sprachkurse und Lerngruppentreffen sowie Absolvierung dreier Sprachprüfungen - stützt seine persönliche Glaubwürdigkeit.
Die Asylbehörden haben in der Beweiswürdigung den realen Hintergrund der vom Asylwerber vorgetragenen Fluchtgeschichte in ihre Überlegungen einzubeziehen und die Glaubwürdigkeit seiner Behauptungen auch im Vergleich zur einschlägigen Berichtslage zu messen (VwGH vom 11.04.2018, Ra 2018/20/0040).
Auch vor dem Hintergrund der vorliegenden Länderinformationen erscheint die Messer-Attacke auf den Beschwerdeführer wegen der Tätigkeit seines Vaters für die Regierung durchaus plausibel, berichten diese doch von Druck auf die Familien und deren Bestrafung. Auch Fälle, wo Verwandte hingerichtet worden sind, sind bekannt. Hierzu wird insbesondere im Landinfo Report Afghanistan:
Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne von 23. August 2017 von Dr. Antonio Giustozzi unter Punkt 4. Identifizierung von Zielpersonen zur Einschüchterung und Tötung berichtet:
"Überall, wo die Taliban vertreten sind, zielten sie von vorne herein insbesondere auf die Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte ab, die sich weigern, den Dienst zu quittieren. Sie übten Druck auf deren Familien aus, um deren Ausscheiden zu erzwingen und drohten Bestrafung an, wenn ihrer Forderung nicht Folge geleistet würde. In einigen Fällen sind sie sogar soweit gegangen, Verwandte hinzurichten. Zumeist waren diese Sicherheitskräfte und ihre Familien schließlich gezwungen, in sicherere, von der Regierung kontrollierte Gebiete umzusiedeln, obwohl die Taliban ihre Ziele teilweise auch dort heimsuchen. Andere, die es sich leisten können, scheiden aus und im Laufe der Jahre sind hunderte hingerichtet worden. Selbst diejenigen, die umsiedeln, laufen Gefahr, auf dem Weg an den Straßensperren der Taliban festgehalten zu werden."
Bestätigt wird diese Einschätzung im Wesentlichen auch von den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, (S. 47), die folgendes Risikoprofil definiert:
"k) Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen
Regierungsfeindliche Kräfte haben Berichten zufolge Familienangehörige von Personen mit den oben angeführten Profilen als Vergeltungsmaßnahme und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angegriffen. Insbesondere wurden Verwandte, darunter Frauen und Kinder, von Regierungsmitarbeitern und Mitgliedern der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführungen, Gewalt und Tötungen."
Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH ist den UNHCR-Richtlinien besondere Beachtung zu schenken ("Indizwirkung"; vgl. VwGH vom 22.11.2016, Ra 2016/20/0259 mit Hinweis auf das Erkenntnis vom 10.12.2014, Ra 2014/18/0103 bis 0106, mwN). Hierzu ist auch anzumerken, dass in diesem Punkt eine maßgebliche Änderung der Situation den neuen UNHCR ELIGIBILITY GUIDELINES FOR ASSESSING THE
INTERNATIONAL PROTECTION NEEDS OF ASYLUM-SEEKERS FROM AFGHANISTAN
vom 30.08.2018 nicht entnommen werden können.
Zur Erläuterung der belangten Behörde, die Forderung der Taliban sei durch die Flucht des Vaters in den Iran und die damit einhergehende Aufgabe seiner Tätigkeit für die Regierung erfüllt und jede weitere Bedrohung des Beschwerdeführers damit obsolet und unplausibel, ist auszuführen, dass diese beweiswürdigenden Ausführungen der belangten Behörde mit den Länderinformationen nicht in Einklang zu bringen sind. Aus diesen ergibt sich insbesondere, dass die Taliban einzelne Regierungskollaborateure nicht nur verfolgen, um sie von ihrer Tätigkeit für die Regierung abzuhalten, sondern dass diese Verfolgung insbesondere Teil einer Einschüchterungskampagne ist, um die Bevölkerung im Allgemeinen von der Kollaboration mit der Regierung abzuhalten. Auch ergibt sich aus den herangezogenen Länderberichten, dass Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges zu den Zielpersonen gehören. Den Länderberichten ist weiter zu entnehmen, dass die Aufgabe seiner Tätigkeit durch den Vater des Beschwerdeführers durch seine Flucht ihn nicht aus der Schusslinie der Taliban geholt hat: um Reue und den Wille zur Wiedergutmachung zu zeigen reicht eine schlichte Aufgabe der Tätigkeit den Länderfeststellungen zufolge nicht aus, die davon sprechen, dass eine betroffene Person der Verfolgung entgehen kann, wenn sie eine Abgabe bezahlt, Informationen liefert und Kollegen für die Taliban ausspioniert oder zu den Taliban überläuft. Daher ergibt sich vor dem Hintergrund der Länderberichte, dass der Vater des Beschwerdeführers noch immer als Feind der Taliban angesehen wird.
