TE Bvwg Erkenntnis 2018/7/30 L526 2197699-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.07.2018
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Entscheidungsdatum

30.07.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §13 Abs2 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §18 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1a

Spruch

L526 2197699-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M., als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX, StA. Irak, vertreten durch ARGE Rechtsberatung -Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.04.2018, Zl. XXXX, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger des Irak, arabischer Abstammung und Angehöriger der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 27.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Dazu wurde er am 28.10.2015 von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Der Beschwerdeführer gab im Wesentlichen an, dass sich in Bagdad - wo er gewohnt habe - Schiiten angesiedelt hätten und einer seiner Halbbrüder von einem Schiiten mit einem Gewehr im Gesicht und am Auge verletzt worden sei. In seinem Land sei keine Sicherheit mehr und werde auch er von den Schiiten verfolgt, weil er Sunnit sei. Im Falle einer Rückkehr in den Irak habe er Angst um sein Leben.

2. Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge kurz "BFA" genannt) vom 08.03.2018 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass er gemäß § 13 Abs 2 AsylG das Aufenthaltsrechtes im Bundesgebiet wegen Straffälligkeit (§ 2 Abs 3 AsylG) verloren hat.

3. Am 27.03.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem BFA niederschriftlich befragt. Dabei brachte er zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen vor, dass sein Bruder in Bagdad von schiitischen Milizen angeschossen worden und die Situation zwischen den Schiiten und Sunniten eskaliert sei. Weil auf seinen Bruder geschossen worden sei, könne auch auf ihn geschossen werden. Er persönlich sei nicht verfolgt oder bedroht worden.

4. Am 20.04.2018 teilte der Verein Menschenrechte dem BFA mit, dass sich der Beschwerdeführer für die freiwillige Rückreise angemeldet habe.

5. Mit Bescheid des BFA vom 26.04.2018, XXXX, wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß

§ 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 18 Abs 1 Z 2 BFA-VG wurde einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt und gemäß § 55 Abs 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt. Gemäß § 13 Abs 2 Z 3 AsylG hat der Beschwerdeführer sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab 18.12.2017 verloren und wurde gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von 6 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

Das BFA begründete seine abweisende Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer eine ihn konkret treffende Verfolgungshandlung nicht glaubwürdig vorgebracht habe und er lediglich Vermutungen aufgestellt habe, wonach auch er - so wie sein Bruder - angeschossen hätte werden können.

Zudem wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr drohe, die eine Gewährung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Des Weiteren traf das BFA umfassende herkunftsstaatsbezogene Feststellungen zur allgemeinen Lage im Irak. Die Rückkehrentscheidung verletze nicht das Recht auf ein Privat- und Familienleben im Bundesgebiet und würden auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 nicht vorliegen. Die strafrechtliche Verurteilung hätte zum Einreiseverbot geführt. Zudem würden die Voraussetzungen des § 18 Abs 2 Z 1 BFA-VG vorliegen, weshalb einer Beschwerde gegen diese Entscheidungen die aufschiebende Wirkung abzuerkennen war. Aufgrund der Verhängung der Untersuchungshaft am 19.11.2017 habe der Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs 2 Z 1 AsylG sein Aufenthaltsrecht gemäß § 13 Abs 1 AsylG ex lege verloren.

6. Mit Verfahrensanordnungen des BFA vom 27.04.2018 wurde gemäß § 52 Abs 1 BFA-VG dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt und die Verpflichtung zur unverzüglichen oder fristgerechten Ausreise gemäß § 58 FPG sowie zur Inanspruchnahme eines Rückkehrgespräches bis zum 07.05.2018 gemäß § 52a Abs 2 BFA-VG mitgeteilt.

7. Der Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 04.05.2018 ordnungsgemäß zugestellt, wogegen am 30.05.2018 fristgerecht Beschwerde erhoben wurde.

Nach einer Zusammenfassung des bisherigen Verfahrensganges wurde moniert, dass sich das BFA zur Situation im Irak auf unvollständige Länderberichte gestützt habe, weshalb nachfolgend auszugsweise aktuelle Länderfeststellungen - insbesondere zur prekären Situation für Sunniten im Irak - zitiert wurden. Darüber hinaus wurde dargelegt, dass das BFA bei einer Berücksichtigung dieser Länderberichte zu einer anderen Entscheidung und zu dem Schluss hätte kommen müssen, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Irak asylrelevante Verfolgung drohe. Weiters sei die Beweiswürdigung unschlüssig und die Sachverhaltsermittlung mangelhaft. Die behauptete Verfolgung des Beschwerdeführers beruhe nicht nur auf Vermutungen, zumal er dem sunnitischen Islam angehöre und deshalb allen Grund habe anzunehmen, von Schiiten verfolgt zu werden. Dies umso mehr, da bereits sein Bruder angeschossen worden sei. Deshalb wolle der Beschwerdeführer auch nicht freiwillig in den Irak zurückkehren. Zu dem Argument, wonach sich die Familie des Beschwerdeführers noch im Irak aufhalte wurde angemerkt, dass diese im Irak aus Angst vor Verfolgung bereits mehrmals umgezogen sei. Die aufgezeigten Widersprüche des BFA seien konstruiert und willkürlich und habe der Beschwerdeführer ein widerspruchfreies und nachvollziehbares Vorbringen erstattet, weshalb das BFA zu dem Schluss hätte kommen müssen, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat einer Verfolgung ausgesetzt gewesen sei.

Nach allgemeinen rechtlichen Ausführungen zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten wurde erneut dargelegt, dass der Beschwerdeführer im Irak aufgrund seiner Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam einer Verfolgung durch Schiiten ausgesetzt sei und wurde diesbezüglich auch auf Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes verwiesen. Hinsichtlich der Zuerkennung des subsidiären Schutzes wurde noch ausgeführt, dass seitens des BFA schon alleine aufgrund der prekären Sicherheitslage im Irak dem Beschwerdeführer den Status des subsidiäre Schutzberechtigten zuerkennen hätte müssen. Der Beschwerdeführer verfüge zudem über keine finanziellen Mittel und könne sich kein neues Leben im Irak aufbauen. Auch seine Familie könne ihn nicht vor den Schiiten schützen und würde der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Irak in eine hoffnungslose Notlage geraten. Zur Rückkehrentscheidung wurde angemerkt, dass der Beschwerdeführer entsprechend seiner Möglichkeiten versucht habe, sich zu integrieren. Er habe schon viele Freunde in Österreich gefunden, mehrere Sprachkurse besucht und bei Transportarbeiten des Vereins Noah mitgeholfen. Eine Cousine des Beschwerdeführers und deren Familie würden in Steyr leben. Viele Cousins des Beschwerdeführers seien in Deutschland und Schweden aufhältig. Folglich hätte die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig erklärt werden müssen. Die aufschiebende Wirkung hätte dem Beschwerdeführer aus näher dargelegten Gründen nicht aberkannt werden dürfen, weshalb beantragt wurde, diese zuzuerkennen. Zum Einreiseverbot wurde ausgeführt, dass die Rechtmäßigkeit dem Grunde nach bestritten werde sowie in eventu die Dauer des Einreiseverbotes. Mit einer Rückkehrentscheidung müsse nicht zwingend ein Einreiseverbot erlassen werden und wurde hinsichtlich der Dauer des Einreiseverbotes auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes verwiesen (VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237), wonach es für die Begründung und Länge des Einreiseverbotes nicht ausreiche, lediglich auf das im Urteil aufgezeigte Fehlverhalten zu verweisen. Schließlich wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

8. Das Bundesverwaltungsgericht hat der Beschwerde im Rahmen einer durchgeführten Grobprüfung mangels Vorliegen der Voraussetzungen keine aufschiebende Wirkung zuerkannt.

