TE Vwgh Erkenntnis 1999/9/21 95/08/0146

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Veröffentlicht am 21.09.1999
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;

Norm

AVG §37;
AVG §45 Abs2;
AVG §52;
AVG §58 Abs2;
VwGG §41 Abs1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Knell und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Novak, Dr. Sulyok und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde des A in W, vertreten durch Dr. Kurt Heller, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Seilergasse 16, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 11. April 1995, Zl. MA 12 - 7555/94 BH, betreffend Ausstellung eines Behindertenpasses nach den §§ 40 ff des Bundesbehindertengesetzes, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Dem Bund (Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid des Bundessozialamtes für Wien, Niederösterreich und Burgenland (in der Folge: Bundessozialamt) vom 27. Oktober 1994 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß §§ 40 Abs. 1, 41 und 45 Abs. 2 des Bundesbehindertengesetzes (BBG) abgewiesen. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer beziehe seit 1. Mai 1990 von der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter eine Invaliditätspension. Es liege jedoch kein Bescheid oder Urteil vor, in dem sein Grad der Behinderung oder seine Minderung der Erwerbsfähigkeit nach den bundesgesetzlichen Vorschriften mit mindestens 50 v.H. festgesetzt worden sei. Da die für den Bezug seiner Leistung maßgebenden Bestimmungen keine Einschätzung des Grades der Behinderung vorsehen würden, sei anhand der aufliegenden ärztlichen Unterlagen die Einschätzung durch einen ärztlichen Sachverständigen des Bundessozialamtes nach den Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes (KOVG) - Richtsätze für die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit, Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 9. Juni 1965, BGBl. Nr. 150 (Richtsatzverordnung) - vorgenommen worden. Das Sachverständigengutachten vom 27. September 1994, welches als schlüssig erkannt und in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zu Grunde gelegt worden sei, habe einen Grad der Behinderung von 30 v.H. ergeben. Ein im Rahmen des Parteiengehörs vom Beschwerdeführer vorgelegtes polizeiamtsärztliches Gutachten vom 14. September 1990 sei bereits vorgelegen und bei der Festsetzung des Grades der Behinderung berücksichtigt worden.

Die dagegen erhobene Berufung des Beschwerdeführers wurde von der belangten Behörde mit dem angefochtenen Bescheid als unbegründet abgewiesen. Grundvoraussetzung für die Ausstellung eines Behindertenpasses sei gemäß § 40 Abs. 1 BBG eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 v.H. Durch das schlüssige ärztliche Sachverständigengutachten vom 27. September 1994 sei festgestellt worden, dass die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers lediglich 30 v.H. betrage.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.

Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt wird.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die maßgeblichen Bestimmungen der §§ 40 und 41 Abs. 1 BBG idF BGBl. Nr. 314/1994 lauten:

"§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 % ist auf Antrag vom zuständigen Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

...

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpass auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der in § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das örtlich zuständige Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach den Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152, einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hierfür maßgebenden Bestimmungen keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde."

Zwischen den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist ausschließlich strittig, ob die belangte Behörde zu Recht von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers von 30 v.H. ausgegangen ist und dieser somit eine Voraussetzung für die Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß § 40 Abs. 1 BBG nicht erfüllt. Die belangte Behörde stützte sich bei ihrer Entscheidung in freier Beweiswürdigung auf ein von ihr als schlüssig erachtetes ärztliches Sachverständigengutachten vom 27. September 1994, welches von einem Sachverständigen des Bundessozialamtes nach den Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 KOVG (Richtsatzverordnung) erstellt worden sei.

In den Beschwerdeausführungen wird im Wesentlichen geltend gemacht, der Beschwerdeführer sei insofern in seinen Rechten verletzt worden, als die belangte Behörde bei der Einschätzung das polizeiamtsärztliche Gutachten vom 14. September 1990 übergangen habe. In diesem Gutachten sei fest gehalten worden, dass er neben den Beschwerden in der Wirbelsäule und in den Hüften unter Beschwerden in beiden Ellbogen leide; seine Leiden seien dermaßen schwer wiegend, dass er zur persönlichen Fortbewegung auf ein Kraftfahrzeug angewiesen sei. Es seien somit nicht alle vorliegenden Gutachten gewürdigt und nicht alle Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens sorgfältig berücksichtigt worden. Die belangte Behörde habe ihre Feststellungen ohne nähere Begründung einzig und allein auf das Gutachten des Bundessozialamtes vom 27. September 1994 gestützt, obwohl dieses im Widerspruch zum polizeiamtsärztlichen Gutachten vom 14. September 1990 gestanden sei.

