Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 13. November 2018 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart der Kontr. Gsellmann als Schriftführerin in der Strafsache gegen Amjad H***** wegen des Verbrechens der terroristischen Vereinigung nach § 278b Abs 2 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Schöffengericht vom 10. April 2018, GZ 63 Hv 2/18i-86, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Amjad H***** gemäß § 259 Z 3 StPO von der Anklage freigesprochen, er habe „in P***** und andernorts
1) sich von 1. Oktober 2002 bis zu einem unbekannten Zeitpunkt im Jahr 2014 dadurch, dass er für die Organisation 'Lashkar-E-Tayyiba' Freischärler an Waffen wie Pistolen und der Panzerfaust ausgebildet und bewaffnete Gruppen illegal über die Grenze nach Indien geschleust habe, um indische Sicherheitskräfte anzugreifen bzw zu ermorden und den indischen Teil Kaschmirs von der indischen 'Herrschaft' zu befreien, als Mitglied (§ 278 Abs 3 StGB) an einer terroristischen Vereinigung beteiligt, indem er sich im Rahmen ihrer kriminellen Ausrichtung an ihren Aktivitäten auf andere Weise in dem Wissen beteiligt habe, dass er dadurch die Vereinigung und deren strafbare Handlungen fördert;
2) ab Jänner 2011 bis zu einem unbekannten Zeitpunkt im Jahr 2014 durch die unter 1) beschriebenen Handlungen andere Personen im Gebrauch von Schusswaffen zum Zweck der Begehung einer terroristischen Straftat nach § 278c Abs 1 Z 1 bis 9 oder 10 StGB unterwiesen, wobei er gewusst habe, dass die vermittelten Fähigkeiten für diesen Zweck eingesetzt werden sollen.“
Die dagegen aus § 281 Abs 1 Z 4 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist nicht im Recht.
Rechtliche Beurteilung
Die Verfahrensrüge (Z 4) wendet sich gegen die Abweisung des Antrags auf Verlesung der Niederschrift über die Vernehmung des Angeklagten im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 2. August 2017 (ON 2 in ON 7; ON 85 S 16). Diesen hatte die Beschwerdeführerin – gestützt auf „§ 245 StPO, in eventu § 252 Abs 2 StPO“ – in der Hauptverhandlung am 2. März 2018 zum Beweis dafür gestellt, „dass der Angeklagte die in der Anklage genannten strafbaren Handlungen gesetzt hat“ (ON 80 S 23), nachdem das Erstgericht dem Begehren des Angeklagten, die Aussage nicht zu „verwerten“, Folge gegeben hatte (ON 80 S 2 und 7). Sofort nach Verkündung beider Entscheidungen behielt sich die Staatsanwaltschaft die Nichtigkeitsbeschwerde vor (ON 80 S 7 und ON 85 S 16; § 281 Abs 3 zweiter Satz StPO).
Vorauszuschicken ist, dass eine Verlesung des angesprochenen Aktenteils nach § 245 Abs 1 StPO hier nicht in Rede steht, weil sich die dort normierte Verlesungsermächtigung nur auf Protokolle von Aussagen, die vor Gericht, vor der Kriminalpolizei oder der Staatsanwaltschaft abgelegt wurden, bezieht (Kirchbacher, WK-StPO § 245 Rz 58) und Niederschriften über Angaben von (hier:) Beteiligten (§ 8 AVG) vor einer Verwaltungsbehörde wie dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, damit nicht umfasst.
Protokolle solcher Aussagen sind vielmehr Schriftstücke anderer Art (10 Os 17/67, SSt 38/38; vgl auch [finanzbehördliche Protokolle betreffend] RIS-Justiz RS0098403 sowie Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 124; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 229), welche nach § 252 Abs 2 StPO in der Hauptverhandlung grundsätzlich verlesen (oder vorgetragen; Abs 2a) werden müssen, soferne sie für die Sache von Bedeutung sind, kein Verlesungs- und Verwertungsverbot entgegensteht und nicht Ankläger und Angeklagter auf die Verlesung verzichten (Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 122; vgl auch RIS-Justiz RS0117025).
