TE Vwgh Erkenntnis 2018/11/15 Ra 2018/19/0302

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Veröffentlicht am 15.11.2018
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Index

E1P;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
19/05 Menschenrechte;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

12010P/TXT Grundrechte Charta Art47;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
MRK Art6;
VwGG §42 Abs3 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des K G B, vertreten durch Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. April 2018, L525 2140469-1/9E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber ist ein Staatsangehöriger Pakistans und stammt aus Parachinar, Kurram Agency, in der FATA-Region. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen und der Religionsgemeinschaft der Schiiten an. Er stellte am 21. Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, dass sein Vater Führer der Großen Jirga gewesen und von den Taliban getötet worden sei. Sein Bruder habe gegen die Taliban gekämpft. Der Revisionswerber sei bei einer Hilfsorganisation und bei einer Organisation, die für die Sicherheit der Schiiten verantwortlich gewesen sei, tätig gewesen und von den Taliban mit dem Tod bedroht worden.

2 Mit Bescheid vom 4. November 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Pakistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte und u.a. eine Verletzung von Verfahrensvorschriften behauptete, weil die Länderfeststellungen unvollständig seien. Dazu zitierte er Berichte über konfessionelle Konflikte und über die von den Taliban ausgehende Gefährdung von Schiiten und Paschtunen in der FATA-Region.

4 Mit Schreiben vom 24. März 2017 und einem weiteren Schreiben, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 6. April 2017, legte der Revisionswerber Zeitungsartikel über Anschläge in Parachinar vor.

5 Mit Schreiben vom 13. Februar 2018 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Revisionswerber ein aktualisiertes Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Pakistan sowie eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Lage schiitischer Paschtunen in Pakistan zur schriftlichen Stellungnahme und mit Schreiben vom 21. März 2018 ein weiteres aktualisiertes Länderinformationsblatt sowie einen umfangreichen Bericht über die Sicherheitslage in der FATA-Region im Jahr 2017.

6 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

7 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im hier maßgeblichen Zusammenhang aus, das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers sei unglaubwürdig. Die Sicherheitssituation sei nicht so, dass sie die Zuerkennung von subsidiärem Schutz indizieren würde. Zwar seien die Opferzahlen in der ersten Hälfte des Jahres 2017 in der Region um Parachinar, wie sich aus dem dem Revisionswerber übermittelten Bericht ergebe, erheblich angestiegen; insgesamt entwickelten sich die Anschlags-und Opferzahlen aber seit Jahren zurück und habe sich die Sicherheitslage allgemein verbessert. Der pakistanische Staat unternehme große Anstrengungen, um die Sicherheitslage zu stabilisieren, was sich "bereits aus den seitens des Beschwerdeführers herangezogenen Berichten" ergebe. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe unterbleiben können, weil der Sachverhalt die gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweise, das Bundesverwaltungsgericht sich der Beweiswürdigung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl anschließe und die Beschwerde die Feststellungen nicht substantiiert bestreite und keine wesentlichen neuen Aspekte vorbringe.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 In der Revision wird zur Zulässigkeit u.a. näher vorgebracht, das Bundesverwaltungsgericht habe zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen.

10 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0484, mwN).

12 Diesen Grundsätzen hat das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entsprochen:

13 Der Revisionswerber hat die Beweiswürdigung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in seiner Beschwerde nicht bloß unsubstantiiert bestritten. Er erstattete unter Heranziehung verschiedener Quellen weiteres Vorbringen zu interkonfessionellen Konflikten sowie zum Vorgehen der Taliban, um damit seine Behauptung, ihm drohe als Schiit und Paschtune in seiner Heimatregion Verfolgung, zu stützen.

14 Das Bundesverwaltungsgericht erachtete es überdies für geboten, die Feststellungen zur Situation in Pakistan unter Heranziehung neuerer Länderberichte zu aktualisieren. Darüber hinaus ergänzte das Bundesverwaltungsgericht die Feststellungen um einen zusätzlichen Bericht über die Sicherheitslage in der FATA-Region im Jahr 2017.

15 Damit hat das Bundesverwaltungsgericht die Beweiswürdigung gegenüber den Ausführungen der Behörde nicht bloß unwesentlich ergänzt und die Feststellungen einer Aktualisierung zugeführt. Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt festgehalten hat, kann auch die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zum Inhalt aktueller Länderberichte zur Situation im Herkunftsstaat schriftlich Stellung zu nehmen, grundsätzlich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht ersetzen (vgl. etwa VwGH 2.8.2018, Ra 2018/19/0136, mwN).

16 Ausgehend davon lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer Verhandlung nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 31.1.2018, Ra 2017/19/0443).

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. November 2018

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018190302.L00.1

Im RIS seit

10.12.2018

Zuletzt aktualisiert am

07.01.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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