Die entsprechenden Passagen im Landinfo Report Afghanistan:
Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne von 23. August 2017 von Dr. Antonio Giustozzi unter Punkt 4. Identifizierung von Zielpersonen zur Einschüchterung und Tötung lauten:
"Insbesondere die Einschüchterung und Identifizierung von Zielpersonen durch die Taliban hängt stark von den Resultaten ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit ab. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Einschüchterung und Verfolgung nur eine von vielen Aufgaben der Nachrichtendienste sind. Die Taliban-Interviewpartner beschrieben die Aufgaben der Nachrichtendienste wie folgt: Tätigkeit für alle Bereiche der Taliban-Bewegung, Grundlagen für künftige Operationen legen und Gefahren seitens des Feindes abwehren, u.a. durch die Entlarvung feindlicher Informanten. Sie untersuchen auch verdächtige Kollaborateure der Regierung und wählen die Zielpersonen aus der schwarzen Liste aus, die auf die Abschussliste gesetzt werden sollen (dies ist eine Teilmenge der schwarzen Liste, mit denjenigen, die zur Tötung frei gegeben wurden). Eine Ausnahme bildet hier der Nachrichtendienst von Quetta, der nicht zu einer Militär-Kommission gehört und soweit berichtet wurde, keine Zielpersonen auswählt. Außerdem sollen die Dienste ein Auge auf Taliban haben, die sich daneben benehmen, wenn es also zu Übergriffen gegen die Bevölkerung und Korruption kommt.
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach 'fehlverhalten':
Politische Feinde: die Anführer und wichtigsten Mitglieder der Parteien und Gruppen, die den Taliban feindlich gesinnt sind; dazu gehören beispielsweise
a. Prof. Rabbani;
b. der starke Mann von Uruzgan, Jan Mohammad:
c. Gen. Daud.
a) Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer 'feindlicher' Regierungen - alle Zivilisten, die für die Regierung oder für westliche diplomatische Vertretungen und andere Einrichtungen arbeiten;
b) Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges;
c) Personen, von denen angenommen wird, dass sie die Taliban für die Regierung ausspionieren oder Informationen über sie liefern;
d) Personen, die gegen die Shari'a (entsprechend der Auslegung der Taliban) und die Regeln der Taliban verstoßen;
e) Kollaborateure der afghanischen Regierung - praktisch jeder, der der Regierung in irgendeiner Weise hilft;
f) Kollaborateure des ausländischen Militärs - praktisch jeder, der den ausländischen Streitkräften in irgendeiner Weise hilft;
g) Auftragnehmer der afghanischen Regierung;
h) Auftragnehmer anderer Länder, die gegen die Taliban sind;
i) Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten;
j) Personen jeder Art, die die Taliban in irgendeiner Weise für nützlich oder notwendig für ihre Kriegsführung erachten, die die Zusammenarbeit verweigern.
Diese Kategorien von Zielpersonen beinhalten eine Reihe von Gruppen, die sich nur schwer genau quantifizieren lassen, aber es dürften mit aller Wahrscheinlichkeit insgesamt mehr als eine Million Menschen sein (die Sicherheitskräfte sind zirka 400.000 bis 450.000 Mann stark, ferner hat die Regierung über 500.000 zivile Mitarbeiter, dazu kommen noch zehntausende von Auftragnehmern).
