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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);Norm
B-VG Art133 Abs5;Beachte
Serie (erledigt im gleichen Sinn):Ra 2018/01/0210 E 6. November 2018 Ra 2018/01/0211 E 6. November 2018 Ra 2018/01/0212 E 6. November 2018 Ra 2018/01/0213 E 6. November 2018Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl sowie die Hofrätin Mag. Liebhart-Mutzl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kienesberger, über die Revision der I M in G, vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Steiermark vom 13. März 2018, Zl. LVwG 30.20-1118/2017-14, betreffend Übertretung des Versammlungsgesetzes 1953 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landespolizeidirektion Steiermark), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Steiermark (belangte Behörde) vom 6. März 2017 wurde die Revisionswerberin wegen des Vorwurfs, sie habe es als Teilnehmerin einer unangemeldeten Versammlung an einem näher bezeichneten Ort in G am 23. Jänner 2016, zwischen 19.15 und 19.20 Uhr, unterlassen, die zuvor vom Behördenvertreter der belangten Behörde für aufgelöst erklärte Versammlung zu verlassen und auseinanderzugehen, der Übertretung des § 14 Abs. 1 Versammlungsgesetz 1953 (VersG) für schuldig erkannt. Es wurde über sie gemäß § 19 VersG eine Geldstrafe in der Höhe von EUR 200,-- (Ersatzfreiheitsstrafe von drei Tagen) verhängt.
2 In der dagegen erhobenen Beschwerde brachte die Revisionswerberin unter anderem vor, dass sie die Megaphon-Durchsage betreffend die Auflösung der Versammlung akustisch nicht wahrnehmen habe können und ihr deshalb die Auflösung der Versammlung nicht bewusst gewesen sei. Abgesehen davon sei zwischen der Durchsage und dem Einschreiten der Polizei weniger als eine Minute vergangen, weshalb ihr das Verlassen des Versammlungsortes nicht möglich gewesen sei, zumal sie wegen der starken Polizeipräsenz den Eindruck gehabt habe, den Ort nicht verlassen zu können.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Steiermark (LVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde "dem Grunde nach" ab, gab ihr jedoch hinsichtlich der verhängten Strafe insofern Folge, als es die Geldstrafe auf EUR 140,-- und die Ersatzfreiheitsstrafe auf zwei Tage und zwölf Stunden herabsetzte sowie die Kosten des Verfahrens erster Instanz auf EUR 14,-- verringerte. Im Übrigen sprach das LVwG aus, dass "eine Revision wegen Verletzung in Rechten" gemäß § 25a Abs. 4 VwGG nicht zulässig sei.
4 Das LVwG stellte im Wesentlichen fest, dass die Revisionswerberin am 23. Jänner 2016 an einer Sitzblockade an einem näher beschriebenen Ort in G, für den keine Versammlung angemeldet gewesen sei, teilgenommen habe. Die belangte Behörde habe mittels Megaphon-Durchsage die Versammlung als aufgelöst erklärt. Die Teilnehmer der Sitzblockade hätten diese Durchsage hören und verstehen müssen. Nachdem die Teilnehmer den Ort nicht verlassen hätten, sei ca. fünf Minuten später von der Polizei begonnen worden, die Teilnehmer aufzuheben und wegzutragen.
5 Beweiswürdigend legte das LVwG unter anderem dar, die Behauptung der Revisionswerberin, es wäre alles so rasch gegangen, weshalb sie gar nicht mehr die Zeit gehabt habe, aufzustehen, sei durch das mit Schreiben vom 18. Oktober 2017 von der belangten Behörde vorgelegte Videomaterial widerlegt. Unter anderem damit zeige sich für das LVwG, dass die Teilnehmer die Sitzblockade jedenfalls hätten aufrechterhalten wollen.
6 Rechtlich führte das LVwG zusammengefasst aus, die Revisionswerberin habe den Tatbestand des § 14 Abs. 1 VersG erfüllt, weil sie der Auflösung der nicht angemeldeten Versammlung, die sie mitbekommen habe müssen, nicht sofort nachgekommen sei und den Versammlungsort nicht sofort verlassen habe. Die Herabsetzung der Geldstrafe begründete das LVwG mit der näher festgestellten Einkommens- und Vermögenslage der Revisionswerberin.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision. Darin wird zur Zulässigkeit vorgebracht, das LVwG sei von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur (absoluten) Unzulässigkeit einer Revision nach § 25a Abs. 4 VwGG sowie zur unmittelbaren Beweisaufnahme durch das Verwaltungsgericht abgewichen. Die Revision enthält den Antrag, das angefochtene Erkenntnis wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit bzw. Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften kostenpflichtig aufzuheben. Die belangte Behörde beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung die kostenpflichtige Zurück- in eventu Abweisung der Revision.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Zulässigkeit
8 Im Sinne des Art. 133 Abs. 4 letzter Satz B-VG bestimmt § 25a Abs. 4 VwGG, dass in einer Verwaltungsstrafsache oder in einer Finanzstrafsache eine Revision wegen Verletzung in Rechten (Art. 133 Abs. 6 Z 1 B-VG) nicht zulässig ist, wenn 1. eine Geldstrafe von bis zu EUR 750,-- und keine Freiheitsstrafe verhängt werden durfte und 2. im Erkenntnis eine Geldstrafe von bis zu EUR 400,-- verhängt wurde.
