TE OGH 2017/7/25 Bsw2156/10

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Veröffentlicht am 25.07.2017
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache M. gg. die Niederlande, Urteil vom 25.7.2017, Bsw. 2156/10.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK - Einschränkung der Verteidigungsrechte eines Geheimdienstmitarbeiters durch Verschwiegenheitspflicht.

Zulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. b EMRK betreffend die Redigierung bestimmter Dokumente und das angebliche Zurückhalten anderer (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK im Hinblick auf die Einschränkung der Kommunikation zwischen dem Bf. und seinem Anwalt (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK im Hinblick auf Bedingungen, unter denen bestimmte Gehemindienst-Mitglieder als Zeugen vernommen wurden, und im Hinblick auf die Weigerung, andere Mitglieder als Entlastungszeugen zuzulassen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung ist für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden. € 732,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. war als Tontechniker und Übersetzer für den Allgemeinen Geheim- und Sicherheitsdienst (Algemene Inlichtingen- en Veiligheidsdienst – AIVD) tätig und hatte dabei Zugang zu als geheim klassifizierten Informationen. Aufgrund des Verdachts, er habe Kopien geheimer Dokumente an unbefugte Personen weitergegeben, wurde er im September 2004 in Untersuchungshaft genommen und angeklagt. Der AIVD wies den Bf. darauf hin, dass er weiterhin zur Geheimhaltung verpflichtet sei und es eine weitere Straftat wäre, davon erfasste Angelegenheiten mit seinem Anwalt zu besprechen.

Im Zuge des Verfahrens wurde die Geheimhaltungspflicht durch den Leiter des AIVD insofern gelockert, als der Bf. geheime Angelegenheiten mit seinen beiden Verteidigern besprechen durfte. Dies allerdings nur, soweit es für seine Verteidigung unbedingt notwendig war, die betroffenen Informationen bereits im Akt enthalten waren und er nicht die Identität von Geheimdienstmitgliedern enthüllte. Das BG (rechtbank) Rotterdam verweigerte eine uneingeschränkte Befreiung von der Verschwiegenheitspflicht. In der Verhandlung vor dem BG wurde die Vorladung einiger der von der Verteidigung beantragten Entlastungszeugen abgelehnt. Die als Belastungszeugen einvernommenen Mitglieder des AIVD wurden zum Schutz ihrer Identität verkleidet und unter Verwendung eines Geräts zur Stimmenverzerrung befragt. Die Verteidigung beantragte erfolglos die Vorlage der angeblich vom Bf. weitergegebenen Dokumente in unzensierter Form um zu belegen, dass sie keine echten Staatsgeheimnisse enthielten. Das BG verurteilte den Bf. am 14.12.2005 zu vier Jahren und sechs Monaten Haft.

In der Verhandlung vor dem vom Bf. angerufenen Berufungsgericht Den Haag erhob der Verteidiger Einspruch unter anderem gegen die Einschränkung der Kommunikation zwischen ihm und dem Bf., die Anhörung anonymer Zeugen und die Verweigerung der Herausgabe von Beweisen durch den AIVD. In einem Zwischenurteil wies das Gericht den Einspruch zurück. Dabei nahm es eine Zusicherung der Generalstaatsanwaltschaft zur Kenntnis, den Bf. nicht strafrechtlich zu verfolgen, sofern ein Verstoß gegen die Geheimhaltungspflicht durch die von Art. 6 EMRK garantierten Verteidigungsrechte gerechtfertigt sei. Im Zuge der Verhandlung gestattete der Richter dem Generalstaatsanwalt, sich zur Annehmbarkeit jeder einzelnen Frage des Verteidigers an den Bf. zu äußern. Der Generalstaatsanwalt drohte in weiterer Folge eine strafrechtliche Verfolgung für den Fall einer Beantwortung von Fragen des Verteidigers an den Bf. an, die sich auf die Identität von Mitgliedern oder Quellen des AIVD und auf dessen Arbeitsmethoden bezogen oder die geschwärzten Stellen in den vorliegenden Dokumenten des Geheimdiensts betrafen. Das Berufungsgericht verurteilte den Bf. zu vier Jahren Haft.

Die Kassationsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof wurde am 7.7.2009 abgewiesen. Allerdings wurde die Strafe wegen der überlangen Dauer des Verfahrens um zwei Monate verkürzt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren und Verteidigungsrechte).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

(51) Der Bf. rügte, das Strafverfahren gegen ihn wäre unfair gewesen, weil der AIVD [...] den Zugang zu den Beweisen [...] eingeschränkt und ihre Verwendung kontrolliert und ihn daran gehindert habe, seine Verteidiger effektiv anzuleiten. [...]

(53) Die Rügen des Bf. betreffen die Redigierung bestimmter Dokumente und das angebliche Zurückhalten anderer; die Einschränkungen seines Rechts, den Verteidiger zu informieren und anzuleiten; die Weigerung, ihm zu erlauben, die Namen von Mitgliedern des AIVD gegenüber dem Berufungsgericht zu nennen; die Bedingungen, unter denen bestimmte Mitglieder des AIVD als Zeugen einvernommen wurden, und die Weigerung, bestimmte Mitglieder des AIVD als Zeugen der Verteidigung vorzuladen.

