TE Bvwg Erkenntnis 2018/10/23 G301 2178027-1

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Veröffentlicht am 23.10.2018
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Entscheidungsdatum

23.10.2018

Norm

AsylG 2005 §55 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

G301 2178027-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Dr. René BRUCKNER über die Beschwerde der XXXX (vormals: XXXX), geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit: Serbien, gesetzlich vertreten durch Rechtsanwältin MMag. Katrin MARINGER als einstweilige Sachwalterin, diese wiederum vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.10.2017, Zl. XXXX, betreffend Antrag vom 08.03.2017 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK nach § 55 AsylG 2005, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.02.2018 und 26.09.2018 zu Recht:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG

festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

Der beschwerdeführenden Partei wird gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), Regionaldirektion Wien, zugestellt am 31.10.2017, wurde der Antrag der Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF) vom 08.03.2017 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 abgewiesen und gegen die BF gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß 46 FPG nach Serbien zulässig ist (Spruchpunkt II.) sowie gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt III.).

Mit dem am 24.11.2017 beim BFA, RD Wien, eingebrachten und mit 23.11.2017 datierten Schriftsatz erhob die BF durch ihren ausgewiesenen Rechtsvertreter Beschwerde gegen den oben genannten Bescheid. Darin wurde nach Darlegung der Beschwerdegründe beantragt, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, den angefochtenen Bescheid zu beheben und die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig erklären und der BF einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK zu erteilen, in eventu den angefochtenen Bescheid ("ersatzlos") zu beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.

Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) am 28.11.2017 vom BFA vorgelegt.

Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 14.02.2018 und am 26.09.2018 in der Außenstelle Graz eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die BF jeweils im Beisein eines bevollmächtigten Rechtsvertreters teilnahm. In der Verhandlung am 26.09.2018 wurde die erwachsene Tochter der BF als Zeugin einvernommen. Ein Vertreter der belangten Behörde ist zu beiden Verhandlungen nicht erschienen (Teilnahmeverzicht).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die BF führt die im Spruch angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum) und ist Staatsangehörige der Republik Serbien.

Die BF ist im Besitz eines am 28.12.2015 ausgestellten und bis 28.12.2025 gültigen serbischen Reisepasses lautend auf XXXX. Der vorige am 31.03.2009 ausgestellte und bis 31.03.2019 gültige serbische Reisepass lautete auf "XXXX".

Es konnte nicht zweifelsfrei festgestellt werden, wann die BF zuletzt in das österreichische Bundesgebiet eingereist ist und seit wann sie sich nunmehr in Österreich aufhält.

Der am 28.12.2015 ausgestellte serbische Reisepass der BF weist einen mit 16.01.2016 sowie einen mit 09.12.2016 datierten Einreisestempel jeweils betreffend Einreise in Ungarn über den serbisch-ungarischen Grenzübergang XXXX auf.

Die BF hielt sich bereits im Zeitraum von 2008 bis 2013 mehrmals und auch längere Zeit in Österreich auf.

Die BF weist für die Zeiträume von 14.04.2010 bis 16.05.2013, von 17.06.2013 bis 30.07.2013, von 18.11.2013 bis 21.04.2016 sowie seit 13.09.2016 eine amtliche Hauptwohnsitzmeldung jeweils in Wien auf.

Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 27.04.2018, GZ: XXXX, wurde auf Grund eines psychiatrisch-neurologischen Facharztgutachtens für die BF eine Verfahrenssachwalterin und einstweilige Sachwalterin für dringende Angelegenheiten gemäß §§ 119 und 120 AußStrG (Vertretung vor Gerichten, Behörden und Sozialversicherungen; Verwaltung von Einkünften, Vermögen und Verbindlichkeiten; Vertretung bei Rechtsgeschäften, die über Geschäfte des täglichen Lebens hinausgehen) bestellt.