9 Bei der im Sinne der Z 1 in der Strafdrohung vorgesehenen "Freiheitsstrafe" muss es sich um eine primäre Freiheitsstrafe handeln; die Festsetzung einer Ersatzfreiheitsstrafe ist nicht erfasst (vgl. VwGH 29.10.2014, Ra 2014/01/0113, mwN unter anderem auf die Gesetzesmaterialien).
10 Entgegen der Ansicht des LVwG ist im vorliegenden Fall der Übertretung des § 14 Abs. 1 VersG die Revision wegen Verletzung in Rechten nicht schon gemäß § 25a Abs. 4 VwGG (absolut) unzulässig.
§ 19 VersG sieht bei Übertretung des VersG nicht nur die Möglichkeit der Verhängung einer Geldstrafe bis zu EUR 720,--, sondern auch einer primären Freiheitsstrafe ("Arrest bis zu sechs Wochen") vor, weshalb die absolute Unzulässigkeit der Revision in Verwaltungsstrafsachen gemäß § 25a Abs. 4 VwGG hier nicht zum Tragen kommt.
11 Im Übrigen ist die Revision im Hinblick auf die im Zulässigkeitsvorbringen aufgezeigte Rechtsfrage der Verletzung des in § 48 VwGVG normierten Grundsatzes der Unmittelbarkeit des Verfahrens in Verwaltungsstrafsachen durch Bedachtnahme in der Beweiswürdigung des angefochtenen Erkenntnisses auf eine von der belangten Behörde dem LVwG vorgelegte, in der mündlichen Verhandlung jedoch nicht vorgekommene und der Revisionswerberin nicht zur Kenntnis gebrachte Videoaufzeichnung zulässig. Sie ist auch berechtigt.
Kein Kernbereich der Versammlungsfreiheit 12 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits - unter Hinweis auf
die neuere Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (insbesondere VfSlg. 19.818/2013) - festgehalten, dass Fragen des Eingriffs in den Kernbereich des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit Rechtssachen betreffen, die gemäß Art. 133 Abs. 5 B-VG (nach wie vor) von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen sind. Entscheidungen, die den Kernbereich der Versammlungsfreiheit betreffen - wie die Untersagung oder die Auflösung einer Versammlung -, fallen in die ausschließliche Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes. Darüber hinaus hat der Verfassungsgerichtshof aber nicht zu prüfen, ob die angefochtene Entscheidung "in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht" (vgl. VwGH 27.2.2018, Ra 2017/01/0105, mwN).
13 In diesem Sinn hat der Verwaltungsgerichtshof die Übertretung des § 2 Abs. 1 VersG (Pflicht des Veranstalters zur Anzeige einer beabsichtigten Versammlung) als eine Angelegenheit außerhalb des Kernbereichs der Versammlungsfreiheit angesehen (vgl. VwGH 22.3.2018, Ra 2017/01/0359, mwN).
14 Vorliegend betrifft das beim LVwG angefochtene Straferkenntnis die Übertretung des § 14 Abs. 1 VersG (Pflicht, eine für aufgelöst erklärte Versammlung sogleich zu verlassen und auseinanderzugehen), somit eine Angelegenheit außerhalb des Kernbereichs der Versammlungsfreiheit (vgl. VfGH 3.12.2013, B 1573/2012).
Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gemäß § 48 VwGVG
15 Vor dem Verwaltungsgericht gilt der Unmittelbarkeitsgrundsatz (vgl. VwGH 20.5.2015, Ra 2014/09/0041, mit Verweis auf ua. § 48 VwGVG).