Zulässigkeit

(54) Der GH stellt fest, dass diese Beschwerdepunkte weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig sind. Sie sind daher für zulässig zu erklären (mehrheitlich).

In der Sache

Allgemeines

(55) Wie der GH bereits viele Male festgestellt hat, sind die Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 EMRK als besondere Aspekte des von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren zu sehen.

(56) [...] Die primäre Aufgabe des GH unter Art. 6 Abs. 1 EMRK ist es, die Gesamtfairness des Strafverfahrens zu beurteilen.

Zum Redigieren bestimmter Dokumente und zum angeblichen Zurückhalten anderer

(57) Der GH wird diese Angelegenheiten unter Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. b EMRK prüfen.

(62) Der Bf. rügte, dass bestimmte Dokumente, auf die sich die Staatsanwaltschaft [...] stützte, der Verteidigung entweder gar nicht oder nur in redigierter Form, mit vom AIVD vorgenommenen Schwärzungen, zur Verfügung gestellt worden seien.

(67) [...] Der Bf. bemühte sich um die Herausgabe eines Berichts der internen Untersuchung des AIVD und der redigierten Teile der AIVD-Dokumente im Akt.

(68) Zur internen Untersuchung des AIVD stellt der GH fest, dass das Berufungsgericht die tatsächliche Existenz eines Berichts nicht als erwiesen ansah. Jedenfalls ist der GH überzeugt, dass sich ein solches Dokument weder in den Händen der Staatsanwaltschaft noch des Berufungsgerichts befand [...]. Soweit der Bf. andeuten will, dass der Ermittlungsakt Informationen liefern könnte, die ihn entlasten hätten können, weist der GH eine solche Andeutung als rein hypothetisch zurück.

(69) Was die dem Berufungsgericht und dem Bf. in redigierter Form zugänglich gemachten Dokumente betrifft, weist der GH darauf hin, dass die geschwärzten Informationen als solche der Verteidigung nicht helfen konnten. Da der Bf. angeklagt wurde, Staatsgeheimnisse an unbefugte Personen weitergegeben zu haben, war die einzige sich auf diese Dokumente beziehende Frage, ob sie dem Staatsgeheimnis unterlagen.

(70) Die Beweise, aufgrund derer der Bf. verurteilt wurde, umfassten Stellungnahmen des AIVD, die bestätigten, dass die fraglichen Dokumente klassifizierte Staatsgeheimnisse waren, und erklärten, warum es notwendig war, die darin enthaltenen Informationen geheim zu halten. [...] In diesem Licht betrachtet ist der GH überzeugt, dass die verbleibenden lesbaren Informationen für die Verteidigung und das Berufungsgericht ausreichend waren, um eine verlässliche Einschätzung des Charakters der in den Dokumenten enthaltenen Informationen vorzunehmen.

(71) Folglich hat betreffend die Redigierung bestimmter Dokumente und das angebliche Zurückhalten anderer keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. b EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zu den Einschränkungen des Rechts des Bf., seinen Verteidiger zu informieren und anzuleiten, und zur Weigerung, ihm zu erlauben, gegenüber dem Gericht die Namen von AIVD-Mitgliedern zu nennen

(72) Der GH wird beide Angelegenheiten unter Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK prüfen.

(91) Der GH [...] nimmt die Haltung der Regierung zur Kenntnis, wonach die Bedingungen für die Kommunikation zwischen dem Bf. und seinem Verteidiger angesichts der Verschwiegenheitspflicht des Bf. ein Zugeständnis an die Verteidigung waren. Er ist allerdings der gegenteiligen Ansicht, nämlich dass sie eine Einschränkung des Rechts eines Beschuldigten darstellten, ungehindert mit seinem Verteidiger zu kommunizieren.

(92) [...] Dem Bf. wurde nicht der Zugang zu den Beweisen der Anklage verweigert: er wurde angewiesen, Tatsacheninformationen, die zu seiner Verteidigung verwendet werden konnten, nicht an seinen Anwalt weiterzugeben. [...] Es gab keinen wie auch immer gearteten Eingriff in die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen dem Bf. und seinem Anwalt. [...] Überdies fand keine unabhängige Überwachung der zwischen dem Bf. und seinem Anwalt ausgetauschten Informationen statt. Vielmehr drohte dem Bf. eine nachträgliche Strafverfolgung, wenn er seinem Anwalt geheime Informationen weitergab. [...]

(93) [...] Die Kommunikation zwischen dem Bf. und seinem Verteidiger war hinsichtlich ihres Inhalts nicht frei und unbeschränkt, wie dies die Erfordernisse eines fairen Verfahrens normalerweise verlangen.

(94) Der GH akzeptiert, dass Geheimhaltungsregeln generell gelten. Es ist grundsätzlich nicht ersichtlich, warum sie nicht auf Mitarbeiter des Geheimdienstes anwendbar sein sollten, die wegen einer mit ihrer Anstellung im Zusammenhang stehenden Straftat verfolgt werden. Dem GH stellt sich die Frage, wie ein Verbot der Enthüllung geheimer Informationen die Verteidigungsrechte des Beschuldigten [...] beeinträchtigt.