Dem psychiatrisch-neurologischen Facharztgutachten vom 14.03.2018 zufolge leidet die BF an einer psychiatrischen Erkrankung im Sinne einer wahnhaften Störung. In diesem Gutachten wird weiters festgehalten:

"2. Frau M. benötigt die Hilfestellung eines Sachwalters für die Vertretung vor Ämtern, Behörden, Gerichten, Sozialversicherungsträgern, privaten Vertragspartnern sowie zur Vermögens- und Einkommensverwaltung.

3. Einsichts- und Urteilsvermögen in medizinische Heilbehandlungen ist eingeschränkt.

4. Kritikfähigkeit und Urteilsvermögen bezüglich der Wahl ihres Wohnortes sind ausreichend gegeben.

5. Die Teilnahme an der Verhandlung wäre ihrem Wohle nicht abträglich."

Die BF war auf Grund dieser Erkrankung bislang - mit Ausnahme der Untersuchung im Zuge des oben angeführten medizinischen Sachverständigengutachtens - weder in ärztlicher Behandlung oder Therapie noch nimmt sie diesbezüglich irgendwelche Medikamente ein.

Die BF ist trotz dieser Erkrankung grundsätzlich arbeitsfähig, jedenfalls im Rahmen einer unselbstständigen Beschäftigung.

Die BF war in Österreich bereits von 01.06.2009 bis 27.05.2013 und von 01.10.2012 bis 31.01.2013 als Arbeiterin, von 01.02.2013 bis 28.02.2013 als geringfügig beschäftige Arbeiterin, sowie von 29.09.2014 bis 05.05.2016 wiederum als Arbeiterin unselbstständig beschäftigt.

Die BF lebt gemeinsam mit ihrer erwachsenen Tochter XXXX, geb. XXXX, Staatsangehörigkeit: Serbien, in Wien in einer von der Tochter gemieteten kleinen, etwas über 20 Quadratmeter dimensionierten Einzimmer-Wohnung mit Küche und Bad sowie mit WC am Gang.

Die BF verfügt über Deutschkenntnisse, die zumindest dem A2-Niveau des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen entsprechen. Die BF ist in der Lage, im Alltag eine einfache Konversation in deutscher Sprache zu führen und sich damit zu verständigen. Die BF hat am 04.07.2018 das ÖSD Zertifikat A2 mit gutem Erfolg bestanden. Weiters besucht die BF bei einem Lernzentrum in Wien einen von Ende August bis Ende Dezember 2018 laufenden Basis-Deutschkurs A2+.

Die oben genannte erwachsene Tochter der BF ist auf Grund eines bis 08.06.2019 gültigen Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot-Karte plus" rechtmäßig in Österreich aufhältig. Die Tochter der BF ist derzeit im Ausmaß von 35 Wochenstunden bei einer Reinigungsfirma in Wien als Reinigungskraft angestellt und verdient derzeit durchschnittlich etwa 1.100 Euro netto monatlich. Sie ist geschieden und Mutter einer am 19.10.2010 geborenen Tochter, welche sich jedoch seit 2012 auf Anordnung des damaligen Jugendwohlfahrtsträgers (nun: öffentliche Kinder- und Jugendhilfe) in der Obhut einer Pflegefamilie befindet. Die Tochter der BF hat eigenen Angaben zufolge nur etwa alle drei Monate Kontakt mit ihrer eigenen minderjährigen Tochter, sofern dies von der Pflegefamilie zugelassen wird, und bezahlt etwa 200 Euro monatlich an Unterhalt für ihre in fremder Pflege befindliche Tochter.

Die BF verfügt über keine eigenen Ersparnisse und über kein regelmäßiges Einkommen. Die BF wird derzeit wirtschaftlich und materiell von ihrer Tochter unterstützt. So kommt die Tochter der BF sowohl für die Miete als auch für gemeinsame Lebensmittel auf. Die BF wiederum unterstützt ihre Tochter in der Haushaltsführung. Die BF erhält keine öffentlichen Unterstützungsleistungen. Der Aufenthalt der BF in Österreich führt aktuell zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft.

Die BF ist strafrechtlich unbescholten. Dass die BF in Österreich mittlerweile auch über nennenswerte soziale Bindungen verfügen wurde, konnte nicht festgestellt werden.