16 Gemäß § 48 VwGVG ist in Verfahren in Verwaltungsstrafsachen, wenn eine Verhandlung durchgeführt wurde, bei der Fällung eines Erkenntnisses nur auf das Rücksicht zu nehmen, was in der Verhandlung vorgekommen ist. Auf Aktenstücke ist nur insoweit Rücksicht zu nehmen, als sie bei der Verhandlung verlesen wurden, es sei denn, der Beschuldigte hätte darauf verzichtet, oder als es sich um Beweiserhebungen handelt, deren Erörterung infolge Verzichts auf eine fortgesetzte Verhandlung gemäß § 44 Abs. 5 VwGVG entfallen ist.
17 § 48 VwGVG legt die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Verwaltungsstrafverfahren fest, der für den Beschuldigten an Art. 6 EMRK zu messen ist (vgl. Götzl in
Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Das neue Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte, § 48 VwGVG Rn. 1, mwN). Demnach darf das Verwaltungsgericht, soweit es eine Verhandlung durchführt, bei seiner Entscheidung nur auf die in der Verhandlung selbst vorgekommenen Beweise Rücksicht nehmen.
Die Anforderungen an ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK gebieten es, alle Beweise grundsätzlich in einer öffentlichen Verhandlung mit dem Ziel einer kontradiktorischen Erörterung aufzunehmen (vgl. VwGH 6.7.2015, Ra 2014/02/0152).
18 Verwertet das Verwaltungsgericht bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung Beweise, die es nicht im Rahmen der mündlichen Verhandlung aufgenommen hat und die auch sonst nicht "vorgekommen" sind (in der Verhandlung vorgehaltene Beweismittel bzw. Beweismittel auf die der Beschuldigte in der Verhandlung selbst hinweist (vgl. VwGH 21.3.2006, 2003/11/0028)), liegt darin ein Verfahrensmangel, auf den nach Maßgabe seiner Relevanz Bedacht zu nehmen ist.
19 Die Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ist nur dann nicht von hinreichender Relevanz, wenn unzweifelhaft die fehlende Möglichkeit eines für den Beschuldigten nachteiligen Einflusses auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes gegeben ist (vgl. OGH 12.1.2000, 13 Os 156/99, in Bezug auf das in § 258 Abs. 1 StPO für das gerichtliche Strafverfahren konkretisierte Prinzip der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme). Dies ist etwa dann gegeben, wenn das Beweismittel keine entscheidungswesentliche Tatfrage betrifft oder eine entscheidungswesentliche Tatsachenfeststellung vom Beschuldigten zugestanden wurde und das Beweismittel vom Verwaltungsgericht insofern bloß als zusätzliches, illustratives Begründungsargument herangezogen wurde (vgl. OGH 17.3.1981, 9 Os 186/80, zu § 258 Abs. 1 StPO). Stützt sich das Verwaltungsgericht in seiner Beweiswürdigung zu einer entscheidungswesentlichen Tatfrage unter anderem auf Beweise, die entgegen § 48 VwGVG nicht in der durchgeführten Verhandlung aufgenommen wurden, ist daraus ein für den Beschuldigten nachteiliger Einfluss auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht auszuschließen. Ein solcher sich aus der Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes nach § 48 VwGVG ergebender Verfahrensmangel ist insofern entscheidungsrelevant und hat die Aufhebung eines entsprechend mangelhaften Erkenntnisses eines Verwaltungsgerichts zur Folge.
Konkreter Fall
20 Das LVwG gründete seine Beweiswürdigung zu der für die Bestrafung der Revisionswerberin wegen Übertretung des § 14 Abs. 1 VersG maßgeblichen Tatsachenfeststellung, dass die Teilnehmer der Sitzblockade - somit auch die Revisionswerberin - ca. fünf Minuten nach der für sie wahrnehmbaren Auflösung der Versammlung am Ort verharrten und danach die Polizei begann, die Teilnehmer aufzuheben und wegzutragen, unter anderem auf das dem Verwaltungsgericht mit Schreiben der belangten Behörde vom 18. Oktober 2017 vorgelegte Videomaterial, ohne dieses der Revisionswerberin zur Kenntnis zu bringen und im Rahmen der mündlichen Verhandlung zu erörtern.
21 Da das LVwG dieses nicht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachte Videomaterial für seine Beweiswürdigung nicht bloß als zusätzliches, illustratives Begründungsargument einer entscheidungswesentlichen und umstrittenen Tatsachenfrage heranzog, stellt diese von der belangten Behörde in der Revisionsbeantwortung zugestandene Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes nach § 48 VwGVG einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
22 Das LVwG hat insofern das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet.
Ergebnis
23 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
24 Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 6. November 2018
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018010243.L00Im RIS seit
06.12.2018Zuletzt aktualisiert am
19.02.2019