TE Bvwg Erkenntnis 2018/10/24 W164 2175755-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.10.2018
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Entscheidungsdatum

24.10.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W164 2175755-1/9E

W164 2175726-1/8E

W164 2175759-1/8E

W164 2175763-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Rotraut LEITNER als Einzelrichterin über die Beschwerden von (1.) XXXX , geb. XXXX , (2.) XXXX , geb. XXXX (3.) XXXX , geb. XXXX , (4.) XXXX , geb. XXXX , alle STA Afghanistan, alle vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, Wien, gegen die Bescheide vom 05.10.2017, (1.) Zl. 15_1099524610_152013497, (2.) Zl. 15-1099524806_152013527, (3.) Zl. 1099525106-152013543 und (4.) Zl. 1134914306-161539366, des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.08.2018 zu Recht erkannt:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und es wird (1.) XXXX , (2.) XXXX , (3.) XXXX , (4.) XXXX , gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass (1.) XXXX , (2.) XXXX , (3.) XXXX ,

(4.) XXXX , kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer (BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) sind verheiratet und Eltern der minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer (BF3, BF4).

1. Der BF1 und die BF2 stellten am 28.10.2015 nach illegaler Einreise für sich und die minderjährigen BF3 und BF4 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Zuge der Erstbefragung gab der BF1 an, er sei am XXXX in Teheran, Iran, geboren, sei verheiratet, Schiit und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er habe neun Jahre lang die Grundschule besucht und habe zuletzt als LKW-Fahrer gearbeitet. Zu seinem Fluchtgrund gab er an, dass er von der Familie seiner jetzigen Frau abgelehnt worden sei. Die Stiefmutter seiner Frau habe sie nach Afghanistan zurückschicken wollen. Der BF1 habe seine Frau trotzdem geheiratet. Dann hätten sie sich außerhalb von Teheran versteckt und dort gelebt. Der Schwiegervater habe den BF1 und seine Eltern mehrmals mit dem Tod bedroht. Deshalb hätten sie den Iran verlassen. Der BF1 könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, da die Familie seiner Frau sie alle töten würde.

Die BF2 gab im Zuge der Erstbefragung an, sie sei am XXXX in Teheran, Iran, geboren, sei verheiratet, Schiitin und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Sie sei zuletzt Hausfrau gewesen. Zu ihrem Fluchtgrund gab sie an, dass ihre Mutter gestorben sei als sie selbst drei Jahre alt gewesen sei. Die BF2 habe dann eine Weile bei ihrer Tante in Isfahan gelebt, sie sei dort schlecht behandelt worden. Als ihr Vater nochmals heiratete sei sie wieder zu ihrem Vater gekommen. Die Stiefmutter sei aber schlecht zu ihr gewesen und habe sie geschlagen. Eines Tages habe ihr Vater gemeint, dass die BF2 dem Sohn ihres Onkels väterlicherseits versprochen sei und zu ihm nach Afghanistan ziehen solle. Die BF2 habe das nicht wollen. Schon vorher habe sie oft mit ihrer Tante mütterlicherseits gesprochen. Diese habe ihr nun gesagt, dass sie zu ihr kommen und ihren Sohn heiraten solle. Die BF2 sei dann nach Teheran geflüchtet und habe ihren jetzigen Mann geheiratet und in Teheran gelebt. Ihr Vater habe irgendwann herausgefunden, dass die BF2 in Teheran sei, und habe daraufhin ihre Tante bedroht. Er habe behauptet, dass ihre Tante sie entführt hätte und dass die BF2 ohne seine Erlaubnis geheiratet habe. Der Vater habe gedroht, die BF2 und den BF1 zu töten; das wäre in Afghanistan möglich.

2. Am 05.09.2017 fand die niederschriftliche Einvernahme des BF1 und der BF2 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) statt.

Der BF1 bestätigte seine bisherigen Angaben und führte ergänzend aus, er habe bei verschiedenen Firmen als LKW- und Baggerfahrer gearbeitet. Die BF2 und er hätten ihre Ehe ohne Anwesenheit eines Mullahs geschlossen. Ein Freund und dessen Frau seien als Zeugen dabei gewesen. Die BF2 sei seine Cousine und sei einem anderen Mann versprochen worden, der in Afghanistan gelebt habe. Der BF1 habe seine Aufenthaltsbewilligung für den Iran in den letzten Jahren nicht mehr verlängert, da er nicht mehr zur Polizei habe gehen können. Sein Schwiegervater habe ihn wegen der mit der BF2 geschlossenen Ehe angezeigt. Da der BF1 keine Aufenthaltsbewilligung hatte, sei er einmal von der Polizei verhaftet worden und habe zahlen müssen, damit er nicht nach Afghanistan abgeschoben werde. Keines seiner Familienmitglieder lebe noch in Afghanistan oder im Iran. Er habe auch zu niemandem in seiner Heimat Kontakt. Seine Frau sei drei Jahre alt gewesen sei, als ihre Mutter starb. Die Mutter des BF1 habe daraufhin den Kontakt zu seiner Schwiegereltern abgebrochen. Der Schwiegervater habe wollen, dass die BF2 ihren Cousin, namens XXXX , heirate, der in Afghanistan lebe. Die Mutter des BF1 habe ihm geraten, die BF2 mitzunehmen und zu flüchten. Die BF2 habe in Isfahan gewohnt, der BF1 habe sie nach Teheran gebracht. Sie hätten bei einem Freund geheiratet und seien in eine Wohnung in XXXX gezogen. Dort hätten sie etwa vier Jahre lang gewohnt. Sein Schwiegervater habe den BF1 ungefähr zwei Wochen nach der Flucht wegen der Ehe angezeigt. Die BF2 sei von ihrem Vater bereits einem Mann versprochen gewesen. Diese Ehe sei vor dem Mullah bereits geschlossen worden. Es habe aber noch kein Fest stattgefunden. Die BF2 habe den anderen Mann verlassen, da dieser schon einmal verheiratet gewesen sei und er sie nach Afghanistan habe mitnehmen wollen. Zwei Wochen nach ihrer Flucht sei der Schwiegervater mit XXXX und der Polizei zum Haus des Vaters des BF1 im Iran gekommen und hätte mit dem Tod gedroht. Sein Vater habe den BF1 angerufen und ihm geraten unterzutauchen. Zu seiner Situation in Österreich gab der BF1 an, dass er Deutsch lerne und in seiner Freizeit auf sein Kind aufpasse und Sport betreibe.