9. Mit Verständigung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.07.2018 wurden dem Beschwerdeführer die aktuellen Länderfeststellungen zum Irak (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak, Stand 04.06.2018) übermittelt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe eine Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen eingeräumt.

10. Am 09.07.2018 wurde dem Bundesverwaltungsgericht ein Schreiben des Bundesministeriums für Inneres an das BFA zur Kenntnis gebracht, in welchem Informationen über die am 26.07.2018 zu erfolgende Abschiebung des Beschwerdeführers auf dem Luftweg nach Bagdad bekanntgegeben werden.

11. In einer Stellungnahme vom 18.07.2018 zu den Länderfeststellungen vom 04.06.2018 wurde unter Anführung verschiedener Passagen der Feststellungen erneut dargelegt, dass der Beschwerdeführer im Irak aufgrund seiner Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam einer Verfolgung durch Schiiten ausgesetzt sei. Zudem wurde auf einen Kurzbericht von Amnesty International über die Situation im Irak während des Jahres 2017 verwiesen, aus welchem hervorgehe, dass Sunniten, die der IS-Mitgliedschaft bezichtigt werden oder die unter dem Verdacht einer Mitgliedschaft stehen, auch von sunnitischen Einheiten gezwungen würden, ihre Wohnorte zu verlassen und zwangsinterniert werden. Zur Verunmöglichung einer Rückkehr würde deren Hab und Gut zerstört und/oder geraubt und so auch ihre Lebensgrundlage zerstört. Es käme auch vor, dass Regierungskräfte Vertriebene dazu zwingen, in verminte Ruinen ihrer alten Heimat zurückzukehren und sich auf diese Weise tödlicher Gefahr auszusetzen. Eine Kurzreportage von Reuters, in welcher Hilfskräfte und vertriebene Sunniten zu Wort kämen, erwecke den Eindruck systematischer Bedrohung für die oftmals schon mehrfach zu Opfern gewordenen Sunniten. Die für die Sicherheit der irakischen Zivilbevölkerung verantwortlichen Kräfte seien seit Jahren an systematische Gräueltaten gegen die eigene Bevölkerung beteiligt. Auch das irakische Justizministerium sei dort wo es funktioniere oftmals nicht gewillt, Sunniten zu unterstützen. Arabische Sunniten hätten keine innerstaatliche Fluchtalternative. Die Länderberichte der Behörde untermauerten eine Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers als Sunniten. Er habe keine innerstaatliche Fluchtalternative und es möge ihm Asyl in eventu zumindest subsidiärer Schutz zugesprochen werden.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Sachverhalt:

1.1. Feststellungen zur Person

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest.

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Irak, sunnitischen Glaubens und Angehöriger der arabischen Volksgruppe.

Er stammt aus Bagdad und besuchte dort die Grundschule sowie die Mittelschule, welche er nach dem zweiten Schuljahr abgebrochen hat. Zuletzt hat sich der Beschwerdeführer als Hilfsarbeiter in der Baubranche seinen Lebensunterhalt verdient.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Die Mutter des Beschwerdeführers sowie zwei Schwestern, zwei Brüder und zwei Halbbrüder des Beschwerdeführers leben nach wie vor im Irak. Ein Bruder des Beschwerdeführers war ebenfalls als Asylwerber in Österreich aufhältig und kehrte nach dem negativen Ausgang des Asylverfahrens freiwillig in den Irak zurück. Der Vater des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. In Österreich lebt eine Cousine des Beschwerdeführers mit deren Familie. Mit dieser besteht kein gemeinsamer Wohnsitz. In Deutschland und Schweden leben mehrere Cousins des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer war in Österreich nie legal erwerbstätig, lebt von Leistungen der Grundversorgung für Asylwerber und leidet an keinen lebensbedrohenden Krankheiten. In der Asylwerberunterkunft hat der Beschwerdeführer ehrenamtlich bei Transporttätigkeiten mitgeholfen.

Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich Deutschkurse, legte bisher aber keine Deutschprüfung ab und verfügt über keine nennenswerten Deutschkenntnisse. Er ist nicht Mitglied in einem Verein und hat in Österreich auch keine Ausbildung absolviert. Er verfügt in Österreich über einen Freundeskreis.

Am 18.12.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Landesgericht Innsbruck wegen

§ 241e (3) StGB, § 229 (1) StGB, § 142 (1) StGB und § 135 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von drei Jahren (davon 2 Jahre bedingt, Probezeit 3 Jahre) verurteilt und befand sich von 19.11.2017 bis 19.06.2018 in Haft.

1.2. Länderfeststellungen

Auszugsweise werden aus den herangezogenen Länderfeststellungen insbesondere folgende Feststellungen explizit angeführt:

Aktuelle Sicherheitslage

Die Rückeroberung Tal-Afars verzögerte sich zunächst auf Grund der Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen teilnehmenden Akteuren. Vom Iran gestützte schiitische Milizen drängten darauf, eine Rolle bei der Eroberung der Stadt zu spielen, was die Türkei und die USA, sowie auch Premierminister Abadi zu verhindern versuchten. Bei der am 20. August begonnenen Tal-Afar-Offensive nehmen die PMF-Milizen trotz vorangehender Konzessionen gegenüber Abadi nun doch teil (WI 22.8.2017; ISW 26.6.2017; AA 7.2.2017). Luftangriffe auf Tal-Afar werden schon seit längerer Zeit von der Anti-IS-Allianz und der irakischen Luftwaffe durchgeführt. Inzwischen gibt es erste Berichte, nach denen der IS Bewohner aus dem Bezirk Tal-Afar in die Stadt treibt, um sie als Schutzschilde zu verwenden, ähnlich wie er das auch bei der Mossul-Offensive betrieben hatte (Harrer 20.8.2017). Für die schiitischen Milizen ist Tal-Afar ein besonders wichtiges Ziel. Im Gegensatz zum sunnitisch-dominierten Mossul gab es dort vor der Eroberung durch den IS einen signifikanten schiitischen Bevölkerungsanteil und die Stadt war die nördlichste Hochburg der Milizen, die sie nun zurückerobern möchten, und sich darüber hinaus für die seit 2005 durch djihadistische sunnitische Gruppen verübten Verwüstungen rächen wollen (17.7.2017). Ebenso gab es Befürchtungen der Türkei (die weiterhin in der Nähe von Mossul mit Truppen präsent ist), denn Tal Afar ist zum Teil eine turkmenische Stadt (Harrer 20.8.2017). Die UNO warnt vor weiterer Gewalt an mutmaßlichen IS-Kollaborateuren, prangert die - insbesondere auch nach der Rückeroberung Mossuls - im ganzen Land stattfindenden Racheakte an und fordert den irakischen Regierungschef Abadi auf, dringend Maßnahmen zur Unterbindung der "Kollektivbestrafung" ganzer Familien zu ergreifen (Standard 17.7.2017).

Bezüglich der Offensive zur Rückeroberung Hawijas gibt es weiterhin Dispute, welche Kräfte das Gebiet betreten werden. Auch hier wird bezüglich schiitischer Milizen und kurdischer Kämpfer befürchtet, dass es zu Racheakten an der sunnitischen Bevölkerung kommen könnte (ICG 22.9.2016), bzw. dass eine Invasion durch nicht-sunnitische Kräfte sogar eine Ausweitung der bewaffneten Kämpfe auf weitere Teile der umstrittenen Gebiete auslösen könnte. Hawija stand in den letzten Jahren im Zentrum mehrfacher und bedeutender sunnitischer Aufstände (Rudaw 17.5.2017).