Anschläge gegen die genannten Personengruppen gibt es seit den Anfängen des Aufstandes (2002). In der Tat war die Ermordung einzelner 'Kollaborateure' 2002-2004, als ihr militärisches Potenzial noch schwach war, die wesentliche Aktivität der Taliban. 2005-2007 begannen die Taliban großangelegte militärische Operationen und die gezielten Morde verloren etwas an Bedeutung. Ab 2007 mussten die Taliban vermehrt Einschüchterungstaktiken anwenden, als sie dem vermehrten militärischen Druck durch die ausländischen Streitkräfte (ISAF) ausgesetzt waren. Eine asymmetrische Taktik sollte die Konsolidierung der Kabuler Regierung verzögern bzw. verhindern.
Mit dem Abzug eines Großteils der ausländischen Streitkräfte im Laufe des Jahres 2014 verschoben sich die Prioritäten für die Taliban wiederum. 2014, als die ausländischen Kräfte kaum noch an den Kampfhandlungen teilnahmen, zeigten die Unterlagen der UNAMA über die zivilen Opfer von gezielten Ermordungen durch die Taliban einen leichten Rückgang um 3,6%, dies war der erste Rückgang seit Beginn der Erhebungen durch die UNAMA 2008. 2015 schnellte die Zahl dann wieder um 10,4% nach oben, 2016 fiel sie stärker als jemals zuvor, um 27,3% (Tabelle 1 unten). Da die Taliban nach übereinstimmenden Berichten zu diesem Zeitpunkt ihre Operationen ausweiteten und weite Gebiete unter ihre Kontrolle brachten, ist dieser Rückgang sicherlich nicht darauf zurückzuführen, dass sie dazu weniger in der Lage gewesen wären, sondern vielmehr auf einen anderen Fokus und eine Änderung der Strategie: man war weniger daran interessiert, die afghanische Regierung zu unterminieren, als daran, sie direkt zu stürzen. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass viele der 'Kollaborateure', die sich schutzlos fühlten, aus diesen gefährdeten Gebieten flohen und die Taliban somit keine leichten Ziele mehr hatten.
Außer den Personen in den oben genannten Kategorien a), d), e) und
k) bieten die Taliban allen Personen, die sich 'fehlverhalten' die Chance, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Personen in den Kategorien a), d), e) und k) haben allein schon durch die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie, Verbrechen begangen, im Gegensatz zu einer Tätigkeit als Auftragnehmer. Dies sehen die Taliban nur dann als Verbrechen an, wenn der Auftragnehmer die Warnungen der Taliban in den Wind schlägt. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperation an die Taliban zu binden. Die Personen der Kategorien b), c), f), g), h), i) und j) können einer 'Verurteilung' durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlichen 'feindseligen' Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen.
b) Regierungsmitarbeiter und Mitarbeiter westlicher Regierungen: Sie können einer Warnung oder Verurteilung vor Erhalt des letzten Drohbriefes entgehen, wenn sie Abgaben zahlen, Informationen liefern und ihre Kollegen für die Taliban ausspionieren, um deren Aktionen gegen die eigenen Arbeitgeber zu unterstützen oder zur Verbesserung der Organisation der Taliban beizutragen. Bekannte Einzelfälle sind:
I. Personal im Bildungswesen: können arbeiten, wenn ihre Bildungsbehörde oder Schule eine Vereinbarung mit den Taliban schließt, die Lehrpläne und Schulbücher ändert, für religiöse Fächer von den Taliban empfohlene Lehrer einstellt und den Taliban die Überwachung der Schule gestattet.
II. Personal im Gesundheitswesen: darf arbeiten, wenn es sich bereit erklärt, verletzte Taliban-Mitglieder zu behandeln.
c)
Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges: wie
b)
oben, sie haben aber auch die Option, zu den Taliban überzulaufen und Absichtserklärungen mit den Taliban zu unterzeichnen (als gesamte Einheit), in denen eine im gemeinsamen Interesse liegende Gegenleistung angeboten wird.