In Serbien leben nach wie vor Familienangehörige der BF, wobei die BF zu diesen keinen Kontakt unterhält und von diesen im Fall der Rückkehr nach Serbien auch keine, ihren besonderen Bedürfnissen entsprechende Unterstützung erwarten kann, etwa in Gestalt einer Unterkunft oder sonstigen materiellen Leistungen.

2. Beweiswürdigung:

Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des BVwG.

Die getroffenen Feststellungen beruhen auf den Ergebnissen des vom erkennenden Gericht in der mündlichen Verhandlung und auf Grund der vorliegenden Akten durchgeführten Ermittlungsverfahrens und werden in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung als maßgeblicher Sachverhalt zugrunde gelegt.

Die Feststellung zur Identität und Staatsangehörigkeit der BF ergibt sich aus dem diesbezüglich unzweifelhaften Akteninhalt und dem von der BF in der mündlichen Verhandlung vorgelegten aktuellen serbischen Reisepass, an dessen Echtheit und Richtigkeit keine Zweifel aufgekommen sind.

Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen und Lebensumständen der BF in Österreich und in Serbien, insbesondere zur Wohn- und Haushaltsgemeinschaft mit ihrer volljährigen Tochter, beruhen einerseits auf den glaubhaften Angaben der BF in der mündlichen Verhandlung, sowie andererseits auf den damit überstimmenden und glaubhaften Angaben der als Zeugin einvernommenen erwachsenen Tochter der BF. Die Zeugin hat in der mündlichen Verhandlung durchwegs einen persönlich glaubwürdigen Eindruck hinterlassen und es sind auch keinerlei Umstände hervorgekommen, allenfalls an der Richtigkeit ihrer Angaben zu zweifeln.

Die Feststellung zur grundsätzlichen Arbeitsfähigkeit und den bereits vorliegenden Erwerbszeiten als unselbstständig Beschäftigte in Österreich ergibt sich aus einer Sozialversicherungsdaten-Abfrage und dem Umstand, dass auch im medizinischen Sachverständigengutachten zwar eine Vertretung vor Sozialversicherungsbehörden und eine Hilfestellung im Bereich der Vermögens- und Einkommensverwaltung als notwendig erachtet, nicht jedoch eine Arbeitsfähigkeit der BF ausgeschlossen wurde.

Die Feststellung zur erfolgreichen Belegung eines A2-Deutschkurses sowie zum derzeitigen Besuch eines weiteren Deutschkurses beruht überdies auf den diesbezüglich in der Verhandlung vorgelegten und unbedenklichen Unterlagen. Die Feststellung zu den Deutschkenntnissen der BF und zur Möglichkeit einer einfachen und verständlichen Konversation in deutscher Sprache beruht überdies auf der eigenen Wahrnehmung des erkennenden Gerichts in der mündlichen Verhandlung.

Die Feststellung zur Bestellung einer einstweiligen Sachwalterin für die BF beruht auf dem im Akt einliegenden Beschluss des Bezirksgerichts Hernals.

Die Feststellung zur dargelegten psychischen Erkrankung der BF beruht auf dem vorgelegten psychiatrisch-neurologischen Facharztgutachten vom 14.03.2018, an dem keine Bedenken hinsichtlich seiner Richtigkeit hervorgekommen sind.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Stattgebung der Beschwerde (Spruchpunkt A.):

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.

Gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen, wenn nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vorliegt.

Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist (§ 9 Abs. 1 BFA-VG). Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (§ 9 Abs. 2 BFA-VG).

Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme aus dem Blickwinkel des § 9 BFA-VG iVm. Art. 8 EMRK zulässig ist, ist eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit dem Interesse des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich vorzunehmen.

Die Anwendung dieser Rechtslage auf den gegenständlichen Sachverhalt ergibt Folgendes:

Die BF lebt in Österreich in einer Wohn- und Haushaltsgemeinschaft mit ihrer erwachsenen Tochter, welche sich sowohl wirtschaftlich als auch materiell um die psychisch kranke BF kümmert.