Die BF2 bestätigte ihre bei der Erstbefragung angegeben Daten und führte ergänzend aus, dass ihr Vater Afghanistan vor 30 oder 40 Jahren wegen dem Bürgerkrieg verlassen habe. Sie würden ursprünglich aus dem Distrikt Wardak stammen. Ihre Mutter sei verstorben und ihr Vater habe wieder geheiratet als sie 15 Jahre alt gewesen sei. Die BF2 habe fünf Jahre lang die Schule in Isfahan besucht und sei dann zu Hause gewesen. Ihr Vater sei Mullah. Früher hätten sie auch eine Tischlerei gehabt. Ihre beiden älteren Brüder würden beim Vater in Isfahan leben. Sie sei nie in Afghanistan gewesen. Sie habe sich spontan entschieden, mit dem BF1 zu fliehen. Zuvor habe sie nur Fotos von ihm gesehen. In Afghanistan habe sie nur zwei Onkel, die aber Teil ihres Problems seien. Ihr Vater habe sie zwangsverheiraten habe wollen, als sie 20 Jahre alt gewesen sei. Der Mann habe XXXX geheißen, sei der Sohn ihres Onkels gewesen und sei schon verheiratet gewesen. Sein Vater habe sie gegen ein Landstück in Afghanistan tauschen wollen. Ihre Onkel, die im Iran leben, seien mit XXXX zu ihrem Vater in den Iran gekommen und hätten um ihre Hand angehalten. Ihr Vater habe gegen ihren Willen zugestimmt. Nach zwei Wochen sei die Ehe geschlossen worden und XXXX habe die BF2 nach Afghanistan mitnehmen wollen. Diese habe daher heimlich ihre Tante angerufen, die in Teheran lebe, und vereinbart, dass die BF2 mit ihrem Cousin, ihrem zukünftigen Mann, fliehen solle. Mit dem BF1 habe die BF2 die Ehe geschlossen und vier Jahre in Teheran gewohnt. XXXX habe sie nur zweimal gesehen und zwar einmal bei der Verlobung und einmal bei der Hochzeit (Anm: vor dem Mullah). Nach der Hochzeit habe ihr Vater XXXX nicht zu ihnen nach Hause gelassen. Zwölf Tage nach ihrer Flucht vor XXXX sei ihr Vater mit XXXX zu ihrem Schwiegervater gekommen, habe nach ihr gefragt und ihrem jetzigen Ehemann gedroht. BF1 und BF2 hätten zu dem Zeitpunkt in einem Mietshaus in einem Dorf in Teheran gelebt. Den Entschluss aus dem Iran zu fliehen hätten sie gefasst, nachdem der BF1 verhaftet worden sei, da er kein Aufenthaltsrecht gehabt habe. Sie hätten ihn freikaufen müssen. Die BF2 habe keinen Kontakt zu ihrem Vater. Zu ihrer Situation in Österreich gab die BF2 an, dass sie einen Deutschkurs besucht habe und bald die A1-Prüfung mache. In ihrer Freizeit gehe sie immer auf Facebook. Es beschäftige, dass immer mehr Leute nach Afghanistan zurückgeschoben würden, weshalb sie psychische Probleme habe. Auf die Frage, ob ihr Mann für sie sorge, meinte sie, dass sie beide gleich seien und eine islamische Ehe führen würden. Hier gebe es Freiheit und man könne machen, was man wolle. Sie stelle sich eine gute Zukunft vor, wenn sie beide als Flüchtlinge anerkannt würden.

3. Mit den Bescheiden des BFA vom 05.10.2017, (1.) Zl. 15_1099524610_152013497, (2.) Zl. 15-1099524806_152013527, (3.) Zl. 1099525106-152013543 und (4.) Zl. 1134914306-161539366, wurden die Anträge der BF1, BF2, BF3 und BF4 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt und es wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Begründend wurde betreffend den BF1 und die BF2 im Wesentlichen ausgeführt, dass die von ihnen vorgebrachten Fluchtgründe aufgrund von ungenauen und widersprüchlichen Angaben insgesamt nicht glaubhaft gewesen seien. Sie würden in Afghanistan weder aufgrund der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt. Zur Situation im Fall ihrer Rückkehr wurde festgehalten, dass Familienangehörige nach wie vor in Afghanistan leben würden und sie Unterstützung durch ein familiäres Netzwerk erhalten könnten. Die BF1 sei erwachsen, gesund, könne lesen und schreiben und habe bereits als Baggerfahrer im Iran gearbeitet. Es sei daher davon auszugehen, dass sich die Familie in Kabul niederlassen und dort ein Leben aufbauen könnte. Während des Verfahrens seien keine Anhaltspunkte zu Tage getreten, die darauf hindeuten würden, dass die Familie bei ihrer Rückkehr in eine ausweglose und die Existenz bedrohende Notlage geraten würde. Zur Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung wurde eine Interessensabwägung vorgenommen, die ergab, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei. In den Bescheiden betreffend die BF3 und BF4 bzw. wurde auf die Begründung der Bescheide des BF1 und der BF2 verwiesen, da keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht worden seien.

4. Mit Verfahrensanordnung vom 05.10.2017 wurde den BF1-4 amtswegig ein Rechtsberater zur Verfügung gestellt.

5. Gegen diese Bescheide erhoben die BF1-BF4 fristgerecht Beschwerde. Darin wird vorgebracht, dass die Behörde ihrer Verpflichtung zur amtswegigen Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts nicht nachgekommen sei und sich nicht individuell mit dem Einzelfall auseinandergesetzt habe. Die BF seien nicht zu ihrer westlichen Orientierung befragt worden. Die Situation in Afghanistan sei aus Basis unvollständiger und teilweise irrelevanter Länderberichte beurteit worden. Aus den UNHCR-Richtlinien, gehe auch hervor, dass der afghanische Staat nicht in der Lage sei, ZivilistInnen vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Es bestehe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative, da regierungsfeindliche Gruppen einen großen geographischen Einflussbereich hätten und in allen Landesteilen Angriffe verüben würden. Das Weglaufen vor einer Zwangsehe werde mit dem Tod bestraft. Auch der Umstand, dass es in Afghanistan kein Meldewesen gebe, könne nicht verhindern, dass die BF gefunden würden, da regierungsfeindliche Gruppen laut den Länderberichten über Kapazitäten verfügen würden, Personen im ganzen Land zu verfolgen. Zudem sei die Sicherheitslage im gesamten afghanischen Staatsgebiet - auch in Kabul - derart prekär, dass das Leben der BF jedenfalls in Gefahr wäre. Die Behörde habe sich nicht mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass die BF3 und der BF4 minderjährig seien. Betreffend die rechtliche Beurteilung wurde ausgeführt, dass den BF aufgrund der Verfolgung durch den Vater bzw. den ersten Ehemann der BF2 asylrelevante Verfolgung durch ihre eigene Familie drohe. Überdies drohe den BF aufgrund ihrer westlichen Gesinnung und Zugehörigkeit zur Minderheit der Hazara landesweite Verfolgung, weshalb ihnen der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen wäre. In eventu sei ihnen aufgrund der prekären Sicherheitslage im gesamten afghanischen Staatsgebiet subsidiärer Schutz zu gewähren. Betreffend den dritten Spruchpunkt wurde angeführt, dass die BF strafgerichtlich unbescholten seien und sich bemühen würden, die deutsche Sprache zu erlernen. Die BF1-4 beantragten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, die angefochtenen Bescheide gänzlich zu beheben und ihnen den Status von Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu die angefochtenen Bescheide aufzuheben und zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückzuverweisen, in eventu festzustellen, dass ihnen der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werde, in eventu auszusprechen, dass die erlassene Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und ihnen einen Aufenthaltstitel zu erteilen.

6. Mit Eingabe vom 19.03.2018 wurde eine Bestätigung über die Teilnahme des BF1 am Vorbereitungslehrgang zur Nachholung des Pflichtschulabschlusses sowie ein ÖSD-Zertifikat A2 vorgelegt.