f) Kollaborateure der afghanischen Regierung: wie b) oben
g) Kollaborateure des ausländischen Militärs und im militärischen Zusammenhang stehende Unterstützungsleistungen, einschließlich der Mitarbeiter in den Unterkünften: wie b) oben
h) Auftragnehmer der afghanischen Regierung: wie b) oben
i)
Auftragnehmer, die für talibanfeindliche Länder tätig sind: wie
b)
oben
j) Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten: wie b) oben
Die Taliban nennen als ihre wichtigsten Zielpersonen die Offiziere der nationalen Sicherheitsdienste (NDS), Dolmetscher bzw. alle, die für das/mit dem ausländischen Militär und Diplomaten arbeiten. So behaupten die Taliban beispielsweise, dass sie 2015 15 Dolmetscher in Kabul und den umliegenden Vororten getötet hätten und im Jahr 2016 bis Anfang Dezember 23; es bleibt unklar, ob die Taliban ihre Opfer auch zu Recht als Dolmetscher identifiziert haben. Die Taliban bauschen ihre Erfolge sicherlich auf, indem sie unzutreffende Opferzahlen angeben (insbesondere, wenn Bomben eingesetzt werden). Die meisten Angriffe fanden in den Vororten statt (2016 waren es 17). Die Taliban nehmen natürlich auch Ausländer ins Visier, insbesondere, wenn sie irgendwie an der Bekämpfung des Aufstandes beteiligt sind. [...]
Im Grunde genommen steht jeder auf der schwarzen Liste, der (aus Sicht der Taliban) ein 'Übeltäter' ist und dessen Identität und Anschrift die Taliban ausfindig machen können. Diese Details sind wesentlich, denn nach den Regeln der Taliban, muss ein Kollaborateur gewarnt werden und Gelegenheit erhalten, auf den richtigen Weg zurückzukehren, bevor er auf die schwarze Liste gesetzt wird. Damit die Einschüchterungstaktiken der Taliban funktionieren, hängen sie also davon ab, dass ihre Informanten Angaben zu den potenziellen Zielpersonen liefern. Die Taliban behaupten jedoch, dass sie, dank ihrer Spione bei der Grenzpolizei am Flughafen Kabul und auch an vielen anderen Stellen, überwachen können, wer in das Land einreist. Sie geben an, dass sie regelmäßig Berichte darüber erhalten, wer neu ins Land einreist."
Die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr an seinen Herkunftsort eine Verfolgung bis hin zur Tötung durch die Taliban droht, ergibt sich daraus, dass der Vater des Beschwerdeführers noch als Feind der Taliban gilt und die oben bereits zitierten Länderberichte von Bestrafungen von Familienangehörigen durch die Taliban berichten und davon, dass diese selbst zu Zielpersonen werden können. Auch hat die eigene Flucht des Beschwerdeführers im Gefolge seines Vaters die Taliban kaum davon überzeugen können, dass der Beschwerdeführer selbst die Meinung seines Vaters nicht teilt und den Taliban wohlgesonnen ist. Dies findet auch Bestätigung im EASO Country of Origin Information Report. Afghanistan. Individuals targeted by armed actors in the conflict von Dezember 2017 (siehe insbesondere S. 59 f.).
Zur Aktualität der Bedrohung ist auch auf die Ausführungen im Landinfo Report Afghanistan: Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne von 23. August 2017 von Dr. Antonio Giustozzi unter Punkt 5. Die Regeln der Taliban zu verweisen, wo auch die Konsequenz und Zielstrebigkeit, mit der die Taliban ihre Feinde als solche betrachten und Verfolgen, aufgezeigt wird. Im Wortlaut:
"Zumindest teilweise hat das Justizsystem der Taliban den Zweck, deutlich zu machen, dass ihre Bewegung einen Schattenstaat darstellt. Es liegt den Taliban daher viel daran, die Kontinuität zwischen der aktuellen Bewegung von Aufständischen und dem Taliban-Emirat von 1996-2001 zu betonen; tatsächlich bezeichnen sich die Taliban selbst immer noch als das Islamische Emirat Afghanistan. Daher gelten alle Urteil, die die Taliban für jegliches Verbrechen einmal gesprochen haben, immer noch weiter, einschließlich derer, die vor dem Fall des Emirates ergingen. Tatsächlich befinden sich, laut den Taliban-Quellen, auf der 15.000 Personen umfassenden schwarzen Liste, immer noch 3.000, die zu Zeiten des Emirats verurteilt wurden (die Gerichtsunterlagen wurden nach Pakistan geschafft, als das Emirat fiel). Es ist naheliegend, dass diejenigen, die den Urteilen der Taliban damals entgingen, sich im Ausland aufhielten, daher wurden recht viele dieser Personen (ca. 200) von den Taliban erst 2002-2016 gefasst.