Darauf ist zu erwidern, dass die belangte Behörde im vorliegenden Fall nicht vor die Situation gestellt war, Gutachten und Gegengutachten gegeneinander abwägen zu müssen, da sich das polizeiamtsärztliche Gutachten vom 14. September 1990 mit der hier relevanten Sachverhaltsfrage (Minderung der Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers) gar nicht auseinander gesetzt hat. Dieses Gutachten wurde auf Grund eines Ansuchens des Beschwerdeführers um Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer erstellt. Es enthält keinerlei Feststellungen über eine etwaige Minderung der Erwerbsfähigkeit, sondern besagt lediglich, dass der Beschwerdeführer "über Schmerzen in beiden Ellbogen, beiden Kniegelenken sowie beiden Hüften und der gesamten Wirbelsäule auf Grund von altersbedingten Abnützungen (klage)". Auf Grund seiner Leiden sei er zur persönlichen Fortbewegung auf ein Kraftfahrzeug angewiesen.

Gegen das Sachverständigengutachten vom 27.9.1994 wendet der Beschwerdeführer ein, die Einschätzung des Grades seiner Behinderung sei ohne persönliche Untersuchung anhand der beim Bundessozialamt aufliegenden ärztlichen Unterlagen vorgenommen worden. Das Gutachten habe die degenerative Veränderung seiner Wirbelsäule sowie die beidseitige Arthrose im Hüftgelenk jeweils mit den niedrigsten Werten der Richtsätze für die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit laut Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 9. Juni 1965, BGBl. Nr. 150, angenommen. Ein bereits geheilter Oberschenkelbruch sei im Gutachten zwar erwähnt worden, sei aber ohne Einfluss auf den Grad seiner Behinderung. Hingegen seien die Leiden in seinen beiden Ellbogen bei der Einschätzung überhaupt nicht berücksichtigt worden. In dem von ihm vorgelegten polizeiamtsärztlichen Gutachten sei fest gehalten worden, seine Leiden seien dermaßen schwer wiegend, dass er zur persönlichen Fortbewegung auf ein Kraftfahrzeug angewiesen sei.

Diesem Vorbringen kommt im Ergebnis Berechtigung zu.

Die Wertung eines Sachverständigenbeweises - soweit es sich um die Feststellung des Sachverhaltes handelt - unterliegt der Behörde in freier Beweiswürdigung. In diesen Grenzen ist die Beurteilung des Sachverständigenbeweises der Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof nur insoweit unterworfen, als es sich um Tatsachenfeststellungen handelt, die sich auf aktenwidrige Annahmen gründen, auf logisch unhaltbaren Schlüssen beruhen oder in einem mangelhaften Verfahren zu Stande gekommen sind (vgl. etwa das Erkenntnis vom 20. Dezember 1995, Zl. 90/12/0125, sowie das Erkenntnis vom 26. September 1991, Zl. 91/09/0089).

Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage kann die auf Grund eines Gutachtens aus dem Akt der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter aus dem Jahre 1990 rein aktenmäßig getroffene Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers im Jahre 1994 nicht als ausreichend erkannt werden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat sich der Sachverständige bei der Befundaufnahme jener Hilfsmittel zu bedienen, die seine Wissenschaft entwickelt hat, um ein verlässliches Gutachten abgeben zu können (vgl. z.B. Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I, 2. Aufl., E. 148 ff zu § 52 AVG). Geht es - wie im Beschwerdefall - um die körperliche Beweglichkeit des Antragstellers, so wird eine klinische Untersuchung unerlässlich sein, um den Gesundheitszustand zum Zeitpunkt der Gutachtenserstellung beschreiben und beurteilen zu können.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die belangte Behörde bei Vermeidung dieses Verfahrensmangels zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschrften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers, BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 21. September 1999

Schlagworte

Anforderung an ein Gutachten Gutachten Beweiswürdigung der Behörde Gutachten Beweiswürdigung der Behörde widersprechende Privatgutachten Gutachten rechtliche Beurteilung Sachverhalt Beweiswürdigung Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Freie Beweiswürdigung Sachverhalt Sachverständiger Gutachten Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung Arzt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1999:1995080146.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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