Am 28.8.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, an der die BF 1-4 in Begleitung ihrer Rechtsvertretung teilnahmen. Die ebenfalls geladene belangte Behörde hat an der Verhandlung nicht teilgenommen. Der BF1 präzisierte seine bisherige Berufstätigkeit mit der exakten Bezeichnung Radladerfahrer und gab zu Protokoll, er habe seine spätere Frau als Kleinkind gesehen. Sie sei damals ein bis zwei Jahre alt gewesen. Nachdem die Mutter der BF2 starb, habe seine Mutter den Kontakt mit ihrer Familie abgebrochen, da der Vater der BF2 ihre Mutter stets geschlagen habe und sie sehr schlecht behandelt habe. Die Mutter des BF1 habe ihrem Schwager immer wieder gesagt, er müsse auf ihre Schwester besser aufpassen und sich um sie kümmern. Das habe dieser aber nicht gemacht. Schlussendlich sei die Mutter der BF2 gestorben. Das habe einen sehr schlechten Eindruck bei der Mutter des BF1 hinterlassen und habe dazu geführt, dass seine Familie, vor allem seine Mutter keinen Kontakt mehr zur Familie der BF2 pflegte. Der BF1 habe die BF2 erst am Tag der Flucht wiedergesehen. Befragt ob er sich die BF2 selbst ausgesucht habe oder ob dies seine Mutter bestimmt habe, gab der BF1 an, die Mutter habe ihn nicht dazu gezwungen, sie habe ihm lediglich gesagt dass die BF2 ein gutes Mädchen sei - sie sei unter den Frauen sehr beliebt gewesen - und dass die BF2 zwangsverheiratet werden solle. Der BF1 solle mit ihr zusammen von dort weggehen. Der BF1 sei damit einverstanden gewesen. Auch der Vater des BF1 sei mit der Entscheidung einverstanden gewesen. Als die BF2 die Mutter des BF1 informiert habe, dass der Cousin aus Afghanistan eingetroffen sei und sie mitnehmen würde, habe die Mutter des BF1 der BF2 mitgeteilt, dass sie von dort flüchten müsse und zu ihr, der Mutter des BF1 kommen müsse. Der BF1 sei von der Arbeit heimgekommen und seine Mutter habe ihm über das Telefonat der BF2 berichtet. Der BF1 sei über Nacht nach Isfahan mit einem Sammel-Taxi gefahren, sei etwa um vier oder fünf in der Früh in der Stadt Isfahan angekommen und habe bis 8:00 Uhr gewartet, bis der Vater gemeinsam mit den Brüdern der BF2 von Zuhause weggegangen war. Nachdem alle weg waren, habe die BF2 ihn angerufen - die Telefonnummer hatte sie von der Mutter des BF1 erhalten. Am Telefon habe die BF2 dem BF1 einen Treffpunkt in der Nähe ihres Hauses, eine Schule, genannt. Der BF1 sei dort hingefahren und habe auf die BF2 gewartet. Die BF2 sei aus dem Haus dort hingekommen und habe sich dem BF1 angeschlossen. Sie seien von dort zu einem Stadtviertel der Stadt Teheran namens XXXX gefahren. Dort habe sich das Haus eines Freundes befunden. Der BF1 habe zuvor alles mit dem Freund koordiniert und ihn informiert, dass sie kommen würden. BF1 und BF2 hätten bei dem Freund übernachtet und auch ihre Ehe geschlossen. Sie seien eine Woche dortgeblieben. Dann habe die Mutter des BF1 ein Haus in der Gegend von XXXX für die beiden gefunden. Dort hätten sie dann vier Jahre lang gelebt. In dieser Zeit habe der BF1 seine aufenthaltsrechtlichen Dokumente nicht verlängert, aus Angst von der Polizei aufgegriffen zu werden. Seine Frau habe keinen Ausweis bei sich gehabt. Der erste Sohn der beiden sei in einem privaten Spital geboren worden. Der BF1 habe seine Geburt nicht bei der Polizei bzw. bei einer Behörde gemeldet. Das sei dort auch nicht unbedingt notwendig. Auch für seine Arbeitsstelle habe er sich nirgends anmelden müssen. Baustellenkontrollen habe es nicht gegeben. BF1 und BF2 hätten in einem sehr abgelegenen Ort der Stadt Teheran gewohnt. Die beiden seien kaum in das Zentrum der Stadt gekommen. Die Familie des Schwiegervaters habe in der Provinz Isfahan, also weit entfernt gelebt. Dennoch habe irgendetwas damals den Verdacht der Familie seines Schwiegervaters erweckt und sie seien zur Familie des BF1 gekommen. Sein Vater habe ihn damals angerufen und ihm gesagt, dass er sehr gut aufpassen müsse. Sein Schwiegervater und der Cousin der BF 2 habe den Vater des BF1 mit dem Tod seines Sohnes (also des BF1) und mit dem Tod der BF2 bedroht. Sie seien der Meinung gewesen, dass die Ehre ihrer Familie verletzt worden wäre. Eines Tages in der Früh habe die Polizei den BF am Weg zur Arbeit aufgegriffen. Es habe damals eine Kampagne gegen illegale Ausländer, vor allen Afghanen im Iran, gegeben. Der BF1 sei in ein Wachzimmer gebracht worden. Von dort habe er seine Familie angerufen. Die Familie des BF1 habe seine Abschiebung vermeiden wollen und habe ihren Nachbarn angerufen. Dieser habe eine einflussreiche Person im Bereich der Schubhaft gekannt. Mithilfe dieses Nachbarn sei der BF1 über Nacht wieder zu seiner Frau gekommen. Die Familie habe dem Nachbarn XXXX iranische Toman bezahlt. Im Fall seiner Rückkehr fürchte der BF1 vor allem die zwei Onkel väterlicherseits, die samt ihren Kindern und Familien in der Großstadt Kabul leben würden. Diese Leute würden den BF1 und seine Frau umbringen. Die Familie sei gut vernetzt. Sie könnten den Aufenthalt des BF1 ausfindig machen. Zu seinem Aufenthalt in Österreich gab der BF1 bekannt, sein älterer Sohn gehe ab September in einen öffentlichen Kindergarten. Er selbst plane, den Führerschein zu machen und mit einer Arbeit zu beginnen. Er habe im Iran als Radlader-Fahrer gearbeitet. Dies möchte er fortsetzen. Der BF1 sei noch nie in Afghanistan gewesen. Sein Vater sei vor etwa 40 Jahren von Afghanistan in den Iran gezogen. Der BF1 befürworte, dass auch seine Frau in Österreich die Möglichkeit hat, ausbilden zu lassen.