Da die Bestimmung per se nicht mit Nichtigkeitsdrohung verbunden ist, kann deren Missachtung
– von der Staatsanwaltschaft an sich richtig erkannt – unter der Voraussetzung einer auf die (vom Gericht nicht ins Auge gefasste) Verlesung gerichteten Antragstellung in der Hauptverhandlung nur aus Z 4 gerügt werden (Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 11, 130). Um unter dem Aspekt dieses Nichtigkeitsgrundes zum Erfolg führen zu können, hat der Antrag auch den inhaltlichen Anforderungen des § 55 Abs 1 und 2 StPO zu entsprechen. Ihm muss demnach – neben Beweisthema und Beweismittel – auch zu entnehmen sein, warum die beantragte Beweisaufnahme das vom Beschwerdeführer behauptete Ergebnis erwarten lasse und inwieweit dieses für Schuld- und Subsumtionsfrage relevant sei (vgl auch § 252 Abs 2 StPO: „für die Sache von Bedeutung“), soferne diese Umstände für das erkennende Gericht nicht ohne weiteres erkennbar sind (Danek/Mann, WK-StPO § 238 Rz 7; Ratz, WK-StPO § 281
Rz 327 ff).
Vorliegend hatte der Angeklagte anlässlich der vom Antrag umfassten Vernehmung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – unter Bezugnahme auf seine Erstbefragung im Jahr 2014 (ON 3) – zwar im Wesentlichen eingeräumt, auf die in der Anklage beschriebene Weise als Mitglied der „Lashkar-e-Taiba“ tätig geworden zu sein, in zeitlicher Hinsicht aber nur den Eintritt in die Organisation mit „1990 oder 1991“ konkretisiert, weitere Daten nicht genannt und zudem angegeben, nunmehr von den Mitgliedern der „Lashkar-e-Taiba“ wegen seiner Abkehr von deren Zielen und seines Wissens über „die Gruppe“ verfolgt zu werden und bereits im Jahr 2003 (erfolglos) in Österreich um Asyl angesucht zu haben (ON 2 in ON 7).
Aus welchem Grund die Verlesung des Protokolls über diese Aussage bei Anlegung eines realitätsbezogenen Maßstabs dennoch Anhaltspunkte für ein nicht vom Strafaufhebungsgrund der Verjährung erfasstes, sohin nach dem 26. Juli 2007 (vgl ON 1 S 5; § 57 Abs 3 zweiter Fall, § 58 Abs 3 Z 2 StGB) gesetztes tatbestandsmäßiges Verhalten des Angeklagten erbringen hätte sollen, ließ der Antrag offen.
Auch sonst lagen zur damaligen, für die Beurteilung maßgeblichen Verfahrenslage (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 49; vgl RIS-Justiz RS0099618) keine Beweisergebnisse vor, auf Grund derer (erneut bei gebotener Anlegung eines realitätsbezogenen Maßstabs) eine erfolgversprechende Bereicherung der zur Wahrheitsfindung führenden Prämissen hiezu zu erwarten war (RIS-Justiz RS0107445). Vielmehr hatte der zuletzt gänzlich leugnende Angeklagte bereits anlässlich seiner – in der Hauptverhandlung verlesenen (ON 85 S 16) – zweiten, wenige Stunden nach seiner Erstbefragung im Jahr 2014 durchgeführten Vernehmung durch Beamte der Landespolizeidirektion Salzburg darauf hingewiesen, von 2003 bis 2013 (zumindest großteils) in Frankreich und Italien aufhältig gewesen zu sein (ON 70 S 25 ff), wobei zumindest für das Jahr 2009 ein „EURODAC-Treffer“ in Frankreich vorlag (ON 70 S 26) und in der Hauptverhandlung vernommene Zeugen bestätigt hatten, dass er (jedenfalls) nach 2006 nicht mehr nach Pakistan eingereist war (ON 85 S 3, 7, 9).
Angesichts dieser Verfahrensergebnisse lag die Tauglichkeit der angestrebten Beweisführung in einem unter Berücksichtigung der Verjährungsfrage relevanten Umfang für das Erstgericht keineswegs auf der Hand, womit der Antrag – mangels diesbezüglichen Vorbringens – im Ergebnis auf bloße (unzulässige) Erkundungsbeweisführung gerichtet war (RIS-Justiz RS0118444 [T6]).
Das zu dessen Fundierung nachgetragene Beschwerdevorbringen, nämlich der – bei Antragstellung an sich zulässige (RIS-Justiz RS0124017) – Verweis auf andere Aktenstücke – hier: die Anklageschrift und in diesem Verfahren ergangene frühere (Haft-)Entscheidungen des Landesgerichts Salzburg und des Oberlandesgerichts Linz – ist aufgrund des insoweit geltenden Neuerungsverbots unbeachtlich (RIS-Justiz RS0099618, RS0098978).