Die Taliban beobachten alle Fremden, die in den Dörfern und Kleinstädten unter ihrer Kontrolle ankommen genau, genauso wie die Dorfbewohner, die in Gebiete unter Regierungskontrolle reisen. Sie fürchten offensichtlich, ausspioniert zu werden und versuchen, die Rekrutierung von Informanten durch die Regierung zu beschränken. Wer in die Taliban-Gebiete ein- oder ausreist sollte die Reise überzeugend begründen können, möglichst belegt mit Nachweisen über Geschäftsabschlüsse, medizinische Behandlung etc. Wenn die Taliban einen Schuldigen suchen, der für die Regierung spioniert haben soll, ist jeder, der verdächtigt wird, sich an die Behörden gewandt zu haben, in großer Gefahr."
Zur Aktualität der Bedrohung ist auch auf Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt. ZAR 2017, 189 von Juli 2017 zu verweisen, die zur Verfolgung von Gegnern insbesondere durch die Taliban ausführt (S. 195 ff.):
"3.3. Verfolgung von Gegnern
Die Strategie der gezielten Verfolgung deklarierter Feinde und das tödliche Risiko, das damit einhergeht, ist zumindest bezüglich der Taliban weitgehend anerkannt. In der Entscheidungspraxis des BAMF ist jedoch erkennbar, dass es in der Bewertung, wer von wem mit welchen Konsequenzen von Aufständischen zum Feind deklariert wird, große Unterschiede gibt.
Aussagen der jeweiligen Parteiführungen militanter Organisationen bieten hierfür keine hinreichende Orientierung, weil sie keine Garantien für das Verhalten der Kommandanten vor Ort bieten. Im Gegensatz zu manch anderen Aufständischen, wie dem IS oder LeJ, vertritt die Talibanführung zurzeit die offizielle Haltung, dass Schiiten nicht kollektiv verfolgt werden sollten, und es gibt sogar Taliban, die verkünden, dass NGOs nicht angegriffen werden sollten. Die Ermordung von Mitarbeitern des IKRK69 ist nur ein Beispiel unter vielen, dass derartige Forderungen keine Garantie bieten, dass Kommandanten vor Ort deshalb ihre jahrelange Praxis ändern. Ob die Talibanführung für derartige Taten im Nachhinein Verantwortung übernimmt oder der Täter zum ‚abtrünnigen Talib' ernannt wird, weil er zum IS übergelaufen ist, ist diplomatisch interessant, macht für die Ermordeten oder die Bedrohung ihrer Familien oder Kollegen jedoch keinen Unterschied.
Dass hierbei auch alte politische Konfliktlinien wichtige Indikatoren für drohende Verfolgung darstellen, zeigt sich darin, dass bekanntermaßen selbst nach Jahrzehnten noch an ehemaligen Mujaheddin oder Kommunisten Rache geübt wird. In privaten Auseinandersetzungen stellt zeitlich unbefristete Vergeltung auch an Angehörigen des Täters eine sozial anerkannte Maßnahme der Konfliktaustragung dar. Dass derartige Vergeltung jedoch auch die organisierte, institutionelle Verfolgung prägt, illustriert sowohl die Dauer dieser Kriege, als auch die langfristige zukünftige Bedrohung derer, die sich auf der ‚falschen Seite' wiederfinden.
Sich nicht auf einer gegnerischen Seite wiederzufinden und damit die Bedrohung durch Verfolgung zu vermeiden, ist im Alltag jedoch kaum möglich, da als Feinde kategorisch auch all jene verstanden werden, die nicht zur Kooperation bereit sind. Den Betroffenen lässt das zwei Möglichkeiten: zu Kollaborateuren bzw. Kombattanten zu werden oder zu Feinden - in beiden Fällen verlieren sie jedoch aus Sicht der konkurrierenden Kriegsparteien den Status als ‚Zivilist'. Soweit entspricht dies der klassischen Logik eines Bürgerkriegs, die der Bevölkerung ganz grundsätzlich keine Neutralität zugesteht und damit keine andere Wahl lässt, als sich zu einer Seite zu bekennen.
