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L9210 Behindertenhilfe, Chancengleichheit, RehabilitationNorm
B-VG Art144 Abs1 / AnlassfallLeitsatz
Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses im AnlassfallSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in seinen Rechten verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Das Land Tirol ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
1. Der Beschwerdeführer wohnt als Behinderter iSd §2 Tiroler Rehabilitationsgesetz (im Folgenden: TRG) seit 2009 in einem Einzelzimmer im Wohnhaus Innsbruck der slw Soziale Dienste GmbH und erhält im Wohnheim Frühstück und Abendessen. Er nimmt die Tagesstruktur bei der Lebenshilfe in Anspruch und isst dort auch zu Mittag. Er wird somit durch beide Einrichtungen der Behindertenbetreuung – slw Soziale Dienste GmbH und Lebenshilfe – rund um die Uhr betreut und verpflegt.
Mit Bescheid der Bürgermeisterin der Stadt Innsbruck vom 6. März 2017 wurde dem Verlängerungsantrag vom 21. Dezember 2016 entsprochen und dem Beschwerdeführer nach §7 TRG für den Zeitraum 1. Februar 2017 bis 31. Jänner 2019 "Wohnen exklusive Tagesstruktur" im Wohnhaus Innsbruck der slw bewilligt. Ein Kostenbeitrag aus Einkommen (Pension und Pflegegeld) iHv € 722,74 wurde vorgeschrieben. Eine ergänzende Vorschreibung eines Kostenbeitrages aus Vermögen zu einem späteren Zeitpunkt behielt sich die belangte Behörde in einem weiteren Spruchpunkt vor, sobald sie die Unterlagen erhalten habe. Der Bescheid erwuchs in Rechtskraft.
Mit Schreiben vom 5. Mai 2017 legte der Sachwalter die Unterlagen zum Vermögen vor. Laut Jahresbericht 2016 des Sachwalters an das Pflegschaftsgericht verfügte der Beschwerdeführer über ein Vermögen iHv € 72.107,07 abzüglich des Entschädigungsanspruches des Sachwalters iHv € 1.872,– (dh über ein Vermögen iHv € 70.235,07).
Mit Bescheid der Bürgermeisterin der Stadt Innsbruck vom 14. Juni 2017 wurde dem Beschwerdeführer die Leistung eines Kostenbeitrages aus Vermögen zu den Kosten seines Aufenthaltes im Wohnhaus Innsbruck der slw Soziale Dienste GmbH für den Zeitraum 1. Februar 2017 bis 31. Jänner 2019 iHv einmalig € 35.137,77 vorgeschrieben, zahlbar bis spätestens 31. Jänner 2019.
Mit Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Tirol vom 30. Oktober 2017 wurde die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet abgewiesen und der Spruch des Bescheides dahingehend abgeändert, dass die Höhe des Kostenbeitrages aus Vermögen € 60.235,07 zu lauten habe.
Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer nach §20 Abs1 TRG einen Kostenbeitrag entsprechend seinen wirtschaftlichen Verhältnissen zu leisten habe. Der Beitrag sei daher einerseits nach den Kosten der Rehabilitationsmaßnahme zu bestimmen, die er iSd §20 Abs2 TRG nicht überschreiten dürfe, und andererseits auf der Grundlage des Einkommens und Vermögens des Hilfeempfängers und zwar so, dass diesem die notwendigen Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes inklusive der ihm aus seiner Behinderung erwachsenden besonderen Bedürfnisse verblieben. Durch die Einhebung solle überdies iSd §20 Abs3 TRG den Zielsetzungen des TRG nicht widersprochen werden.