Nachdem Premierminister Abadi am 31. August 2017 die gesamte Provinz Ninewah für vom IS zurückerobert erklärt hatte (Rudaw 31.8.2017), liegt der Focus nun auf den Provinzen Anbar und Kirkuk. Am 21. September 2017 startete die Operation zur Rückeroberung der in der Provinz Kirkuk/Tameem liegenden Stadt Hawija und deren Umgebung (BAMF 25.9.2017). Bei der Operation nehmen irakische Truppen, sowie schiitische Milizen teil, die kurdischen Peschmerga sind derzeit nicht beteiligt (Al-Jazeera 23.9.2017). Das Gebiet liegt jedoch im von den Kurden für sich beanspruchten Gebiet (Al-Jazeera 27.9.2017). Gleichzeitig findet eine Offensive zur Rückeroberung der Provinz Anbar statt, an der die irakischen Sicherheitskräfte, einschließlich Polizeieinheiten und schiitischer PMF-Milizen (PMF: Popular Mobilization Forces) teilnehmen (Al-Monitor 26.9.2017).

In der Provinz Anbar haben sich irakische Regierungstruppen westlich von Bagdad heftige Gefechte mit dem IS geliefert. Laut Angaben eines irakischen Generals vom 27.9.2017 waren IS-Kämpfer in die Ortschaft al-Tach südlich der Stadt Ramadi sowie in das "Kilometer Sieben" genannte Gebiet westlich davon vorgedrungen (Standard 27.9.2017).

Ab dem 3.11.2017 mit Stand 17.11.2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 Prozent jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welches er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (Telegraph 17.11.2017; IFK 6.11.2017). Das Wüstengebiet nördlich der drei Städte bleibt vorerst weiterhin IS-Terrain. Die Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu jenen Gebieten, bei denen das Halten des Terrains eine große Herausforderung darstellt. (MEE 16.11.2017; Reuters 5.11.2017; BI 13.11.2017). Es stellt sich auch die Frage, wo sich jene IS-Kämpfer aufhalten, die, nicht getötet wurden oder die nicht in Gefängnissen sitzen (Alleine in Mossul gab es vor der Rückeroberung 40.000 IS-Kämpfer). Viele sind in die Wüste geflohen oder in der Zivilbevölkerung untergetaucht. Es gab es auch umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Der IS ist somit nicht verschwunden, nur sein Territorium [mit Einschränkungen s.u.] (Harrer 24.11.2017).

Seit der IS Offensive im Jahr 2014 ist die Zahl der Opfer im Irak nach wie vor nicht auf den Wert der Zeit zwischen 2008 - 2014 zurückgegangen, in der im Anschluss an den konfessionellen Bürgerkrieg 2006-2007 eine Phase relativer Stabilität einsetzte (MRG 10.2017; vgl. IBC 23.11.2017). Von dem Höchstwert von 4.000 zivilen Todesopfern im Juni 2014 ist die Zahl 2016 [nach den Zahlen von Iraq Body Count] auf 1.500 Opfer pro Monat gesunken; dieser sinkende Trend setzt sich im Jahr 2017 fort (MRG 10.2017). Nach den von Joel Wing dokumentierten Vorfällen, wurden in den Monaten August, September und Oktober 2017 im Irak 2.988 Zivilisten getötet (MOI 9.-11.2017). Zu diesen Zahlen gelten die im Länderinformationsblatt Irak in Abschnitt 3.1 erwähnten Einschränkungen und Anmerkungen - kriminelle Gewalt wurde in dieser Statistik nur zum Teil berücksichtigt, Stammesgewalt gar nicht .

Beispielhaft wird im Folgenden eine Grafik angeführt, in der die von einer Sicherheitsfirma dokumentierten Vorfälle, die in Kalenderwoche 45 des Jahres 2017 stattgefunden haben, eingezeichnet sind. Die Grafik stellt jedoch nach Angaben der Quelle nicht das gesamte Ausmaß der Gewalt und der Vorfälle dar. Mehrere Vorfälle, bzw. umfangreiche und länger andauernde Gefechte werden jeweils als ein Vorfall zusammengefasst dargestellt. Darüber hinaus bleiben viele Vorfälle auf Grund von Einschränkungen durch die Regierung und Einschränkungen der Kommunikation undokumentiert:

Im kürzlich veröffentlichten Global Peace Index (GPI)-Bericht wurde der Irak als das "dritt-unfriedlichste" Land der Welt eingestuft. Laut GPI-Bericht bleibt trotz der Zurückdrängung des IS die Stabilität und Sicherheit der Staaten Syrien und Irak weiterhin bedroht (K24 8.8.2017; vgl. Iraqinews 15.11.2017).

Wie auf dieser Karte zu sehen ist, hat die US-geführte Koalition gegen den IS im Irak seit August 2014 mehr als 12.200 Luftschläge durchgeführt (BBC 20.7.2017). Bei diesen Luftangriffen sind hunderte, vermutlich tausende Zivilisten ums Leben gekommen. Die US-geführte Koalition hat zugegeben, dass bei ihren Luftangriffen in Syrien und Irak [die zum größten Teil in Irak, dabei vorrangig in Mossul, aber auch in anderen Gebieten des Nord- und Zentral-Irak stattfanden, s. Karte] zumindest 484 Zivilisten getötet wurden. Unabhängige Beobachter sprechen eher von tausenden, das Transparenz-Projekt Airwars spricht von zumindest 3.800 toten Zivilisten in Irak und Syrien. Der tödlichste Einzel-Luftschlag war jener auf den Mossul-Bezirk al-Jadida am 17.03.2017, bei dem zumindest 101 Männer, Frauen und Kinder getötet wurden (IP 3.6.2017), obwohl das Ziel dieses Angriffes lediglich zwei IS-Scharfschützen waren (Zeit 11.7.2017). Neben den "Bedenken bezüglich möglicher Kriegsverbrechen", die den Kampf gegen den IS in Mossul betreffend geäußert werden (IP 3.6.2017), haben nun auch einige ehemalige US-amerikanische Sicherheitsoffiziere einen warnenden Brief an den US-Verteidigungsminister James Mattis gerichtet, dass "unbeabsichtigte Zivilopfer strategische Rückschläge verursachen können, indem etwa die Kooperation mit lokalen Partnern zurückgehen könnte, oder als Antrieb für militante Propaganda benutzt werden könnten" (NY Times 25.5.2017).

Die Sicherheitslage im Irak hat sich nach der dramatischen Verschlechterung (vor allem durch den Vormarsch des IS ab Mitte 2014) in den Jahren 2015 und 2016 (mit Ausnahme von einigen vom IS zurückeroberten Gebieten) nicht verbessert (AA 7.2.2017). Es herrschen weiterhin Langzeit-Instabilität und Gewalt an mehreren Fronten gleichzeitig (OA/EASO 2.2017). Die territoriale Zurückdrängung des IS im Laufe des Jahres 2016 hat die Zahl der terroristischen Anschläge in den genannten Provinzen nicht wesentlich verringert, in manchen Fällen hat sie sogar eine asymmetrische Kriegführung des IS mit verstärkten terroristischen Aktivitäten provoziert (AA 7.2.2017; vgl. ÖB 12.2016). Schwerpunkte terroristischer Aktivitäten bleiben Bagdad sowie die Provinzen Anbar, Ninewah, ?ala? ad-Din und Diyala im Norden und Westen des Landes (AA 7.2.2017). Teile dieser Provinzen sind weiterhin nicht vollständig unter der Kontrolle der Zentralregierung. Systematische, grausamste Verbrechen des IS an tausenden Menschen bis hin zu Versuchen, ganze Bevölkerungsgruppen zu vernichten, prägen hier das Bild. Rund 17 Millionen Menschen (53 Prozent der Bevölkerung Iraks) sind von Gewalt betroffen (AA 7.2.2017). Zuletzt griff der IS am 4. Juli 2017 das Dorf Imam Gharbi, südlich von Qayyarah, an. Dabei gab es 170 Opfer, einige davon Zivilisten (OCHA 13.7.2017). Dem IS wird auch immer wieder vorgeworfen, Chemiewaffen einzusetzen (Zeit 16.4.2017). Laut World Health Organization (WHO) sind mögliche Fälle von Einsätzen von Chemiewaffen im Irak seit 2016 stark angestiegen, insbesondere in Mossul gibt es regelmäßig solche Berichte. Die WHO bezog jedoch nicht Stellung, ob die Chemiewaffeneinsätze auf das Konto des IS oder das von anderen Gruppen, die in die Kämpfe um Mossul verwickelt sind, gehen (New Arab 26.6.2017).