Die BF2 machte folgende Angaben: Nach dem Tod ihrer Mutter habe sie bei der Frau ihres Onkels väterlicherseits gelebt. Sie sei damals etwa drei Jahre alt gewesen. Die Tante mütterlicherseits, die Mutter des BF1 habe sie seinerzeit besucht, die BF 2 könne sich aber natürlich nicht daran erinnern. Später habe die BF2 durch die eigene Familie herausgefunden, dass es diese Tante gebe. Der Vater habe ihr das gesagt. Die BF 2 habe aber keinen Kontakt zu dieser Tante gehabt. Die BF2 habe außerdem vier Onkel väterlicherseits gehabt, von denen zwei damals in Afghanistan gelebt hätten und die zwei anderen mit ihren Familien im Iran. Mit dem Vater gemeinsam seien dass fünf Brüder gewesen. Ihre Tante habe sie erstmals als Jugendliche auf einer Hochzeit kennengelernt. Die BF2 sei damals gemeinsam mit der Frau ihres Onkels väterlicherseits zu dieser Hochzeit gegangen. Da sei die Tante auf sie zugekommen, habe sich ihr vorgestellt, habe ihr gesagt dass sie die Tante mütterlicherseits sei . Sie habe der BF2 auch eine Telefonnummer gegeben und gesagt, dass die BF2 sie anrufen könne wenn sie wolle. Durch diesen telefonischen Kontakt habe die BF2 auch erfahren, dass die Tante einen Sohn habe. Gesehen habe sie diesen jedoch erstmals am Tag der Flucht. Die BF2 habe mit der Tante über die geplante Zwangsheirat gesprochen. Die Tante habe ihr dann am Telefon gesagt, sie solle mit dem BF1 flüchten. Befragt, woher die BF2 wusste, dass BF1 eine bessere Wahl wäre, als der Cousin aus Afghanistan, gab die BF2 an, der Cousin aus Afghanistan sei bereits verheiratet gewesen. Seine Frau habe keine Kinder bekommen können. Dieser Cousin habe die BF2 nur "zwecks Kindererzeugung" heiraten wollen. Er habe sie nach Afghanistan mitnehmen wollen, was die BF2 auf keinen Fall wollte. Die BF2 sei im Iran geboren und aufgewachsen und dort sozialisiert gewesen. Für sie sei Afghanistan ein fremdes Land gewesen. Sie sei mit den Umständen dort überhaupt nicht vertraut. Sie habe jedoch gewusst, dass man Frauen in Afghanistan wie Sklavinnen behandelt. Daher habe sie keinesfalls nach Afghanistan gehen wollen. Da der BF1 im Iran geboren und aufgewachsen war, habe die BF2 vorgezogen, ihn zu heiraten, statt nach Afghanistan zu gehen und dort einen bereits verheirateten Cousin zu heiraten. Außerdem sei der BF1 der Sohn ihrer Tante gewesen. Eines Tages habe sie erfahren, dass ihr Cousin, dem sie versprochen war, aus Afghanistan in den Iran gekommen sei. Dann sei dieser eines Abends gemeinsam mit zwei im Iran lebenden Onkeln väterlicherseits aufgetaucht. Sie hätten den Abend bei der Familie der BF2 verbracht und sich mit dem Vater unterhalten. Daraufhin habe der Vater die BF2 über den Entschluss des Onkels väterlicherseits informiert, um ihre Hand anzuhalten. Der Vater habe der BF2 gesagt, dass sie später mit Ihnen gemeinsam man nach Afghanistan gehen müsse, dass er sich schon vor langer Zeit mit seinen Brüdern darüber geeinigt habe und sie diesen Cousin versprochen habe. Der Vater habe ihr auch gesagt, dass ihm ein Grundstück in Aussicht gestellt worden sei, wenn er sie übergeben würde. Da der Vater ein Mullah sei, habe er ein bis zwei Wochen nach diesem Gespräch selbst den Cousin unter Anwesenheit zwei weiterer Onkel mit der BF2 verheiratet und die Ehe nach den islamischen Tradition geschlossen. Es habe sich um eine "Nikaah" gehandelt. Die traditionelle Zeremonie, die Einladung mit Tanzmusik habe noch nicht stattgefunden. Kurz darauf habe die Tante mütterlicherseits die BF2 telefonisch informiert, dass der BF1 sie am nächsten Tag abholen werde. Die Stiefmutter sei in dieser Woche nicht im Haus gewesen. Sie sei zu Besuch bei ihren Söhnen in der Stadt gewesen. Der Vater und die Brüder seien tagsüber zur Arbeit gegangen. Die BF 2 sei ganz allein zu Hause gewesen.

Befragt, wie sie später davon erfahren habe, dass ihr Vater sie suche, gab die BF2 an, die Tante mütterlicherseits habe den BF 1 angerufen und darüber informiert, dass der Vater der BF 2 mit dem genannten Cousin zu ihrer Familie gekommen sei und nach ihnen beiden gefragt hätten. Für den Fall dass sie nach Afghanistan zurück müsse, befürchte die BF2, dass ihr vorheriger Mann ihr schaden würde. Sie habe auch Angst vor ihrem Onkel väterlicherseits. Wenn der Vater herausfinden würde, dass die BF2 wieder in Afghanistan sei, werde er seine Brüder in Afghanistan mit dem Mord an ihr beauftragen oder selber nach Afghanistan kommen. Befragt zu ihren Plänen in Österreich gab die BF2 an, sie interessiere sich für eine Ausbildung. Derzeit wohne sie in einem kleinen Dorf. Dort gebe es keine Deutschkurse. Die BF2 habe jedoch mit den Nachbarn Kontakt. Ihren Kindern sei erlaubt worden, das Spielzeug im Garten der Nachbarn zu benutzen. Die BF2 dürfe auch deren Häuser betreten. In der Familie verwalte die BF2 das Geld von der Sozialhilfe. Der BF1 sei ein guter Mann, aber er kaufe viel Spielzeug für die Kinder, das bald darauf nicht mehr gebraucht werde. Daher habe die BF2 beschlossen, dass Geld zu verwalten. In Afghanistan wäre es für die BF2 nicht möglich, sich ausbilden zu lassen, einen Beruf zu erlernen, aus dem Haus zu gehen und selbstständig Entscheidungen zu treffen. In Österreich entscheide sich die BF2 selbst, wie sie sich kleiden möchte. Sie habe Interesse für den Beruf Friseurin. Im Iran sei sie von ihrem Vater gezwungen worden, den Hijab zu tragen. Der Vater habe sie auch gezwungen, nach der Beendigung der fünften Klasse die Schule abzubrechen. Er habe diese Entscheidung damit gerechtfertigt, dass es für Frauen nicht mehr erforderlich sei, weiter zu lernen und die Kenntnisse zu vertiefen. Die BF2 gehe in Österreich alleine einkaufen, da der Mann meist in seiner Ausbildung (Anm: Vorbereitungslehrgang des Pflichtschulabschlusses in Klagenfurt) sei. Bezüglich einer Betreuung auch des jüngeren Sohnes im Kindergarten habe sie sich schon erkundigt, bisher allerdings noch ohne Erfolg.

Gemäß den vorgelegten Dokumenten besucht der BF 1 aktuell den Vorbereitungslehrgang des Pflichtschulabschlusses in Klagenfurt. Der BFV gabt bekannt, dass eine Einbeziehung der BF2 in die Ausbildungsmöglichkeiten wegen der Kinderbetreuung bisher schwierig gewesen sei. Vorgelegt wurde weiters ein Empfehlungsschreiben. Der BFV verwies weiters auf die Situation in Afghanistan: Frauen und Männer würden verfolgt, vor allem, wenn sie vor Zwangsheiraten fliehen. Laut den UNHCR Linien würde Personen, denen ein unislamisches Verhalten vorgehalten werde, Verfolgung in Afghanistan drohen. Zusätzlich sei die prekäre Sicherheitslage in Afghanistan zu berücksichtigen. Vor allem in den Großstädten Afghanistans, vor allem in Kabul werde die Sicherheitslage immer wieder von öffentlichkeitswirksamen Angriffen der Taliban erschüttert. Insgesamt könne den BF eine innerstaatliche Fluchtalternativen nicht zugemutet werden, dies ergebe sich neben der Sicherheitslage auch aus den persönlichen Umständen der beiden. Beide seien noch nie in Afghanistan aufhältig gewesen, würden die örtlichen Gegebenheiten nicht kennen. Ihre soziale und wirtschaftliche Existenz wäre auf keinen Fall sichergestellt. In dieser Hinsicht sei auch das Wohl der Kinder zu berücksichtigen, da in Afghanistan nach wie vor keine flächendeckende Bildungsmöglichkeit bestehe. Auch der gewaltfreie Umgang mit Kindern in Schulen und in der Öffentlichkeit sei in Afghanistan noch nicht Normalität.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die BF2 führt den Namen XXXX . Sie wurde am XXXX in Teheran, Iran geboren; sie ist afghanische Staatsbürgerin, ist Schiitischen Glaubens und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Die BF2 verlor im Alter von drei Jahren ihre Mutter und lebte fortan zunächst bei einer Tante väterlicherseits und dann wieder bei ihrem Vater, der eine neue Frau geheiratet hatte. Die BF2 besuchte fünf Jahre die Schule. Anlässlich einer Hochzeitsfeierlichkeit stellte sich der BF2 ihre Tante mütterlicherseits, die Schwester ihrer Mutter vor und bot ihr den telefonischen Kontakt an. Als die BF2 von ihrem Vater erfuhr, dass sie einem älteren kinderlos gebliebenen Cousin zur Ehefrau versprochen sei und zu diesem nach Afghanistan zu ziehen habe, rief sie ihre Tante mütterlicherseits an und bat um Hilfe. Die Tante mütterlicherseits der BF2 organisierte daraufhin deren Flucht:

Der BF1, Sohn der Tante mütterlicherseits der BF2, fuhr zum Wohnort der BF2 und vereinbarte einen Treffpunkt. Die BF2 nützte einen günstigen Augenblick um ihr Haus zu verlassen und flüchtete mit dem BF1 zunächst zu einem Freund, wo beide heirateten. Danach lebten die BF2 und der BF1 in einer abgeschiedenen Gegend von Teheran namens XXXX . Der Vater der BF2 und der abgelehnte Ehemann - die Verlobung und die "Nikah", die Heirat vor dem Mullah waren bereits absolviert worden (der Vater der BF2 selbst war der Mullah gewesen) - erschienen bei der Tante mütterlicherseits der BF2, fragten nach dieser und bedrohten sie mit dem Tod, da sie die Ehre ihrer väterlichen Familie verletzt habe. Die BF2 und der BF1 waren seither gewarnt und vermieden den Kontakt mit der Polizei und den Behörden. Sie meldeten fortan weder sich selbst noch ihren XXXX geborenen Sohn bei der Aufenthaltsbehörde. Nachdem der BF1 eines Tages am Weg zur Arbeit von der Polizei im Zuge einer Razzia gegen illegale Ausländer aufgegriffen wurde und nur durch Intervention eines Bekannten der Familie teuer "freigekauft" werden konnte, entschieden sich beide zur Flucht nach Europa. Im Jahr XXXX wurde dort der zweite Sohn geboren. Die BF trachtet, sich in Österreich zu integrieren und plant, sobald beide Kinder im Kindergarten betreut werden können, einen eigenen Beruf anzustreben.

Allgemeine Länderfeststellungen:

Quelle: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, HCR/EG/AFG/16/02 vom 19.04.2016; inhaltlich, soweit hier wesentlich übereinstimmend mit den UNHCR-EligibilityGuidlines for assessing the international protection needs of asylium-seekers from Afghanistan, HCR/EG/AFG/17/02, vom 30.08.2018, die aktuell nur in englischer

Sprache verfügbar sind:

Trotz der ausdrücklichen Verpflichtung der afghanischen Regierung, ihre nationalen und internationalen Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten, ist der durch sie geleistete Schutz der Menschenrechte weiterhin inkonsistent. Große Teile der Bevölkerung - einschließlich Frauen und Kinder - sind Berichten zufolge weiterhin zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch unterschiedliche Akteure ausgesetzt.

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden Berichten zufolge in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betreffenden Gebiete tatsächlich kontrolliert. In von der Regierung kontrollierten Gebieten kommt es Berichten zufolge regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen durch den Staat und seine Vertreter. In Gebieten, die von regierungsnahen bewaffneten Gruppen (teilweise) kontrolliert werden, begehen diese Berichten zufolge straflos Menschenrechtsverletzungen. Ähnlich sind in von regierungsfeindlichen Gruppen kontrollierten Gebieten Menschenrechtsverletzungen, darunter durch die Auferlegung paralleler Justizstrukturen, weit verbreitet. Zusätzlich begehen sowohl staatliche wie auch nicht-staatliche Akteure Berichten zufolge außerhalb der von ihnen jeweils kontrollierten Gebiete Menschenrechtsverletzungen. Aus Berichten geht hervor, dass schwere Menschenrechtsverletzungen insbesondere in umkämpften Gebieten verbreitet sind.

Berichten zufolge begehen regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) extralegale Hinrichtungen, Folter und Misshandlungen. Sie hinderten Zivilisten zudem an der Ausübung ihres Rechte auf Bewegungsfreiheit, auf Freiheit der Meinungsäußerung, auf Zugang zu Bildung und zu wirksamem Rechtsschutz. Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) nutzen die Abwesenheit staatlicher Justizmechanismen oder -dienste aus, um eigene parallele "Justiz"-Strukturen, vor allem, jedoch nicht ausschließlich in Gebieten unter ihrer Kontrolle, durchzusetzen.

Einige moderate Gruppierungen innerhalb der Taliban haben Berichten zufolge ihre Unterstützung der Bildung von Mädchen und Frauen erklärt. Jedoch liegen Berichte darüber vor, dass sowohl Taliban wie auch mit ISIS verbundene Gruppen Schulen und Medresen (Koranschulen) nutzen, um Kinder zu indoktrinieren, für den Einsatz in Kampfhandlungen und für die Unterstützung von Kampfhandlungen zu rekrutieren. Berichten zufolge griffen die Taliban in Lehrpläne ein oder unternahmen Versuche, Lehrpläne in Hinblick auf die Einhaltung von durch die Taliban genehmigte Kriterien zu überprüfen. Vorfälle von konfliktbezogener Gewalt, die sich direkt auf den Zugang zu Bildung auswirken, finden Berichten zufolge weiterhin in allen Regionen des Landes statt. Die berichteten Vorfälle, darunter das Abbrennen von Schulen, gezielte Tötungen und Einschüchterung von Lehrern und Mitarbeitern, in oder in der Nähe von Schulen gelegte Sprengsätze, Raketenangriffe auf Bildungseinrichtungen und Schließung von Schulen, insbesondere von Schulen für Mädchen, werden überwiegend regierungsfeindlichen bewaffneten Kräften, einschließlich den Taliban, zugerechnet. Schulen wurden Berichten zufolge außerdem besetzt und für militärische Zwecke benutzt, wodurch ihr geschützter Status nach dem humanitären Völkerrecht beeinträchtigt und den Kindern der Zugang zu Bildung entzogen wurde. Außerdem bleiben Berichten zufolge viele Schulen in Afghanistan aufgrund der vor Ort herrschenden Sicherheitsbedingungen geschlossen. Gleichermaßen geht aus Berichten hervor, dass regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) den Zugang zur Gesundheitsversorgung beschränken. 2015 dokumentierte UNAMA 63 gegen Krankenhäuser und medizinisches Personal gerichtete Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs), ein Anstieg um 47 Prozent im Vergleich zu 2014. Trotz Zusagen der Taliban, Polio-Impfkampagnen zu unterstützen geht aus Berichten hervor, dass regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) Impfungen verbieten und Personen angreifen, die in diesem Bereich tätig sind. Das Recht auf Religionsfreiheit wird Berichten zufolge ebenfalls von regierungsfeindlichen Kräften angegriffen, einschließlich durch Bedrohungen und Angriffe auf Einzelpersonen und Gemeinschaften, die vermeintlich gegen die Auslegung islamischer Prinzipien, Normen und Werte durch die regierungsfeindlichen Kräfte verstoßen. Sogar dort, wo der rechtliche Rahmen den Schutz der Menschenrechte vorsieht, bleibt die Umsetzung der Verpflichtungen Afghanistans, nach nationalem und internationalem Recht diese Rechte zu fördern und zu schützen, in der Praxis oftmals eine Herausforderung.