Die Praxis dieser Bedrohung durch die Taliban bedient sich jedoch nicht nur der klassischen Mittel des Bürger- oder Guerillakrieges, in der gezielt hochrangige Gegner ausgeschaltet werden, sondern auch denjenigen der Diktatur. So wird landesweit bis ins Detail überwacht und überprüft, wer nützlich sein könnte, wer sich oppositionell positioniert, kritisch äußert oder verdächtige Freunde hat. Die darauf folgende Aufforderung zum Beweis der Loyalität und Kooperation kommt häufig in Form eines Drohbriefes, manchmal wird sie aber auch am Telefon, per SMS, persönlich oder im Zuge einer Entführung gestellt. Genutzt werden auch Mittel der Erpressung, wie die Folter oder Verschleppung von Verwandten und Bekannten. Die Wahl, vor die die Betroffenen damit gestellt werden, ist somit, sich an Straftaten oder Kriegshandlungen zu beteiligen oder ganz generell die Taliban zu unterstützen, oder das eigene Leben und das von Angehörigen und Freunden zu riskieren. In beiden Fällen ist sie lebensgefährlich.
Diese Gefahr beschränkt sich nicht auf bestimmte Zielgruppen, sondern betrifft prinzipiell landesweit jeden. Ein Bauer kann genauso ins Visier der Taliban geraten wie ein Arzt oder Polizeikommandant. Rückkehrer aus Europa sind jedoch in besonderem Maße betroffen, da sie dem generellen Verdacht ausgesetzt sind, ihr Land und ihre religiöse Plicht verraten und sich dem Machtanspruch der Taliban entzogen zu haben, oder Spione westlicher Staaten oder sogar selbst Ausländer zu sein.
Die Entscheidung des einfachen Bauern, die Rekrutierung des Sohnes oder die geforderte Verheiratung seiner Tochter zu verweigern, zieht jedoch nicht nur lokal von Seiten der Taliban in der Regel die Ankündigung der Ermordung als deklarierter Feind nach sich. Auch der Versuch, sich dieser tödlichen Gefahr durch Flucht in einen anderen Landesteil zu entziehen, bringt kein Ende der Verfolgung. Die Möglichkeit zu einer landesweiten Verfolgung ist auch privaten Gewaltakteuren jederzeit möglich. Zusammenfassend beruht diese auf alltäglicher sozialer Kontrolle, mit der die Identität und biographischen Angaben eines Neuankömmlings durch bestehende soziale Netzwerke überprüft werden. Durch diese Überprüfung erhält der Herkunftsort und somit der Verfolger Auskunft über den derzeitigen Aufenthaltsort des Geflüchteten. Das landesweite Spitzelnetzwerk der Taliban würde Inlandsverfolgung auch ohne diese traditionelle Überwachung möglich machen, doch ist ein Flüchtling durch diese soziale Kontrolle in der zusätzlichen Gefahr, an dem Zielort seiner Flucht an die Taliban oder andere Verfolger verraten zu werden. Die generelle Bedrohung der Zivilbevölkerung, zwischen den Fronten militanter Kriegsparteien zu stehen, setzt sich somit landesweit in der persönlich adressierten Verfolgung aufgrund der Kollaboration mit einer der Parteien fort.
Da der Kontakt zu Journalisten, Vertretern der UN oder der Polizei schon ohne Vorgeschichte einer Verfolgung in den Augen der Taliban verdächtig ist, kann es zu dieser Art Gewalt und durch Verfolgung Ermordete keine verlässlichen Statistiken geben. Die vielen Taliban-Spitzel unter den Sicherheitskräften erhöhen jedoch das Risiko der Verfolgung, wenn der Versuch unternommen wird, die Gewalt anzuzeigen. Für die Betroffenen ist in der Beurteilung dieser Gefahr jedoch nicht die absolute Zahl der Toten relevant, sondern das Wissen um die Konsequenz der Überwachung und Verfolgung und somit der Potenz dieser diktatorischen Methoden der Kriegsführung.
Der Erfahrungswert, dass man sich den Taliban nicht widersetzen und entziehen kann - egal in welcher Rolle oder Funktion ohne sein eigenes Leben oder das seiner Angehörigen zu gefährden, hat sich längst als überlebenswichtiges Alltagswissen durchgesetzt. So Dr. Mostafa Danesch: "In Kabul kommt es häufig zu Fällen, in denen junge Männer getötet werden und Gerüchte wollen wissen, dass es sich um Racheakte der Taliban handle. Die Kabuler Kriminalpolizei bestätigt, dass in Kabul sehr häufig junge Männer ‚verschwinden'. Auf ihre Vermisstenanzeigen erhalten die Angehörigen bei der Polizei oft die Auskunft, dann seien sie vermutlich von den Taliban entführt worden. Häufig werden Leichen von Verschwundenen in der Umgebung von Kabul gefunden."