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 Abs. 1 EMRK umfasst nicht nur die Kernfamilie von Eltern und minderjährigen Kindern bzw. von verheirateten Ehegatten, sondern auch andere nahe verwandtschaftliche Beziehungen. Ob außerhalb des Bereiches des insbesondere zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso jure zu bejahenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK ein Familienleben vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des EGMR jeweils von den konkreten Umständen ab, wobei für die Prüfung einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung gegebenenfalls auch die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung sind. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (siehe explizit VwGH 21.04.2011, Zl. 2011/01/0093, und 19.02.2014, Zl. 2013/22/0037; sowie VfGH 09.06.2006, B 1277/04, mit dortigem Verweis auf das Urteil des EGMR vom 10.07.2003, Nr. 53441/99, im Fall Benhebba, wo es in Rz 36 heißt: "[...] la Cour rappelle à cet égard que les rapports entre adultes ne bénéficieront pas nécessairement de la protection de l'article 8 de la Convention sans que soit démontrée l'existence d'éléments supplémentaires de dépendance, autres que les liens affectifs normaux").

Als besondere Umstände im Sinne der Rechtsprechung des EGMR, die zu berücksichtigen sind, zählen etwa ein gemeinsamer Haushalt, ein Pflege- oder Betreuungsverhältnis sowie eine finanzielle oder psychische Abhängigkeit (VwGH 21.04.2011, Zl. 2011/01/0093).

In dem von der Rechtsvertreterin in der mündlichen Verhandlung am 26.09.2018 zitierten Erkenntnis des VfGH vom 11.06.2014, B 623-624/2013, führte dieser mit Verweis auf das Urteil des EGMR vom 24.04.1996 im Fall Boughanemi, Nr. 22070/93 (siehe Rz 33 und 35), aus, dass ein von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt entsteht. Diese besondere geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden. Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und volljährigen Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK, solange nicht jede Bindung gelöst ist. Für das Bestehen eines Familienlebens zwischen Eltern und Kindern kommt es nicht darauf an, dass ein "qualifiziertes und hinreichend stark ausgeprägtes Nahverhältnis" besteht, sondern darauf, ob jede Verbindung gelöst wurde (siehe gleichlautend schon vorher VfGH 12.03.2014, U 1904/2013). Weiters wird im Erkenntnis des VfGH vom 11.06.2014 unter Rz 19 ausgeführt, dass im Zuge der Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK gegebenenfalls auch eine Auseinandersetzung mit der Frage stattzufinden hat, inwieweit psychische Beeinträchtigungen der beschwerdeführenden Partei - wörtlich zitiert - "zu einer höheren Schutzwürdigkeit ihres im Bundesgebiet entfalteten Familienlebens" führen.

In einer Gesamtbetrachtung der angeführten Rechtsprechung ist somit zunächst das Bestehen bzw. die Auflösung eines Familienlebens zwischen Eltern und volljährigen Kindern zu prüfen (vgl. EGMR im Fall Boughanemi) und, wenn das Bestehen eines Familienlebens und ein Eingriff in Gestalt einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bejaht wird, nach Durchführung einer Interessensabwägung die besondere "Schutzwürdigkeit" eines solchen Familienlebens im Hinblick auf den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK zu beurteilen, und zwar im Hinblick darauf, ob zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. EGMR im Fall Benhebba). Insoweit ist die vom VfGH mit Berufung auf das ältere Urteil des EGMR vom 24.04.1996 im Fall Boughanemi angenommene Rechtsprechung im Lichte des zeitlich jüngeren Urteils des EGMR im Fall Benhebba vom 10.07.2003 zu sehen, dem sich sowohl der VwGH (siehe die oben angeführten Entscheidungen vom 21.04.2011 und 19.02.2014) als auch schon früher der VfGH (z.B. Erkenntnis vom 09.06.2006, B 1277/04) inhaltlich angeschlossen haben.