Die Regierungsgewalt Afghanistans und die Rechtsstaatlichkeit werden als besonders schwach wahrgenommen, die Zufriedenheit der Öffentlichkeit mit der Regierungsarbeit und das Vertrauen in öffentliche Einrichtungen sanken Berichten zufolge im Jahr 2015 auf drastische Weise. Die Fähigkeit der Regierung, die Menschenrechte zu schützen, wird in vielen Distrikten durch Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) untergraben. Ländliche und instabile Gebiete leiden Berichten zufolge unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden. Von der Regierung ernannte Richter und Staatsanwälte sind Berichten zufolge oftmals aufgrund der Unsicherheit nicht in der Lage, in diesen Gemeinden zu bleiben. Beobachter berichten von einem hohen Maß an Korruption, von Herausforderungen für effektive Regierungsgewalt und einem Klima der Straflosigkeit als Faktoren, die die Rechtsstaatlichkeit schwächen und die Fähigkeit des Staates untergraben, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten. Berichten zufolge werden in Fällen von Menschenrechtsverletzungen die Täter selten zur Rechenschaft gezogen und für die Verbesserung der Übergangsjustiz besteht wenig oder keine politische Unterstützung. Wie oben angemerkt, begehen einige staatliche Akteure, die mit dem Schutz der Menschenrechte beauftragt sind, einschließlich der afghanischen nationalen Polizei und der afghanischen lokalen Polizei, Berichten zufolge in einigen Teilen des Landes selbst Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.

Berichten zufolge betrifft Korruption viele Teile des Staatsapparats auf nationaler, Provinz- und lokaler Ebene. Es wird berichtet, dass bis zu zwei Drittel der afghanischen Bürger, die Kontakt zu Staatsbediensteten auf Provinz- und Distriktebene hatten, Schmiergelder zahlen mussten, um öffentliche Dienstleistungen zu erhalten. Innerhalb der Polizei sind Berichten zufolge Korruption, Machtmissbrauch und Erpressung ortstypisch. Das Justizsystem ist Berichten zufolge auf ähnliche Weise von weitreichender Korruption betroffen. In einigen Gebieten bevorzugen Berichten zufolge lokale Gemeinschaften parallele Justizstrukturen, etwa Gerichte der Taliban, um zivile Streitfälle auszutragen. Opfer von Menschenrechtsverletzungen, die durch diese parallelen Justizstrukturen begangen wurden, haben Berichten zufolge keinen Zugang zu staatlichen Rechtsschutzmechanismen.

Personen, die aus Afghanistan fliehen, können einem Verfolgungsrisiko aus Gründen ausgesetzt sein, die mit dem fortwährenden Konflikt in Afghanistan oder mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die nicht in direkter Verbindung zum Konflikt stehen, zusammenhängen, oder aufgrund der Kombination beider Gründe.

Eine besonders sorgfältige Prüfung der möglichen Risken ist insbesondere unter anderem notwendig bei Personen mit den folgenden Profilen:

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Personen, von denen vermutet wird, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) verstoßen;

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Frauen mit spezifischen Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben;

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Frauen und Männer, die vermeintlich gegen soziale Sitten verstoßen;

Die Taliban haben Berichten zufolge Personen und Gemeinschaften getötet, angegriffen und bedroht, die in der Wahrnehmung der Taliban gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch die Taliban verstoßen haben. In Gebieten, in denen die Taliban versuchen, die lokale Bevölkerung von sich zu überzeugen, nehmen sie Berichten zufolge eine mildere Haltung ein. Sobald sich jedoch die betreffenden Gebiete unter ihrer tatsächlichen Kontrolle befinden, setzen die Taliban ihre strenge Auslegung islamischer Prinzipien, Normen und Werte durch. Es liegen Berichte über Taliban vor, die für das "Ministerium der Taliban für die Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters" tätig sind, in den Straßen patrouillieren und Personen festnehmen, weil diese sich den Bart abrasiert haben oder einen Haarschnitt tragen, der ihrer Auffassung nach eitel ist. Frauen ist es Berichten zufolge nur in Begleitung ihres Ehemanns oder männlicher Familienmitglieder gestattet, das Haus zu verlassen und dies ausschließlich zu einigen wenigen genehmigten Zwecken wie beispielsweise einem Arztbesuch. Frauen und Männer, die gegen diese Regeln verstoßen, wurden Berichten zufolge mit öffentlichen Auspeitschungen bestraft.

Die Regierung hat seit 2001 einige wichtige Schritte zur Verbesserung der Situation der Frauen im Land unternommen, darunter die Aufnahme internationaler Standards zum Schutz der Rechte der Frauen in die nationale Gesetzgebung, insbesondere durch Verabschiedung des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (EVAW-Gesetz), den Erlass von Maßnahmen zur Stärkung der politischen Teilhabe von Frauen und die Einrichtung eines Ministeriums für Frauenangelegenheiten. Die Verbesserungen der Situation von Frauen und Mädchen blieben jedoch Berichten zufolge marginal und Afghanistan wird weiterhin als "sehr gefährliches" Land für Frauen und Mädchen betrachtet. Fortschritte, die in der Vergangenheit in Hinblick auf die Menschenrechte von Frauen erzielt wurden, wurden teilweise durch die Verschlechterung der Sicherheitslage in einigen Teilen des Landes zunichte gemacht. Die tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen bleibt endemisch. Berichten zufolge ist Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach wie vor weit verbreitet und nimmt weiter zu. Es wird berichtet, dass derartige Gewaltakte üblicherweise straflos bleiben. Für Frauen ist die vollständige Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Trotz einiger Fortschritte sind Frauen überproportional von Armut, Analphabetismus und schlechter Gesundheitsversorgung betroffen. Beobachter berichten, dass Gesetze zum Schutz von Frauenrechten weiterhin nur langsam umgesetzt werden, dies betrifft insbesondere die Umsetzung des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (EVAW-Gesetz). UNAMA berichtet, dass sowohl die afghanische nationale Polizei (ANP) als auch die Staatsanwaltschaften zahlreiche Fälle, einschließlich schwerwiegender Straftaten, an jirgas und shuras zum Zweck der Beratung oder Entscheidung weiterleiten und dadurch die Umsetzung des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (EVAW-Gesetz) unterminieren und die Praktizierung schädlicher traditioneller Bräuche fördern. Durch Entscheidungen gemäß diesen Mechanismen sind Frauen und Mädchen der Gefahr weiterer Schikanierung und Ausgrenzung ausgesetzt. Die so beschriebenen Menschenrechtsprobleme betreffen Frauen und Mädchen im gesamten Land.

In Gebieten, die tatsächlich von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden, gibt die Situation Anlass zu besonderer Sorge. Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) haben Berichten zufolge in diesen Gebieten die Rechte von Mädchen und Frauen in schwerwiegender Weise beschnitten, darunter ihr Recht auf Bewegungsfreiheit und politische Partizipation. Außerdem besteht in von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrollierten Gebieten eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass Frauen besonderen Schwierigkeiten beim Zugang zur Justiz ausgesetzt sind und ihnen keine wirksamen Rechtsmittel gegen die Verletzung ihrer Rechte zur Verfügung stehen. Die von den regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) in den von ihnen kontrollierten Gebieten betriebene Paralleljustiz verletzt Berichten zufolge tatsächlich regelmäßig die Rechte von Frauen.