Neben den sicherheitsrelevanten Handlungen des IS wird auch von Gewalttaten gegen Zivilisten von Seiten der irakischen Sicherheitskräfte und Milizen berichtet (AA 7.2.2017). Die Milizen sind ein wichtiger Teil der Offensiven gegen den IS, gleichzeitig sind sie jedoch stark religiös/konfessionell motiviert, und es gibt zahlreiche Berichte über Racheakte insbesondere an der sunnitischen Bevölkerung (s. dazu ausführlich die Abschnitte zur Menschenrechtslage sowie den Abschnitt zu IDPs). Allgemein ergeben sich zunehmende Spannungen dadurch, dass die (vorwiegend) schiitischen Milizen der PMF zunehmend an Macht und Terrain gewinnen. Im Norden Iraks nimmt das Gebiet, das die Milizen im Zuge der Mossul-Rückeroberungsoffensive unter ihrer Kontrolle haben, stark zu. (BBC 3.12.2016). Im Nordwesten des Irak eroberten pro-iranische schiitische Milizen beispielsweise die Stadt Baadsch im irakisch-syrischen Grenzgebiet vom IS zurück. Weitere Vorstöße erfolgten in Richtung der Stadt Al-Qaim. Der Sprecher der Volksmobilisierungseinheiten, Karim al-Nuri, betonte zudem, dass in Koordination mit dem syrischen Regime der IS auch auf syrischem Boden bekämpft wird. Die neue Dominanz der pro-iranischen Milizen im Grenzgebiet stößt auf heftige Kritik der kurdisch dominierten SDF (Syrian Democratic Forces) in Syrien, die davor warnen syrisches Territorium zu betreten. Ein Einmarsch der schiitischen Milizen würde neue Spannungen zwischen den von den USA unterstützten Kurden und den vom Iran unterstützten schiitischen Milizen schaffen. Premierminister Abadi kritisierte die Aussage des Kommandanten der Volksmobilisierungseinheiten und betonte, dass es gemäß Verfassung Irakern nicht gestattet ist, über die Grenzen des Landes hinaus zu kämpfen (IFK 9.6.2017).

Gewaltmonopol des Staates

Staatlichen Stellen ist es derzeit nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen sowie der IS handeln eigenmächtig. Dadurch sind die irakischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage, den Schutz der Bürger sicherzustellen (AA 7.2.2017). Insbesondere über den Nordwesten des Irak kann die Regierung nicht die Kontrolle behalten und muss sich auf die [vorwiegend] schiitischen Milizen der PMF verlassen. Die zwei wichtigsten davon sind Asaïb Ahl al-Haq (AAH) und die Badr-Brigaden, die beide [effektiv] unter dem Kommando des Iran stehen (Stansfield 26.4.2017). Durch die staatliche Legitimierung der Milizen verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Staatliche Ordnungskräfte können sich teilweise nicht mehr gegen die mächtigen Milizen durchsetzen (AA 7.2.2017).

Sicherheitslage in den zurückeroberten Gebieten

Die prekäre Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten ist v.a. durch IEDs (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt (ÖB 12.2016). Besonders in ethnisch gemischten Gebieten werden nach Befreiungsoperationen eskalierende Kämpfe zwischen verschiedenen Gruppen, die an der Rückeroberung teilgenommen haben, dokumentiert (USDOS 3.3.2017). Auch Angriffe seitens des IS können in diesen Gebieten weiterhin eine Rolle spielen (S. Abschnitt zu IDPs und Flüchtlingen).

Mossul

Mitte Juni begann die letzte Etappe der Mossul-Offensive, die "Säuberung" der Altstadt. Zuvor hatte eine Division den Bezirk al-Schifaa eingenommen und den IS eingekesselt. Ein paar Tage später sprengte der IS Medienberichten zufolge die symbolisch bedeutende Al-Nuri Moschee (in der 2014 das Kalifat ausgerufen wurde), um die Verkündung einer Siegeserklärung durch die ISF (Iraqi Security Forces) zu verhindern. Dennoch erklärten die ISF das Ende des IS-Kalifats. Am 9. Juli 2017 erklärte die irakische Regierung die Schlacht für beendet und Mossul für befreit (IFK 25.7.2017). Dies stellt einen großen strategischen Erfolg im Kampf gegen den IS im Irak dar und wurde in fast neun Monate andauernden Kämpfen unter großen Verlusten erreicht.

Es wird jedoch noch lange dauern, bis in Mossul wieder so etwas wie Sicherheit herrschen wird. Im Ostteil der Stadt, den die Djihadisten Anfang des Jahres an die irakischen Kräfte verloren hatten, haben sie nach amerikanischen Angaben seither hunderte Anschläge/Angriffe durchgeführt. Auch dem Westteil Mossuls, der in Trümmern liegt, droht eine Phase der Instabilität (Meier 12.7.2017). Ein harter IS-Kern hat überlebt und sorgt für Unsicherheit. Wochen, nachdem die irakische Regierung ihren Sieg über den Islamischen Staat verkündet hat, tauchen IS-Kämpfer aus dem Nichts auf und Selbstmordattentäter sprengen sich in die Luft (Harrer 10.8.2017). Der IS versucht weiterhin, Waffen in die Stadt zu schmuggeln, was dadurch begünstigt wird, dass er Rückzugsgebiete (wie z.B. die Hamrim-Berge, oder die Wüste) hat, die von den irakischen Streitkräften nicht kontrolliert werden (Harrer 20.8.2017). Besonders der Westen Mossuls, der zuletzt befreit wurde, wird als so unsicher empfunden, dass Familien daraus fliehen. Andere kommen zwar aus den Flüchtlingslagern zurück, aber nicht wenige davon geben angesichts der Lage bald wieder auf und gehen zurück ins Lager. Nach wie vor werden in der Stadt ältere Massengräber - aber auch neue Tote - gefunden (Harrer 10.8.2017). Im Rahmen erster Bestandsaufnahmen wurde festgestellt, dass etwa ein Drittel der Wohnhäuser und Wohnungen Mossuls zerstört wurde; zudem sind wesentliche Teile der Infrastruktur, z.B. sämtliche Tigrisbrücken, zerstört oder stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Verminungen durch den IS werden die Kampfmittelräumung, wie in Fallujah und Ramadi, über Jahre beschäftigen (BAMF 17.7.2017). Große Teile des Westens der Stadt sind auf Grund dieser Verminungen praktisch unbewohnbar. Die Minen sind teilweise sogar in Leichen platziert, wodurch die Bergung und Beerdigung erheblich erschwert wird und Seuchengefahr besteht (BAMF 10.7.2017). Wie in jeder von Kämpfen verwüsteten Stadt, in der sich eine neue Autorität erst durchsetzen muss, gibt es eine mit der Kriegswirtschaft zusammenhängende Kriminalität. Zuletzt gab es Berichte, dass Elemente schiitischer Milizen in den Ölschmuggel verwickelt sind und mit der Bundespolizei, die Teile der Stadt von der irakischen Armee übernommen hat, über die Kontrolle einer Brücke aneinandergerieten. Die Berichte sind jedoch widersprüchlich, je nach dem, woher sie stammen: Sehen die einen in den (meist) schiitischen Hashd al-Shaabi (Volksverteidigungseinheiten) die Retter des Irak vor dem IS, so sind sie für die anderen nicht viel besser als der IS selbst (Harrer 10.8.2017). Übergriffe auf Zivilisten, bzw. auf mutmaßliche IS-Kollaborateure oder deren Angehörige sind nicht nur durch die Hashd, sondern auch durch die Armee belegt. In den Lagern sowie in den befreiten Gebieten der Stadt kommt es zu Racheakten an Angehörigen von IS-Kämpfern bis hin zum Mord (Harrer 10.8.2017; vgl. BAMF 26.6.2017). Mit IS-Angehörigen wird oft kurzer Prozess gemacht. Auf die irakische Justiz kommt so eine mehrfach schwierige Aufgabe zu. Die Kontrolle über Mossul und über die gesamte Provinz Ninewah ist stark fragmentiert, Zuständigkeiten sind oft unklar und ändern sich ständig (Harrer 10.8.2017).