(95) [...] Der Generalstaatsanwalt gab eine Zusicherung, den Bf. nicht wegen Verletzung seiner Geheimhaltungspflicht zu verfolgen, wenn eine solche Verletzung durch die von Art. 6 EMRK garantierten Verteidigungsrechte gerechtfertigt war. Da dem Generalstaatsanwalt das volle Ermessen in dieser Frage verblieb, wurde dem Bf. dadurch die Bürde auferlegt, ohne Beratung durch seinen Verteidiger zu entscheiden, ob er nicht bereits im Akt enthaltene Fakten enthüllen und damit eine weitere Strafverfolgung riskieren sollte.

(96) Nach Ansicht des GH kann von einem Beschuldigten, der schwerer Straftaten angeklagt ist, nicht erwartet werden, ohne professionelle Beratung die Vorteile einer völligen Offenlegung seines Falls gegenüber seinem Anwalt gegen das Risiko einer deswegen drohenden Strafverfolgung abzuwägen.

(97) Unter diesen Umständen findet der GH, dass die Fairness des Verfahrens durch die Einschränkung der Kommunikation zwischen dem Bf. und seinem Anwalt unwiederbringlich beeinträchtigt wurde. Folglich hat eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK stattgefunden (einstimmig).

(98) Der GH [...] erachtet es nicht als notwendig gesondert zu prüfen, ob die Weigerung, dem Bf. die Nennung der Namen von AIVD-Mitgliedern gegenüber dem Berufungsgericht zu gestatten, ebenfalls gegen die Konvention verstoßen hat (einstimmig).

Zu den Bedingungen, unter denen bestimmte AIVD-Mitglieder als Zeugen vernommen wurden, und zur Weigerung, andere AIVD-Mitglieder als Entlastungszeugen zuzulassen

(99) Der GH wird diese Angelegenheiten unter Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK prüfen.

(110) [...] Die dem GH von der Konvention zugewiesene Aufgabe besteht nicht darin zu entscheiden, ob Zeugenaussagen angemessen als Beweis zugelassen wurden, sondern vielmehr darin sich zu vergewissern, ob das Verfahren insgesamt, einschließlich der Art der Beweisaufnahme, fair war.

(111) [...] Anders als in den Fällen Van Mechelen/NL, Al-Khawaja und Tahery/GB oder Schatschaschwili/D wurde der Verteidigung nicht die Möglichkeit genommen, Zeugen der Anklage zu befragen, um die Glaubwürdigkeit der von diesen früher im Verfahren gemachten Aussagen zu testen. Die Beschwerde bezieht sich vielmehr darauf, dass dem Bf. der Zugang zu Informationen verwehrt wurde, mit denen die AIVD-Mitglieder vertraut waren und die geeignet gewesen wären, Zweifel an seiner Schuld aufzuwerfen.

(112) Es ist an sich eine absolut legitime Verteidigungsstrategie in Strafverfahren, Zweifel an der Täterschaft aufzuwerfen, indem gezeigt wird, dass die Straftat von jemand anderem begangen worden sein könnte. Dies berechtigt den Beschuldigten allerdings nicht dazu, in der Hoffnung, dass sich zufällig eine alternative Erklärung auftun könnte, fadenscheinige Ansuchen um Informationen zu stellen.

(113) Die Beweise, auf die das Berufungsgericht seine Verurteilung stützte – die nicht weniger als 53 verschiedene Punkte umfassten –, schlossen einige Beweise ein, die den Bf. direkt mit den durchgesickerten Dokumenten und den unbefugten Personen, bei denen sie gefunden wurden, in Verbindung brachten. Unter diesen Umständen kann der GH nicht feststellen, dass das Berufungsgericht unsachlich oder willkürlich gehandelt hätte, indem es nicht alle beantragten Zeugen zugelassen und festgestellt hat, dass die Verteidigung des Bf. durch die Bedingungen, unter denen die nicht abgelehnten Zeugen befragt wurden, nicht erheblich beeinträchtigt wurde.

(114) Es hat folglich keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung ist für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden. € 732,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

S./CH v. 28.11.1991 = NL 1992/1, 18 = EuGRZ 1992, 298 = ÖJZ 1992, 343

Van Mechelen u.a./NL v. 23.4.1997 = NL 1997, 91 = ÖJZ 1998, 274

Fitt/GB v. 16.2.2000 (GK)

Öcalan/TR v. 12.5.2005 (GK) = NL 2005, 117 = EuGRZ 2005, 463

A. u.a./GB v. 19.2.2009 (GK) = NL 2009, 46

Al-Khawaja und Tahery/GB v. 15.12.2011 (GK) = NLMR 2011, 375

Schatschaschwili/D v. 15.12.2015 (GK) = NLMR 2015, 503 = EuGRZ 2016, 511

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.7.2017, Bsw. 2156/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 338) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_4/M.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Textnummer

EGM01638

Im RIS seit

07.01.2019

Zuletzt aktualisiert am

07.01.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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