Für den bewilligten Zeitraum (1. Februar 2017 bis 31. Jänner 2019) seien die Kosten der Rehabilitationsmaßnahme mit € 107.331,20 angegeben worden: Der Tagsatz für die Maßnahme "Wohnen exklusive Tagesstruktur" betrage nach dem Normaltarif (bei Pflegestufe 3) € 146,60; die monatlichen Kosten würden daher € 4.477,40 (Tagsatz mal 30,5) ergeben; bei 24 Monaten seien daher € 107.457,60 an Kosten zu verzeichnen. Da der Beschwerdeführer einen monatlichen Kosten-beitrag aus Pension und Pflegegeld iHv € 722,74 zu leisten habe – im bewilligten Zeitraum € 17.345,76 – ergebe sich ein Differenzbetrag von € 90.111,84. Der vorgeschriebene Beitrag überschreite damit nicht die Kosten der Rehabilitationsmaßnahme im bewilligten Zeitraum iSd §20 Abs2 TRG. Den monatlichen Aufwendungen und Ausgaben des Beschwerdeführers iHv € 209,– (exklusive Urlaubsreisen) stünden regelmäßige Einnahmen aus Taschengeld, erhöhter Familienbeihilfe sowie Pension iHv € 591,09 gegenüber. Es sei dem Beschwerde-führer jedenfalls möglich, die von ihm gewünschten und getätigten Ausgaben zu decken sowie die Urlaubsreisen – etwa aus dem 13. und 14. Bezug der Halbwaisenpension – zu finanzieren. Die Vorschreibung des Kostenbeitrages begegne daher keinen Bedenken. Die Behörde habe ein Schonvermögen iHv € 10.000,– berücksichtigt und sich dabei auf eine Richtlinie des Landes Tirol für Kostenbei-träge für ambulante und stationäre Leistungen der Behindertenhilfe (im Folgen-den: Kostenbeitragsrichtlinie) gestützt. Auch wenn diese verwaltungsinterne Vorgabe für das Landesverwaltungsgericht Tirol nicht bindend sei, begegne das Vorgehen, dem Beschwerdeführer jedenfalls einen bestimmten Betrag zu belassen, keinen Bedenken. Die belangte Behörde habe das gesperrte Wertpapierdepot iHv € 23.741,70 außer Acht gelassen. Für das Landesverwaltungsgericht Tirol sei es nicht nachvollziehbar, warum ein Teil der unstrittig vorhandenen Vermögenswerte – über das Schonvermögen hinaus – beim Kostenbeitrag aus Vermögen keine Berücksichtigung finde. Es seien sämtliche bekannten und vorhandenen Vermögenswerte, die das Schonvermögen übersteigen, heranzuziehen, unabhängig von allfälligen Bindungen oder Beschränkungen; andernfalls könnte der Gesetzeszweck durch eine gebundene Vermögensveranlagung umgangen werden.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger, auf Unversehrtheit des Eigentums und auf Freiheit der Erwerbsbetätigung behauptet wird. Zudem würde durch die Entscheidung das Legalitätsprinzip verletzt werden.
2. Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichthof gemäß Art139 Abs1 Z2 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit von §1 lite, §2 Abs8 sowie §8 Abs1, 2 und 3 der Richtlinie des Landes Tirol für Kostenbeiträge für ambulante und stationäre Leistungen der Behindertenhilfe, Beschluss der Tiroler Landesregierung vom 19. Mai 2015, kundgemacht auf der Website des Landes Tirol, ein. Mit Erkenntnis vom 28. November 2018 hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass die Richtlinie des Landes Tirol für Kostenbeiträge für ambulante und stationäre Leistungen der Behindertenhilfe, Beschluss der Tiroler Landesregierung vom 19. Mai 2015, kundgemacht auf der Website des Landes Tirol (https://www.tirol.gv.at/fileadmin/themen/gesellschaftsoziales/soziales/Gesetze_Richtlinien/Kostenbeitrag_Richtlinie.pdf) wegen Kundmachung in gesetzwidriger Weise (zur Gänze) gesetzwidrig war.
3. Die Beschwerde ist begründet.
4. In der gegenständlichen Rechtssache wurde eine gesetzwidrige Verordnung angewendet. Es ist nach Lage des Falles nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Anwendung der Kostenbeitragsrichtlinie für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war.
Der Beschwerdeführer wurde also wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in seinen Rechten verletzt (zB VfSlg 10.303/1984, 10.515/1985).
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
Schlagworte
VfGH / AnlassfallEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2018:E4347.2017Zuletzt aktualisiert am
02.09.2019