Anschläge

Der IS verübte im gesamten Land Selbstmordattentate und andere Anschläge, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden. Die Anschläge richteten sich wahllos und teils gezielt gegen Zivilpersonen auf belebten Märkten und öffentlichen Plätzen oder beim Besuch schiitischer Schreine (AI 22.2.2017). VBIEDs (vehicle-borne improvised explosive devices - Autobomben) und Sprengsätze von Selbstmordattentätern wurden auf öffentlichen Märkten, Sicherheitskontrollpunkten und in vorwiegend schiitischen Umgebungen zur Explosion gebracht (USDOS 3.3.2017). V.a. Städte waren im Fokus des IS. Bagdad war dabei am stärksten betroffen und war der Ort, an dem mehr als die Hälfte der gesamten Todesfälle passierten (USDOS 3.3.2017). Der IS stellt trotz der massiven Rückschläge, die er erlitten hat, im Irak weiterhin eine ernstzunehmende Gefahr dar, und seine Transformation zu einer Organisation, die ihre Ressourcen zunehmend für Aufstände, Guerilla-Angriffe und terroristische Anschläge benutzt, hat bereits begonnen (Daily Star 10.7.2017). Im Zusammenhang mit der Zurückdrängung des Kontrollgebietes des IS sieht das Institute for the Study of War (ISW) bereits jetzt ein (Wieder)-Erwachen von anderen aufständischen sunnitischen Gruppen, die durch die Schwächung des IS und den dadurch entstehenden Freiraum wieder Fuß fassen können. Regierungsfeindliche Gruppen formieren sich einerseits, weil die Sunniten im konfessionell geprägten Konflikt von der schiitisch dominierten Regierung weiterhin zunehmend marginalisiert werden, und sie Angst vor den an Bedeutung gewinnenden, vom Iran aus gelenkten schiitischen Milizen haben. Andererseits werden diese Probleme von Seiten radikaler Gruppen wie Al Qaeda und ex-/neo-baathistischen Gruppen wie Jaysh al-Rijal al-Tariqa al-Naqshbandiya (JRTN) benutzt, um sunnitische Bürger für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Diese Gruppen sind - Annahmen des Institutes for the Study of War zufolge - bereits jetzt zunehmend für Anschläge im Irak verantwortlich (ISW 7.2.2017). Terroristische Organisationen sind im gesamten Irak weiterhin imstande tödliche Anschläge durchzuführen. Heimische Terrororganisationen sind dabei für den Großteil der Anschläge verantwortlich und sind in den meisten Fällen religiösen oder politischen Organisationen zuordenbar. Zu diesen Gruppen gehören neben dem (sunnitischen) IS auch die Peace Brigades von Muqtada al Sadr (schiitisch), sowie die ebenfalls schiitischen Gruppen Asa'ib Ahl al-Haq (AAH) und Kata'ib Hizballah (OSAC 1.3.2017).

[...]

Bagdad

Obwohl der IS Bagdad [kontrollgebietsmäßig] nie erreicht hat, verzeichnete die Hauptstadt laut Angaben der UN jeweils entweder die höchste oder die zweithöchste - nach der Provinz Ninewa - Anzahl an zivilen Todesopfern. Um ein Beispiel zu nennen: UNAMI berichtet, dass im Februar 2017 120 Zivilisten getötet und 300 verletzt wurden. In demselben Monat im Jahr 2016 war Bagdad der am stärksten betroffene Bezirk, UNAMI berichtete von 277 Todesopfern und 838 Verletzten. (Update: Für den Monat Oktober 2017 berichtet UNAMI 177 zivile Opfer (38 Tote, 139 Verletzte). Wichtig ist, anzumerken, dass diese Zahlen ausschließlich verifizierte Opfer inkludieren und als das absolute Minimum gesehen werden müssen [Anm.: Es gelten die in Abschnitt 3.1 des LIB Irak getätigten Aussagen und Anmerkungen]. Zum Beispiel beinhalten sie auch nicht jene Opfer, die in manchen Teilen der Stadt regelmäßig tot aufgefunden und geborgen werden (MRG 10.2017; UNAMI 1.11.2017). Nach wie vor kommt es in Bagdad täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zivilen Opfern (Wing 9.-11.2017; vgl. IBC 28.2.2017). Laut Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes ist in Bagdad weiterhin mit schweren Anschlägen insbesondere auf irakische Sicherheitsinstitutionen und deren Angehörige, auf Ministerien, Hotels, öffentliche Plätze und religiöse Einrichtungen zu rechnen (AA 23.11.2017). Für die fragile Sicherheitssituation in der Hauptstadt gibt es zahlreiche Gründe. Abgesehen davon, dass es ein attraktives Ziel für Anschläge ist, beherbergten und beherbergen die Gebiete rund um Bagdad historisch entstandene Terrorzellen, u.a. von Al-Qaeda und dem IS. Dies ist insbesondere in der Nachbarprovinz Anbar im Westen, sowie im Bezirk Jurf al-Sakhar in der Provinz Babil der Fall. Dazu kommen die äußeren Bezirke Bagdads, dem sogenannten "Bagdad-Belt", der aus spärlich besiedelten ländlichen Gegenden besteht, in denen sich bewaffnete Gruppen leicht verstecken können.