Im vorliegenden Fall ist auf Grund der festgestellten Umstände das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens zwischen der BF und ihrer erwachsenen und in Österreich rechtmäßig aufhältigen Tochter unzweifelhaft anzunehmen. So leben die beiden nicht nur seit längerer Zeit im gemeinsamen Haushalt in Wien, sondern die als Reinigungskraft beschäftigte Tochter kümmert sich auch in wirtschaftlicher und materieller Hinsicht um sie, wenngleich für rechtliche, finanzielle und vermögensrechtliche Angelegenheiten eine Rechtsanwältin, nicht jedoch die Tochter der BF, als einstweilige Sachwalterin gerichtlich bestellt wurde. Überdies konnte im Hinblick auf die Art der psychischen Erkrankung der BF und die im psychiatrisch-neurologischen Facharztgutachten getroffenen Schlussfolgerungen auch davon ausgegangen werden, dass die BF bei der Bewältigung des täglichen Lebens jedenfalls auf Unterstützung durch ihre erwachsene Tochter angewiesen ist. So wurde im Gutachten dazu auch ausdrücklich festgehalten, dass das Einsichts- und Urteilsvermögen der BF in medizinische Heilbehandlungen eingeschränkt ist.

Dass auch eine enge emotionale Bindung zwischen der BF und ihrer erwachsenen Tochter besteht, erscheint auf Grund des vom erkennenden Gericht in der mündlichen Verhandlung eindeutig gewonnenen Eindrucks und der persönlichen Glaubwürdigkeit sowohl der BF als auch ihrer als Zeugin einvernommenen Tochter ebenso unzweifelhaft. Auch konnten sowohl die BF als auch ihre Tochter gegenüber dem erkennenden Gericht glaubhaft darlegen, dass die BF im Fall der Rückkehr nach Serbien von den dort lebenden Familienangehörigen keine hinreichende Unterstützung, auf die sie jedoch jedenfalls angewiesen wäre, zu erwarten hätte. Vielmehr hat die erwachsene Tochter der BF auch glaubhaft dargelegt, dass sie derzeit offenbar die einzige Familienangehörige der BF ist, die gewillt und - trotz eigener persönlicher Schwierigkeiten - auch fähig ist, eine den besonderen Bedürfnissen der BF möglichst gerecht werdende Unterstützung sicherzustellen, weil die BF allein jedenfalls nicht ohne Gefahr eines Nachteils in der Lage ist, für sich selbst alleine zu sorgen.

Das tatsächliche Abhängigkeitsverhältnis der BF von ihrer erwachsenen Tochter, die engen persönlichen und familiären Bindungen zwischen den beiden sowie die Notwendigkeit einer unmittelbaren örtlichen Nahebeziehung zur geeigneten Unterstützung der BF stellen somit ein schützenswertes Familienleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK dar.

In einer Gesamtabwägung aller maßgeblichen Umstände musste daher davon ausgegangen werden, dass durch die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels an die BF und die angeordnete Rückkehrentscheidung ein unverhältnismäßiger Eingriff in das mit ihrer erwachsenen Tochter bestehende Familienleben erfolgen würde, weshalb dem Verbleib der BF in Österreich auch unmittelbare Bedeutung für die Wahrung ihres Rechts auf Familienleben zukommt.

Neben dem Bestehen eines aufrechten Familienlebens waren aber auch die privaten Bindungen der BF in Österreich zu würdigen: So hat die BF nicht nur den weit überwiegenden Teil der letzten fünf Jahre in Österreich verbracht, sondern sie hat es in dieser Zeit auch geschafft, sich Deutschkenntnisse zumindest auf dem A2-Niveau anzueignen, indem sie von Anfang an aus eigenem versucht hat und auch weiterhin versucht, die deutsche Sprache durch den Besuch mehrerer Sprachkurse zu erlernen, was ihr in einem Ausmaß gelungen ist, dass für sie eine Basis-Kommunikation in deutscher Sprache jedenfalls zur Bewältigung des Alltages in Österreich durchaus möglich ist. Überdies war zu berücksichtigen, dass die BF derzeit zwar nicht berufstätig ist, aber in der Vergangenheit bereits mehrmals und auch längere Zeit in Österreich beschäftigt war. Der bisherige Aufenthalt der BF stellte - jedenfalls aus derzeitiger Sicht und unter den aktuell vorliegenden Umständen - auch keine finanzielle Belastung einer Gebietskörperschaft dar, wenngleich die erwachsene Tochter derzeit nur mit ihrem vergleichsweise niedrigen Einkommen und der kleinen Wohnung den Lebensunterhalt sowohl für sich selbst als auch für die BF sichern muss. Trotz ihrer psychischen Erkrankung kann aber davon ausgegangen werden, dass die BF nicht völlig arbeitsunfähig ist und daher zumindest auch eine (einfache) unselbstständige Erwerbstätigkeit ausüben könnte, die es ihr allenfalls auch ermöglicht, ein zur Sicherung ihres eigenen Lebensunterhaltes ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften oder zu diesem - neben der Unterstützung durch ihre Tochter - wesentlich finanziell beizutragen.