Zum Schutz des eigenen Lebens oder der eigenen Kinder zu kooperieren, ist verständlich, und je weniger Betroffene die Chance haben, sich durch Flucht in andere Länder aus dieser Zwangslage zu befreien, desto nachvollziehbarer und wahrscheinlicher wird die Entscheidung, sich dem Zwang zur Kollaboration zu beugen. Je länger zudem diese Macht der Taliban andauert, desto enger und auswegloser wird auch das Netz der lebensbedrohlichen Überwachung und Verfolgung. Zu wissen, dass die Gefahr der Bespitzelung und Verfolgung selbst aus dem Kreis der Familie oder von Freunden zu erwarten ist, begründet nicht nur eine subjektive Angst vor Verfolgung. Es beschreibt auch die Totalität dieser Gefahr."
Eine Verfolgung des Beschwerdeführers durch die Taliban kann daher nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, sondern droht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit.
Die Feststellungen zur fehlenden Schutzfähigkeit der afghanischen Behörden ergibt sich aus den herangezogenen Länderinformationen, die davon sprechen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte im Allgemeinen unwirksam bei der Abschreckung von Straftaten und bei der Reaktion auf Notrufe und Alarme sind. Im EASO Country of Origin Information Report. Afghanistan. Security Situation. von Dezember 2017 in deutscher Übersetzung von Kristina Pröstler und Jonas Erkan wird dazu im Wortlaut ausgeführt (S. 21 f.):
"1.7 Die Fähigkeit des Staates zur Durchsetzung von Recht und Ordnung
Kriminalität, Entführungen und Raubüberfälle nehmen Berichten zufolge zu, insbesondere in allen größeren Städten. Angesichts der Zunahme von Entführungen und Erpressungen in Kabul äußerte AAN, dass dieses Phänomen "unterbewertet" und "unterschätzt" sei, weil es "die Sicherheit der Einwohner Kabuls wahrscheinlich genauso sehr untergrabe wie durch Terrorismus".
Die örtlichen Strafverfolgungsbehörden sind im Allgemeinen unwirksam bei der Abschreckung von Straftaten und bei der Reaktion auf Notrufe und Alarme. Darüber hinaus werden Bestechungszahlungen auf allen Ebenen der lokalen Strafverfolgungsbehörden offen eingefordert. In einigen Fällen führen die Beamten selbst Verbrechen aus, was zu einem Mangel an Vertrauen der Zivilbevölkerung in die lokalen Strafverfolgungsbehörden führt. Selbst dort, wo der Rechtsrahmen den Schutz der Menschenrechte vorsieht, bleibt die Umsetzung und Förderung aus. Die afghanische Regierungsführung und deren Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit werden als besonders schwach empfunden. Ländliche und instabile Gebiete leiden Berichten zufolge unter einem allgemein schwachen formellen Justizsystem, das nicht in der Lage ist, zivil- und strafrechtliche Streitigkeiten wirksam und zuverlässig zu verfolgen. Gesetzeshüter sind dabei selbst oft Opfer von Angriffen. Basierend auf einer Haushalts- und Expertenbefragung zur Messung der Rechtsstaatlichkeit in Alltagssituationen in Kabul, Kandahar und Herat, belegt Afghanistan Rang 111 auf einer Liste von 113 Ländern. (Hinweis: Näheres hierzu auf S. 48f.) [...]"
Diese Einschätzung wird auch vom bereits oben zitierten Artikel von Friederike Stahlmann von Juli 2017 (Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt. ZAR 2017, 189) bestätigt (siehe insbesondere 4. Erfahrungen mit staatlichem "Schutz", S. 196 ff.).