Die Acht-Millionenmetropole Bagdad hat eine höhere Kriminalitätsrate als jede andere Stadt des Landes. Hauptverantwortlich dafür ist der schwache staatliche Sicherheitsapparat sowie die schwache Exekutive. Seit dem Krieg gegen den IS verblieb in Bagdad aufgrund von Militäreinsätzen in anderen Teilen des Landes phasenweise nur eine geringe Zahl an Sicherheitspersonal. Da große Teile der Armee im Sommer 2014 abtrünnig wurden, sind zum Wiederaufbau der Armee mehrere Jahre nötig. Gleichzeitig erschienen bewaffnete Gruppen, vor allem Milizen mit Verbindungen zu den 'Popular Mobilization Forces' (PMF), auf der Bildfläche, mit divergierenden Einflüssen auf die Stabilität der Stadt. Der Zusammenbruch der Armee führte zusätzlich zu einem verstärkten Zugang und zu einer größeren Verfügbarkeit von Waffen und Munition. Dazu kommt die Korruption, die in allen Einrichtungen des Sicherheitsapparates und der Exekutive herrscht. Trotz dieser Probleme gibt es aktuell eine Verbesserung der Situation, die sich auch auf die Meinung der Bewohner über den irakischen Gesetzesvollstreckungsapparat auswirkt. Obwohl konfessionell bedingte Gewalt in Bagdad existiert, ist die Stadt nicht in gleichem Ausmaß in die Spirale der konfessionellen Gewalt des Bürgerkriegs der Jahre 2006-2007 geraten. Stattdessen kommt es zu einem Anstieg der Banden-bedingten Gewalt (Bandenkriege), die meist finanziell motiviert sind, in Kombination mit Rivalitäten zwischen Sicherheitskräften/-akteuren (MRG 10.2017).

Terrorattacken:

Terrorattacken werden meist mit verschiedenen Arten von IEDs (Improvised Explosive Devices) ausgeführt, inklusive am Körper getragene ('body-born' oder BBIEDs, in Fahrzeugen transportierte ('vehicle-borne' oder S/VBIEDs) und unter Fahrzeugen befestigte Sprengfallen ('under-vehicle-borne' oder UVBTs). Dabei handelt es sich um typische Taktiken des IS. Sie zielen dabei auf große Menschenansammlungen wie z.B. auf Märkten, in Einkaufszentren und Moscheen ab, wo der Kollateralschaden maximiert werden kann. Auch wenn diese Attacken alle Teile der Stadt treffen können, sind [ethno-religiös] gemischte Gebiete besonders gefährdet. Auch werden Kontrollpunkte regelmäßig angegriffen mit dem Ziel Sicherheitskräfte zu schwächen. Wegen des hohen Verkehrsaufkommens werden an den Kontrollpunkten selten sorgfältige Fahrzeugdurchsuchungen durchgeführt, weshalb das Problem schwer einzudämmen ist (MRG 10.2017).

Es sollte auch erwähnt werden, dass UVBTs besonders häufig verwendet werden, um Individuen zu attackieren. Diese Attentate können durch persönliche oder stammesbezogene Auseinandersetzungen motiviert sein, in spezifischen Fällen sind sie politisch motiviert.

Kidnappings und Entführungen:

Kidnappings und Entführungen kommen überall in Bagdad vor, unterscheiden sich aber in Häufigkeit und Art der Opfer. Man kann generell zwischen finanziell motivierten Entführungen und denen, die politisch oder persönlich motiviert sind, unterscheiden. Während erstere von kriminellen Gangs begangen werden, werden die politisch oder persönlich motivierten von bewaffneten Gruppen oder Individuen ausgeführt. Geschätzte 65-75 Prozent können als kriminelle Akte kategorisiert werden, während zwischen einem Viertel und einem Drittel als politisch oder als Folge von persönlichen Auseinandersetzungen gesehen werden können. Die zentralen und relativ wohlhabenden Bezirke Karkh und Rusafa zeigen die höchsten Zahlen an Kidnappings und sind für etwa die Hälfte der dokumentierten Fälle des gesamten Gouvernements verantwortlich (MRG 10.2017).

Obwohl die offiziellen Daten nicht veröffentlicht wurden zeigt eine Aufzeichnung des Innenministeriums, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 2016 in Bagdad zumindest 700 Kidnappings stattgefunden haben (MRG 10.2017).

Allerdings können sich diese in vielen Fällen überschneiden. Es wurde zum Beispiel berichtet, dass schiitische Milizen Kidnappings und Erpressungen als einkommensgenerierende Aktivitäten einsetzen. Während es sich dabei um einen kriminellen Akt handelt, kann zusätzlich auch ein politisches oder religiöses Motiv dahinter stehen. Milizen haben z.B. Mitglieder anderer Gruppen entführt und verschleppt. Opfer der von den Gruppen durchgeführten Kidnappings sind tendentiell eher Sunniten als Schiiten. Es ist auch häufig, dass Milizen Kidnappings in Gegenden, die nicht unter ihrer eigenen Kontrolle stehen, ausführen, etwa um ihre Reputation in den von ihnen kontrollierten Gebieten nicht aufs Spiel zu setzen (MRG 10.2017).

Da es zu Protesten in der Bevölkerung kam, und zu Forderungen an den Staat, Maßnahmen zu ergreifen, wurde in den letzten zwei Jahren das Thema Kidnappings in der Öffentlichkeit diskutiert. Immer wieder kam es zu Wellen von Entführungen, die gegen bestimmte Professionen und Gruppen der Gesellschaft gerichtet waren. Anfang 2017 tauchten Berichte auf, dass Sicherheitskräfte eine kriminelle Gruppe zu identifizieren suchten, die auf die Entführung von Kindern in der Gegend um Bagdad al-Jadida spezialisiert war. Im August 2017 veröffentlichte Niqash einen Artikel über eine vor Kurzem vorgefallene Serie an Kidnappings, die gegen Ärzte und medizinisches Personal gerichtet waren. Diese wurden von kriminellen Banden durchgeführt, aber auch von Stämmen, die Wiedergutmachung für Verwandte forderten, die nicht behandelt werden konnten oder die im Spital verstorben waren. Im Mai 2017 wurde eine Gruppe von Studenten und Anti-Korruptions-Aktivisten gekidnappt, angeblich von einer Miliz. Dennoch war einer der meist diskutierten Fällen die Entführung von Afrah Shawqi, einem Journalisten, der nur wenige Tage davor einen Artikel im Al-Sharq al-Awsat über die Straffreiheit von schiitischen Milizen im Irak veröffentlicht hatte. In beiden Fällen wurden die Opfer freigelassen, nachdem großer öffentlicher Druck auf den Premierminister selbst, sowie auf das Innenministerium ausgeübt worden war. Regierungsbeamte und andere politische Führungskräfte wurden ebenso ins Visier genommen wie z.B. bei jenem Fall eines hohen Beamten des Justizministeriums, der im September 2015 gekidnappt wurde, oder jenem Fall eines sunnitischen Stammesführers, dessen Entführung und Ermordung Anlass zu einer Kampagne von Amnesty International wurde (MRG 10.2017).

All diese Fälle haben Regierung und Sicherheitsdienste gezwungen, sich aktiver diesem Problem zu widmen. In vergangenen Jahren, sowie auch in den Jahren 2006-2007, war die Exekutive beinahe gänzlich außerstande, mit dieser Art der Gewalt umzugehen. Heute spricht Premierminister Abadi, der sich manchmal persönlich in Fälle involviert, lautstark über die Bedenken der Bevölkerung, und unternimmt Schritte, um die Kapazitäten der Gesetzesvollstreckung auszuweiten. Dennoch werden Milizen in erfolgreichen Fällen - wenn es Sicherheitskräften gelingt, Banden zur Anklage bringen - selten erwähnt. Es ist praktisch unmöglich einzuschätzen, wie oft die von den Sicherheitskräften Verhaftungen Mitglieder von Milizen einschließen, da Fälle von Kidnappings mit Lösegeldforderungen einfach als kriminelle Akte kategorisiert werden. Dies kann nur durch anekdotische Hinweise und durch Zeugenaussagen belegt werden. Allerdings besteht das Problem, dass die Opfer oft selber nicht wissen woher die Bedrohung kommt oder wer der Empfänger des geforderten Lösegeldes ist (MRG 10.2017).