Schädliche traditionelle Bräuche sind in Afghanistan weiterhin weit verbreitet und kommen in unterschiedlichem Ausmaß landesweit sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gemeinschaften und in allen ethnischen Gruppen vor. Die schädlichen traditionellen Bräuche, die in diskriminierenden Ansichten zur Rolle und Position der Frauen in der afghanischen Gesellschaft wurzeln, betreffen in unverhältnismäßig hohem Maße Frauen und Mädchen. Zu diesen Bräuchen gehören unterschiedliche Formen der Zwangsheirat, einschließlich Kinderheirat, Hausarrest und Ehrenmorde.

Trotz Bemühungen der Regierung, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, sind Frauen aufgrund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken, durch die sie marginalisiert werden, nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt. Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Außerdem ist ihre Sicherheit gefährdet. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete und für Gebiete, die von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden. Zu diesen Normen gehören Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, wie zum Beispiel die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf. Frauen ohne Unterstützung und Schutz durch Männer wie etwa Witwen sind besonders gefährdet. Angesichts der gesellschaftlichen Normen, die allein lebenden Frauen Beschränkungen auferlegen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit und auf Erwerbsmöglichkeiten, sind sie kaum in der Lage zu überleben.

Inhaftierungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia betreffen Berichten zufolge in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen, einschließlich Inhaftierung aufgrund "moralischer Vergehen" wie beispielsweise dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung, Ablehnung einer Heirat, außereheliche sexuelle Beziehungen (die als Ehebruch angesehen werden) und "Weglaufen von zu Hause" (einschließlich in Situationen von häuslicher Gewalt). Mehr als der Hälfte der in Afghanistan inhaftierten Mädchen und Frauen wurden "moralische Vergehen" zur Last gelegt. Da Anklagen aufgrund von Ehebruch und anderen "moralischen Vergehen" Anlass zu Ehrenmorden geben können, versuchen die Behörden Berichten zufolge in einigen Fällen, die Inhaftierung von Frauen als Schutzmaßnahmen zu rechtfertigen. In Gebieten, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle der Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs) befinden, besteht für Frauen und Männer, die unmoralischer Verhaltensweisen bezichtigt werden, das Risiko, über die parallelen Justizstrukturen dieser regierungsfeindlichen Kräfte (AGEs) zu harten Strafen, einschließlich zu Auspeitschung und zum Tod, verurteilt zu werden.

Aus Berichten geht hervor, dass der Zugang zu Bildung für Kinder mit erheblichen Problemen verbunden ist. Es wurden Bedenken in Hinblick auf die Tatsache geäußert, dass die offiziellen Statistiken der Regierung zu Schulbesuchen eine deutlich höhere Zahl an Kindern ausweisen, die zur Schule gehen, als in der Realität gegeben ist und dass die Angaben zur Qualität der Bildung ebenfalls nicht der Realität entsprechen. Weiterhin liegt die Anzahl der Mädchen, die die Schule besuchen, deutlich unter der hinsichtlich der Jungen. Das hohe Maß an Unsicherheit ist ein großes Hindernis beim Zugang zu Bildung. Die in Berichten dokumentierte Benutzung von Schulen zu militärischen Zwecken durch sowohl regierungsfeindliche als auch regierungsnahe Kräfte stellt ein weiteres Problem dar. Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) führen Berichten zufolge außerdem weiterhin gezielte Angriffe auf Schulen, Lehrer und Schüler aus, insbesondere im Zusammenhang mit Bildung für Mädchen. Die Angriffe werden mehrheitlich den Taliban zugerechnet, jedoch schließen auch mit ISIS verbundene Gruppen gewaltsam Schulen, bedrohen Lehrer und schüchtern sie ein. Im Juli 2015 warfen Angreifer Säure in die Gesichter von drei weiblichen Teenagern, die sich in der Provinz Herat auf dem Weg zur Schule befanden, und sagten dabei, dass dies die Bestrafung für den Schulbesuch sei.

Weitere Hindernisse, die die Bildung - insbesondere von Mädchen - erschweren, sind Armut, frühe und erzwungene Heirat, mangelnde familiäre Unterstützung, Mangel an weiblichen Lehrkräften und weite Entfernungen zur nächsten Schule.

Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. Blutfehden können unter anderem auch durch die Entführung verheirateter Frauen ausgelöst werden und können zu lang anhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Auch Angehörige des "Täters" können zum Ziel der Rache werden. Die Rache kann sich über Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen.

Frage der internen Fluchtalternative:

Eine Bewertung der Möglichkeiten für eine Neuansiedlung setzt eine Bewertung der Relevanz und der Zumutbarkeit der vorgeschlagenen internen Schutzalternative voraus. In Fällen, in denen eine begründete Furcht vor Verfolgung in einem bestimmten Gebiet des Herkunftslandes festgestellt wurde, erfordert die Feststellung, ob die vorgeschlagene interne Schutzalternative eine angemessene Alternative für die betreffende Person darstellt, eine Bewertung, die nicht nur die Umstände berücksichtigt, die Anlass zu der begründeten Furcht gaben und der Grund für die Flucht aus dem Herkunftsgebiet waren. Auch die Frage, ob das vorgeschlagene Gebiet eine langfristig sichere und sinnvolle Alternative für die Zukunft darstellt, sowie die persönlichen Umstände des jeweiligen Antragstellers und die Bedingungen in dem Gebiet der Neuansiedlung müssen berücksichtigt werden. Wenn im Zuge eines Asylverfahrens eine interne Schutzalternative erwogen wird, muss ein bestimmtes Gebiet für die Neuansiedlung vorgeschlagen und dem Antragsteller eine angemessene Möglichkeit gegeben werden, sich zu der angenommenen Relevanz und der Zumutbarkeit der vorgeschlagenen internen Schutzalternative zu äußern.

Bei der Bewertung der Relevanz einer internen Schutzalternative für Antragsteller aus Afghanistan ist die Berücksichtigung folgender Punkte von besonderer Bedeutung: (i) das vorgeschlagene Neuansiedlungsgebiet muss dauerhaft sicher sein und (ii) das Gebiet einer voraussichtlichen internen Schutzalternative muss praktisch, sicher und legal für die Person erreichbar sein. In Hinblick auf den ersten Punkt sollte insbesondere der instabile, wenig vorhersehbare Charakter des bewaffneten Konflikts in Afghanistan sowie die Tatsache berücksichtigt werden, dass sich in Provinzen und Distrikten, die vormals nicht direkt vom Konflikt betroffen waren, die Sicherheitslage verschlechtert hat, und es im Zusammenhang damit zu Binnenvertreibung kommt. Zum zweiten Punkt gehört eine Bewertung der konkreten Aussichten auf einen sicheren Zugang zum vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet unter Berücksichtigung von Risiken im Zusammenhang mit dem im ganzen Land weit verbreiteten Einsatz von improvisierten Sprengkörpern, Landminen und explosiven Kampfmittelrückständen, Angriffen und auf den Straßen ausgetragenen Kämpfen und der von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) aufgezwungenen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Zivilisten.

Angesichts des geografisch großen Wirkungsradius einiger regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs) existiert für Personen, die durch solche Gruppen verfolgt werden, keine sinnvolle interne Schutzalternative. Es sei insbesondere darauf hingewiesen, dass die Taliban, das Haqqani-Netzwerk und die Hezb-i-Islami Hekmatyar, Gruppen, die nach eigenen Angaben mit ISIS verbunden sind, sowie andere bewaffnete Gruppierungen über die operativen Kapazitäten verfügen, Angriffe in allen Teilen des Landes auszuführen, darunter auch in solchen Gebieten, die nicht von diesen regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden, wie anhand des Beispiels der steigenden Anzahl öffentlichkeitswirksamer Anschläge in urbanen Gebieten, die sich unter der Kontrolle regierungsnaher Kräfte befinden, ersichtlich wird.