Die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative nicht zur Verfügung steht, ergibt sich daraus, dass die Taliban in ganz Afghanistan über nachrichtendienstliche Präsenzen verfügen (Vgl. dazu Karte 1 unter
2.2. des Landinfo Report Afghanistan: Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne von 23. August 2017 von Dr. Antonio Giustozzi,) die unter anderem mit der gezielten Tötung und Informationssammlung von als feindlich betrachteten Personen betraut ist. Weiter fußt die Feststellung zum Fehlen einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative auf den bereits oben wiedergegebenen Ausführungen ((Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt. ZAR 2017, 189). Folglich wäre der Beschwerdeführer auch in Kabul oder einer anderen afghanischen Stadt noch einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt.
Auch belegen die herangezogenen Länderinformationen, dass die Taliban nach wie vor über starke Präsenzen in Afghanistan verfügen und gezielte Tötungen an Zivilisten durchführen. Dazu führt der EASO Country of Origin Information Report. Afghanistan. Security Situation. von Dezember 2017 in deutscher Übersetzung von Kristina Pröstler und Jonas Erkan wird dazu im Wortlaut aus (S. 15 ff.):
"1.5.2 Anti-Government Elements (AGEs)
[...] Taliban
Die Taliban werden immer noch als die bislang stärkste Kraft unter den Aufständischen angesehen.
Anführer der Talibanbewegung ist momentan Haibatullah Akhunzada mit Serajuddin Haqqani und Mullah Mohammad Yaqoob als Vertretern. Die Gruppe bezeichnet sich als Islamic Emirate of Afghanistan. Die Dissidentengruppe um Mullah Mohammad Rasoul bezeichnet sich hingegen als High Council of the Islamic Emirate.
Innerhalb der Taliban kann zwischen Vollzeitkämpfern und Teilzeitkämpfern aus den lokalen Gemeinden unterschieden werden. Erstere machen circa 60.000 der circa 150.000 Kämpfer (200.000 Taliban insgesamt) aus. Seit 2015 kommt noch die Spezialeinheit der Taliban, Red Units oder Red Brigades hinzu, die besser ausgebildet und ausgestattet ist. Deren Größe wird auf 7.500 geschätzt.
Die große Mehrheit der Taliban sind noch immer Paschtunen, wobei durch die Rekrutierung der lokalen Bevölkerung Nicht-Paschtunen (beispielsweise im Norden) hinzukommen.
Im Rahmen der 2017 Offensive Operation Mansouri kam es zu Attacken in Badakshan, Kunduz, Farah, Ghor, Faryab, Kandahar, Paktiya, Baghlan, Helmand und Uruzgan. Aufgrund der veränderten Situation, kam es zu weniger Bodenkämpfen. Stattdessen ging der Trend zu gezielten Tötungen von u.a. religiösen Führern und Zivilisten, denen unterstellt wird die Regierung zu unterstützen (Hinweis: vgl. S. 34).
Das Einflussgebiet der Taliban (Taliban's governance system) hat sich gemeinsam mit den militärischen Kräften in den letzten Jahren auf immer mehr dicht besiedelte Gebiete ausgeweitet. Es wird davon ausgegangen, dass im August 2017 über 20 Distriktzentren von der Taliban verwaltet werden. [...]
1.6.4 Gezielte Tötungen und konfliktbedingte Verschleppungen
Zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2017 dokumentierte die UNAMA 542 zivile Opfer (320 Tote und 222 Verletzte) in 284 Fällen von gezielten Tötungen durch AGEs. Im Oktober 2017 wurden beunruhigende Tendenzen von gezielten Tötungen gegen religiöse Führer, Zivilisten, die die Regierung oder afghanische nationale Sicherheitskräfte unterstützen sollen, sowie fortgesetzte Angriffe gegen zivile Regierungsangestellte und Justiz- und Strafverfolgungsbehörden beobachtet.
Zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2017 dokumentierte UNAMA 131 Fälle von Entführungen durch AGEs, die zu 42 zivilen Opfern (34 Tote und acht Verletzte bei insgesamt 467 entführten Zivilisten) führten. Im selben Zeitraum 2016 verzeichnete UNAMA 198 Vorfälle von Entführungen, die zu 86 zivilen Opfern (46 Tote und 40 Verletzte bei insgesamt 1.141 entführten Zivilisten) führten. [...]"
Die Feststellung, dass keine Gründe hervorgekommen sind, nach denen der Beschwerdeführer von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen wäre, ergibt sich aus dem Akt.