Schießereien mit Handfeuerwaffen:

Was die Verwendung von Handfeuerwaffen betrifft, können generelle Muster zwischen dem zentralen Gebiet und der Peripherie der Provinz Bagdad unterschieden werden. Morde und Anschläge auf Zivilisten sind innerhalb der Stadt Bagdad weiter verbreitet, die Bezirke Karkh, Rusafa und Adhamiya sind diesbezüglich überrepräsentiert. Diese Anschläge richten sich z.B. gegen Geschäftsbesitzer, Anwälte sowie Angestellte der Regierung. Schießereien kommen auch in Verbindung mit Raubüberfällen vor. Zusätzlich stehen viele Tötungen in Verbindung mit Kidnappings, bei denen das Lösegeld nicht gezahlt wurde.

Im Gegensatz dazu sind Vorfälle mit Handfeuerwaffen im 'Bagdad Belt' üblicherweise gegen Sicherheitsdienste wie die Iraqi Security Forces (ISF) und Mitglieder von sunnitischen und schiitischen Milizen gerichtet, und finden meistens bei Kontrollpunkten statt. Dies kann man in Abu Ghraib, Mahmudiya und Tarmiya beobachten. Diese Gebiete verzeichnen auch eine große Anzahl an Schießereien in Verbindung mit stammesbezogenen Auseinandersetzungen (MRG 10.2017).

Konfessionalismus und Diskriminierung:

Konfessionalismus und Diskriminierung sind weiterhin ein weit verbreitetes Phänomen in Bagdad, wenn sie auch nicht dasselbe Ausmaß an Gewalt erreicht haben, der während des konfessionellen Krieges in den Jahren 2006-2007 dokumentiert wurde. Dies anzumerken, ist von wichtig, weil von vielen angenommen wurde, dass durch das Ausbreiten des IS ab 2014 frühere Muster an Gewalt nach Bagdad zurückkehren würde. Das hat er auch, allerdings in einem geringeren Ausmaß. Wie diverse Menschenrechtsberichte gezeigt haben, fachen Terrorattacken des IS in Bagdad viele Arten an Vergeltungsmaßnahmen gegen sunnitische Zivilisten an, die vorwiegend von schiitischen Milizen begangen werden. Diese beinhalten Kidnappings, Ermordungen sowie ungesetzlichen Freiheitsentzug. Dennoch ist der offensichtlichere Konfessionalismus - bei dem sunnitische Bewohner Kontrollpunkte nicht passieren konnten ohne namentlich aufgerufen zu werden und manchmal schikaniert oder festgenommen wurden - heute relativ selten. Dies trifft allerdings nicht auf sunnitische Internvertriebene (IDPs) zu, die in der Provinz Bagdad regelmäßig diskriminiert werden. Nachdem der IS in großen Teilen von Anbar und Salah al-Din die Macht ergriffen hatte, flohen Tausende nach Bagdad. In vielen Fällen war es ihnen von vorne herein nie gestattet, in die Provinz einzureisen. Die, die es dennoch geschafft haben, berichten von extrem eingeschränkter Reisefreiheit (da Personalausweise aufzeigen in welchem Gouvernement sie ausgestellt wurden), von Schwierigkeiten, als Gebietsfremde des Gouvernements an wesentliche Dokumente zu gelangen, sowie von Schikanen aufgrund des Pauschalverdachts der IS-Zugehörigkeit. Für Internvertriebene besteht, aufgrund fehlender Netzwerke für persönliche Unterstützung, auch ein größeres Risiko, entführt zu werden.

Eine weitere Seite des Konfessionalismus sind Verhaftungen, oft willkürlich, welche meist in Verbindung mit einer Anklage wegen Terrorismus nach Artikel 4 vollzogen werden und beinahe ohne Ausnahme Sunniten betreffen. Diese Festnahmen sind nach Terroranschlägen häufig, wenn Sicherheitsdienste Durchsuchungsaktionen durchführen, um Mitglieder oder Unterstützer des IS ausfindig zu machen (MRG 10.2017).

Kleinere Gemeinschaften, inklusive Minderheiten und solche, die sich ineiner Minderheitssituation wiederfinden, stehen unter signifikantem Risiko. Die Anzahl an Christen in Bagdad nimmt unter dieser Bedrohungssituation weiterhin ab, wenn auch kleine christliche Gemeinden in gemischten Bezirken bestehen bleiben; so auch in Karkh und in Karrada und Palästina. Faili-Kurden (schiitische Kurden), einschließlich jener, die in Sadirya und im südlichen Teil Bagdads leben, haben unter Bombenangriffen gelitten und berichten von erhöhten Spannungen, die in Zusammenhang mit dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum stehen. Palästinenser, die vorwiegend in al-Baladiyat leben, sind diesen gezielten Attacken ebenso ausgesetzt und bleiben weiterhin besonders gefährdet (MRG 10.2017).

Sicherheitskräfte in der Provinz Bagdad

Irakische Sicherheitskräfte (ISF):

Die ISF werden in Bagdad vom 'Baghdad Operations Command' (BOC) repräsentiert, Geheimdienste und irakische Polizeieinheiten, die im Bagdad Gouvernement agieren, sind dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der BOC besteht aus mehreren Brigaden, die der 6., 11. und 17. Abteilung der irakischen Armee angehören, sowie aus spezialisierten Militär- und Polizei-Einheiten, inklusive Bereitschaftspolizei und Schutzeinheiten für Diplomaten. Die irakische Armee ist gemeinsam mit staatlichen und lokalen Polizeieinheiten für die Sicherheit verantwortlich. Zusätzlich zu regulären Sicherheitsfunktionen, sind die ISF gemeinsam mit Einheiten, die in Verbindung zum Innenministerium stehen, für die Überprüfung von Internvertriebenen und Rückkehrern und damit in Zusammenhang stehende Regulierungen zuständig (MRG 10.2017).

Polizeikräfte werden oft als Erweiterung der Badr-Partei gesehen. Darüber hinaus wird das Polizeikorps, abgesehen von Teilen der Staatspolizei, als schwer korrupt erachtet. In wenigen Ausnahmen sind Offiziere der Staatspolizei ehemalige Offiziere der Armee und werden als weniger korrupt und konfessionalistisch gesehen. Die meisten sind allerdings durch politische Einflussnahme und Vereinbarungen verschiedener Parteien an ihre Position gelangt (MRG 10.2017).

Im Allgemeinen vertraut die Bevölkerung eher der Armee als der Polizei. Die Mehrheit der Bewohner Bagdads, die in einer Umfrage einer NGO befragt wurden, ob sie in einer Notsituation die Polizei kontaktieren würden, sagten sie würden erst versuchen, das Problem selbst zu beheben. Knapp unter 50 Prozent meinten, sie würden der Polizei unter keinen Umständen Bericht erstatten. Im Vergleich dazu:

über 70 Prozent derer, die in Gebieten leben, in denen die Armee für die Sicherheit verantwortlich ist, gaben an, sie würden, wenn nötig, ihre lokalen Sicherheitskräfte kontaktieren. In derselben Umfrage wurden Bewohner gefragt, ob sie jemals Bestechungsgeld gezahlt hätten, um Unterstützung von offiziellen Sicherheitskräften zu erhalten, was 30 Prozent der Befragten bejahten. Zuletzt wurden Bewohner gefragt ob sich die Sicherheits-Situation in Bagdad verbessern oder verschlechtern würde, worauf beinahe 70 Prozent antworteten, das sie sich verbessere (MRG 10.2017).