Die Zumutbarkeit einer internen Schutzalternative muss anhand einer Einzelprüfung untersucht werden. Dabei sollten die persönlichen Umstände des Antragstellers einschließlich der Auswirkungen etwaiger in der Vergangenheit vorgekommener Verfolgung auf den Antragsteller berücksichtigt werden. Weitere zu berücksichtigende Aspekte sind die Sicherheitslage, die Achtung der Menschenrechte und die Möglichkeiten für das wirtschaftliche Überleben unter menschenwürdigen Bedingungen im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet. UNHCR ist der Ansicht, dass eine interne Schutzalternative in vom aktiven Konflikt betroffenen Gebieten nicht existiert. In Hinblick auf andere Gebiete Afghanistans ist eine interne Schutzalternative nur dann verfügbar, wenn der Antragsteller dort in Sicherheit, ohne Gefahr sowie ohne Verletzungsrisiko leben kann. Diese Bedingungen müssen dauerhaft und dürfen weder illusorisch noch unvorhersehbar sein. Die steigende Zahl der vom Konflikt betroffenen Provinzen in Afghanistan sowie die Zunahme von konfliktbezogenen gewaltsamen Bevölkerungsbewegungen, die schnellen Verschiebungen der Fronten und die Unfähigkeit der meisten Konfliktparteien, Gebietsgewinne zu halten, sind ebenfalls Faktoren, die Berücksichtigung finden sollten. Die Informationen nach Abschnitt II.B dieser Richtlinien (Anmerkung: Sicherheitslage in Afghanistan) und II.C (Anmerkung: Menschenrechtssituation in Afghanistan) sowie zuverlässige, aktuelle Informationen über die Sicherheitslage im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet sind wichtig für die Bewertung der Zumutbarkeit der vorgeschlagenen internen Schutzalternative.

Bei Frauen und Kindern, die aufgrund schädlicher traditioneller Bräuche und religiöser Normen mit Verfolgungshandlungscharakter Schaden befürchten, muss die Unterstützung derartiger Bräuche und Normen durch große Teile der Gesellschaft und durch mächtige konservative Elemente auf allen Ebenen des Staates als Faktor berücksichtigt werden, der der Relevanz einer internen Schutzalternative entgegensteht.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde aufgenommen durch Einsicht in den Akt der belangten Behörde sowie durch Abhaltung der mündlichen Verhandlung vom 28.8.2018. Die Identität der BF2 erscheint unbedenklich. Ihr gemeinsam mit ihren Kindern bestehender aktueller Wohnort ergibt sich aus dem zentralen Melderegister der Republik Österreich. Die strafrechtliche Unbescholtenheit der BF2 ebenso wie des BF1 ergibt sich aus dem Strafregister der Republik Österreich. Die Schilderungen der BF2 bezüglich ihres Fluchtgrundes erscheinen durchwegs lebensnahe und nachvollziehbar. Sie stimmen soweit hier wesentlich mit den diesbezüglichen Aussagen des BF1 überein. Die BF2 konnte auf Nachfrage genaue Details zu ihrer Flucht angeben und hat sich dabei in keine für die hier zu treffende Entscheidung wesentlichen Widersprüche verstrickt.

Soweit im Protokoll der erstinstanzlichen Vernehmung durch das BFA festgehalten ist, die BF2 hätte für den BF1 bereits positive Gefühle gehabt, wohingegen beide BF im Rechtsmittelverfahren angaben, sich vor ihrer Flucht aus Isfahan nicht gekannt zu haben, so hat die BF2 dazu in der Verhandlung nachvollziehbar ausgeführt, dass sie keinesfalls mit einem älteren Mann, einem Verwandten des Vaters, nach Afghanistan ziehen wollte und jedenfalls lieber mit dem Sohn ihrer Tante mütterlicherseits - die sie kannte und der sie vertraute - weiterhin in einer ihr vertrauten Umgebung leben wollte. Da beide im erstinstanzlichen Verfahren ihre gemeinsame Flucht - in der Erstbefragung mit nur wenigen Worten - als primären Fluchtgrund vorbrachten, erscheint es aber lebensnahe, dass sowohl die zuhörende Person als auch die übersetzende Person wie selbstverständlich von einer Liebesbeziehung ausgingen und entsprechendes protokollierten. Im Detail wurde weder die BF2 noch der BF1 diesbezüglich befragt.

Soweit im angefochtenen Bescheid die Meinung vertreten wird, die BF2 könne nicht als verfolgt im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention gelten, da sie nicht persönlich im Heimatstaat Afghanistan bedroht worden sei, so wird dieser Ansicht nicht gefolgt. Die BF2 muss angesichts der von ihr geschilderten Erlebnisse davon ausgehen, dass die Familie ihres Vaters, insbesondere die jenes Cousins, den sie abgelehnt hatte, intensive Nachforschungen über ihren Verbleib getätigt haben werden und die empfundene Niederlage mit gegen die BF2 und ihren Mann gerichteter Gewalt rächen würden. Die diesbezüglichen Schilderungen der BF2 und des BF1 stehen mit den einschlägigen Länderfeststellungen im Einklang. Sie erscheinen nachvollziehbar und glaubwürdig.

Soweit im angefochtenen Bescheid argumentiert wird, der BF2 würde keine staatliche Verfolgung drohen, ist zunächst auf die einschlägige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, derzufolge mangelnde Schutzfähigkeit des Staates zwar nicht schon dann vorliegt, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine BürgerInnen gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen jedoch jedenfalls dann gegeben ist, wenn der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird. Für eine/n Verfolgte/n macht es nämlich keinen Unterschied, ob er/sie aufgrund staatlicher Verfolgung mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm/ihr dieser Nachteil aufgrund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm/ihr nicht möglich bzw im Hinblick auf seine/ihre wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen. Die obigen Richtlinien des UNHCR geben klar zu erkennen geben, dass der Staat Afghanistan Menschen, insbesondere Frauen aktuell keinen ausreichenden Schutz zu bieten in der Lage ist. Im Fall der BF muss davon ausgegangen werden, dass sich die Familie ihres Vater auch - ungestraft - krimineller regierungsfeindlicher (oder regierungsfreundlicher) Netzwerke bedienen könnte, um die BF2 auszuforschen und ermorden zu lassen. Auch der im angefochtenen Bescheid vertretene Meinung, dass das bloße Weglaufen von zu Hause keinen Straftatbestand darstelle, und dass sich die BF2 mit ihrem diesbezüglichen Anliegen an die iranischen Behörden hätte wenden können, ist vor dem eben Dargelegten nicht zu folgen: Im vorliegenden Fall ist die Gefährdung der BF2 bezogen auf eine Verfolgung in ihrem Heimatland Afghanistan zu prüfen, die jedenfalls gegeben ist. Soweit im angefochtenen Bescheid argumentiert wird, die BF2 habe sich mit dem BF1 vier Jahre lang im Iran aufgehalten, ohne entdeckt worden zu sein, so ist auf jene Aussagen des BF1 und der BF2 zu verweisen, aus denen hervorgeht, dass beide den Kontakt zu Behörden mieden, um nicht registriert zu werden, sich also versteckt hielten.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A)

§ 3. AsylG 2005 in der anzuwendenden Fassung:

(1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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