Bleibt daher nur der Vollständigkeit halber anzumerken, dass einer Verlesung des in Rede stehenden Protokolls – entgegen der Ansicht des Erstgerichts – kein Beweisverbot entgegengestanden wäre. Abgesehen davon, dass (allfällige) Belehrungsdefizite nur unter bestimmten Voraussetzungen (und zwar insbesondere dann, wenn in unerlaubter Weise auf die Freiheit der Willensentschließung des Beschuldigten eingewirkt wird) einem schweren Vernehmungsfehler gleichzuhalten sind, der ein solches Verbot im Sinn des § 166 Abs 2 StPO bewirkt (Michel-Kwapinski, WK-StPO § 166 Rz 21 ff; vgl auch RIS-Justiz RS0128604), richten sich die Bestimmungen der § 164 Abs 1 und § 166 Abs 1 Z 2 StPO (vgl US 5), auf die sich die Tatrichter bei der Begründung der bekämpften Entscheidung bezogen haben, ausschließlich an Strafverfolgungsorgane. Organe einer Verwaltungsbehörde (vgl zum – kriminalpolizeiliche Agenden nicht umfassenden – Kompetenzbereich des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl § 3 BFA-G und § 3 Abs 2 BFA-Verfahrensgesetz), die Straftaten ohne Auftrag oder Einverständnis einer Strafverfolgungsbehörde erforschen, zählen nicht zum Adressatenkreis. Die Glaubwürdigkeit und Beweiskraft einer im verwaltungsbehördlichen Verfahren aufgenommenen Niederschrift sowie der Wert eines darin abgelegten Geständnisses sind vielmehr vom Gericht in freier Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO) zu bewerten (RIS-Justiz RS0131635; Kirchbacher, WK-StPO § 164 Rz 4; Michel-Kwapinski, WK-StPO § 166 Rz 14, 27; abermals 10 Os 17/67, SSt 38/38; siehe auch § 5 Abs 1 StPO).
Allfällige Verstöße gegen (verwaltungs-rechtliche) Verfahrensvorschriften im Asylverfahren sind für die Frage der Verlesungspflicht nach § 252 Abs 2 StPO demnach ohne Relevanz.
Da das Asylverfahren auf einem (auf welche Weise auch immer artikulierten) Antrag auf internationalen Schutz (siehe ON 3 S 3 ff) beruht (vgl § 2 Abs 1 Z 13 und Z 14 AsylG 2005), stellen im Übrigen in diesem Verfahren aufgenommene Protokolle über die Vernehmung des Antragstellers als (Verfahrens-)Partei (erneut § 8 AVG) allein aufgrund der den Asylwerber in diesem Zusammenhang treffenden Mitwirkungspflichten (§ 15 Abs 1 [insbes Z 1] AsylG 2005) grundsätzlich auch keine durch Aktualisierung von Zwang oder Druck ohne den Willen des (nunmehr) Angeklagten erlangte – und nur insoweit vom (aus Art 6 MRK – und vom Verfassungsgerichtshof aus Art 90 Abs 2 B-VG – abgeleiteten) Nemo-tenetur-Prinzips umfasste – Beweismittel dar (vgl dazu Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 24 Rz 138; Meyer-Ladewig, EMRK4 Art 6 Rz 129; vgl im Übrigen zur Problematik im Zusammenhang mit der Preisgabe eigenen strafbaren Verhaltens durch einen Abgabepflichtigen in Erfüllung seiner – durch § 33 Abs 1 FinStrG mit Strafsanktion bewehrten – abgabenrechtlichen Anzeige-, Offenlegungs- oder Wahrheitspflicht auch Lässig in WK² FinStrG § 33 Rz 57 mwN; vgl auch RIS-Justiz RS0125996).
Die
Nichtigkeitsbeschwerde war daher bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).
Eine Kostenentscheidung hatte gemäß § 390a Abs 1 erster Satz zweiter Halbsatz StPO zu unterbleiben.
Textnummer
E123319European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2018:0140OS00065.18T.1113.000Im RIS seit
03.12.2018Zuletzt aktualisiert am
28.07.2021