Aus all den dargelegten Umständen ergibt sich unzweifelhaft, dass die BF zahlreiche der oben angeführten Kriterien, die bei der Abwägung der betroffenen Interessen maßgeblich zu berücksichtigen sind, erfüllt und diese besonders intensiven familiären und privaten Interessen auch die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts in Österreich überwiegen. So hat die BF auch selbst gezeigt, dass sie stets aus eigener Initiative um eine möglichst umfassende und letztlich auf Dauer angelegte persönliche und familiäre Integration in Österreich bemüht war.

Es wird nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften im Rahmen einer Güterabwägung grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt, doch ist im gegenständlichen Fall aus den eben dargelegten Gründen in einer Gesamtschau und Abwägung aller Umstände das Interesse an der - nicht nur vorübergehenden - Fortführung des Privat- und Familienlebens der BF in Österreich dennoch höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.

Des Weiteren ist festzuhalten, dass das BFA als belangte Behörde auf die Teilnahme an den zwei durchgeführten mündlichen Verhandlungen verzichtet und auch sonst im gegenständlichen Beschwerdeverfahren keine Umstände vorgebracht hat, die allenfalls eine andere rechtliche Beurteilung des vorliegenden Sachverhaltes zum Entscheidungszeitpunkt bedeutet hätten.

Abschließend ist festzuhalten, dass die BF strafgerichtlich unbescholten ist, weshalb im Fall des Verbleibens im Bundesgebiet auch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu erkennen ist.

Da im Hinblick auf die oben dargelegten Abwägungen zum Entscheidungszeitpunkt das Interesse der beschwerdeführenden Partei an der Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens in Österreich im konkreten Fall die in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten öffentlichen Interessen überwiegt und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen nicht nur vorübergehenden Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben darstellen würde, war der Beschwerde stattzugeben und gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

Was die Erteilung des konkreten Aufenthaltstitels an die beschwerdeführende Partei anbelangt ist festzuhalten, dass auch das BVwG - in jeder Verfahrenskonstellation - über einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 absprechen darf. Die Frage der Erteilung des Aufenthaltstitels ist vom Prüfungsgegenstand einer angefochtenen Rückkehrentscheidung mitumfasst, weshalb in einem zu entscheiden ist (siehe ErläutRV 582 BlgNR 25. GP).

Die BF hat weder einen Nachweis über die Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG) erbracht, noch übt sie zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit aus, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze gemäß § 5 Abs. 2 ASVG erreicht wird.

Da die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung plus" somit nicht vorliegen, war der BF gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.

Die Ausstellung des Aufenthaltstitels auf Grund dieser Entscheidung ist gemäß § 58 Abs. 7 AsylG 2005 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) unter persönlicher Mitwirkung der beschwerdeführenden Partei vorzunehmen und der Aufenthaltstitel sodann an die beschwerdeführende Partei auszufolgen.

3.2. Unzulässigkeit der Revision (Spruchpunkt B.):

Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen.

Schlagworte

Abhängigkeitsverhältnis, Aufenthaltsberechtigung, Deutschkenntnisse,
psychiatrische Erkrankung, Rückkehrentscheidung auf Dauer
unzulässig, Sachwalter

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:G301.2178027.1.00

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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