Islamischer Staat (IS):

Der IS konnte Mitte 2014 Gebiete im Provinz Bagdad nicht unter seine Kontrolle bringen. Allerdings hat sich IS-Aktivität mehrmals vom angrenzenden Provinz Anbar in den westlichen Bezirk Abu Ghraib ausgeweitet. Teile des 'Bagdad-Belt' sind historisch gesehen Unterstützungsgebiete des IS, welche IS-Attacken in zentraler gelegenen Gebieten Bagdads ermöglichen (MRG 10.2017).

In der Provinz Bagdad beschränken sich die Aktivitäten des IS vor allem auf "unkonventionelle Attacken" gegen Zivilisten und hochrangige Opfer - in erster Linie durch die Verwendung von IEDs (MRG 10.2017).

Popular Mobilization Forces (PMF):

[Erläuterungen zu den PMF siehe auch Länderinformationsblatt Irak Abschnitt 3.2.2]

Während die PMF generell auf Schlachtfeldern quer durch das Land eingesetzt wurden, bewahren einige eine signifikante Präsenz in Bagdad. Die älteren und größeren [überwiegend schiitischen] Milizen sind jene, die vorwiegend als aktive Gruppen einen Teil der Sicherheitskräfte der Stadt repräsentieren. [...] Sunnitische Milizen kommen in der Stadt Bagdad nicht vor, aber sehr wohl in manchen Teilen des 'Bagdad-Belt', besonders in den Bezirken, die an Anbar und das Gouvernement Salah al-Din grenzen, inklusive Taji, Tarmiya und Abu Ghraib. Auf lokaler Ebene agieren PMF-Einheiten parallel und oft im Konflikt mit den ISF. Bewaffnete Konflikte zwischen ISF und PMUs, wenn auch selten, wurden im Gouvernement Bagdad beobachtet. Während die PMF weitläufig von der schiitischen Bevölkerung unterstützt werden, wurden sie beschuldigt, Menschenrechtsverletzungen gegen sunnitische Zivilisten in Gebieten begangen zu haben, die vom IS zurückerobert wurden, - wie von diversen Organisationen wie z.B. Human Rights Watch, Amnesty International und Minority Rights Group dokumentiert wurde. Berichterstattung dieser Art tendiert dazu, sich auf die Gouvernements zu konzentrieren, in denen in den letzten zwei Jahren Militäreinsätze stattgefunden haben - wie in etwa in Anbar, Ninewa und Salah al-Din - sowie auf Gebiete, in denen außer Frage steht, dass Milizen ungestraft agierten. Aufgrund dessen werden Menschenrechtsverletzungen innerhalb des Gouvernements Bagdad nicht so eingehend verfolgt (MRG 10.2017).

Im Folgenden werden einige Beispiele der wichtigsten PMF-Milizen aufgezählt, die in Bagdad operieren: Badr-Organisation, Asaib Ahl al-Haq, Saraya al-Salam, Saraya al-Khorasani, Kataib Hizbullah (MRG 10.2017). Anm.: Die Milizen sind in Abschnitt 3.2.2 des LIB näher beschrieben.

Sicherheitslage in Bagdad

Die terroristischen Aktivitäten der letzten Jahre setzten sich im Jahr 2016 fort, eine besondere Rolle spielten dabei die Anschläge des IS, insbesondere auf Städte. Bagdad war dabei am meisten betroffen, indem dort mehr als der Hälfte der aller Todesfälle verzeichnet wurden. UNAMI berichtet von nahezu täglichen Attacken mit improvisierten Sprengfallen (IEDs) von Jänner bis Oktober. Der IS führte insbesondere Angriffe auf Zivilisten in jenen Vierteln Bagdads aus, die mehrheitlich schiitisch sind. Der diesbezüglich größte Angriff des Jahres 2016 fand am 3. Juli statt. Dabei wurden im schiitisch dominierten Viertel Karrada 292 Zivilisten getötet und hunderte verletzt (USDOS 3.3.2017). Eine gewisse Sicherheit ist in Bagdad lediglich in der "grünen" internationalen Zone (Green Zone) im Zentrum der Stadt gewährleistet (ÖB 12.2016). Die Anschläge des IS finden dabei zunehmend auf Märkten und in Wohngegenden statt, der IS zielt dabei vorwiegend auf Zivilisten ab (UNAMI 1.2.2017).

Milizen und konfessioneller Konflikt

Die Vorstöße des IS im Nord- und Zentralirak 2014 und Anfang 2015 sowie das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen haben dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer in vielen Gegenden die Macht an sich gerissen haben, die Kriminalität zugenommen hat und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht wurden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad (UNHCR 14.11.2016). Die PMF-Milizen, die ursprünglich entstanden sind, um den IS zu bekämpfen [andere gab es allerdings auch schon vor dem IS], verrichten nun in den Stadtvierteln von Bagdad Polizeiarbeit. Dadurch konkurrieren sie mit der regulären Polizei, missachten die Gesetze und verhalten sich oft eher wie mafiöse Gruppen. Im September 2016 kam es im Zafaraniyah-Viertel sogar zu einem Kampf zwischen schiitischen Milizen und der örtlichen Polizei. Die Milizen erschweren zunehmend die Arbeit der lokalen Polizeikräfte. Führungskräfte der Polizei sind gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befänden sich überhaupt unter Polizeikontrolle. Die meisten Stadtviertel von Bagdad haben einen Stützpunkt, zumeist in Form eines Büros, der zu der jeweiligen Miliz gehört, die in dem Teil der Stadt präsent ist (manchmal sind auch mehrere Milizen in einem Viertel präsent). Laut Angaben eines Bagdader Polizisten könne man die mutmaßlichen Rechtsverletzungen der Milizen nicht ahnden; Es käme auch zu Straßenkämpfen zwischen den Milizen und die Polizei müsse neutral bleiben und würde daher nicht in die Kämpfe eingreifen (Niqash 19.1.2017).

Offiziell ist nach wie vor das sogenannte "Baghdad Operations Command" (BOC) für die Sicherheit in der Stadt zuständig. Es umfasst etwa 70.000 Mitglieder, die aus Soldaten der regulären Armee, der Militärpolizei und der normalen Polizei sowie aus Geheimdiensten bestehen. Viele Bewohner haben jedoch den Eindruck, dass das BOC nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zu erfüllen (Niqash 19.1.2017). Daher gibt es den Ruf danach, dass die PMF-Milizen auch offiziell für die Sicherheit zuständig sein sollen, bzw. den Druck, auch von Seiten verschiedener Parlamentsmitglieder, die Milizen stärker in Bagdads Sicherheitskonzept einzubinden, oder ihnen sogar die Sicherheitsagenden komplett zu übergeben und das BOC aufzulösen (IFK 25.7.2017; vgl. Niqash 19.1.2017). Problematisch werden diese Entwicklungen v.a. auch auf Grund der Tatsache gesehen, dass die PMF-Milizen konfessionell sehr einseitig (schiitisch) aufgestellt sind, und einige von ihnen direkt mit dem iranischen Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei affiliiert sind [sowie auf Grund der von ihnen im Irak begangenen Menschenrechtsverletzungen -

s. Abschnitt Menschenrechtslage] (Al-Monitor 9.6.2017).

Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen (UNHCR 14.11.2016). In Bagdad wurde gemeldet, dass sunnitische Binnenvertriebene gedrängt wurden, aus schiitischen und gemischt sunnitisch-schiitischen Wohngebieten auszuziehen (UNHCR 14.11.2016). Auch gewaltsame Vertreibungen von Sunniten aus mehrheitlich von Schiiten bewohnten Vierteln Bagdads kamen laut dem Leiter des Sicherheitskomitees des Provinzrates Bagdad vor. Zum Teil würde es dabei weniger um konfessionell motivierten Hass gehen, sondern darum, die Grundstücke der vertriebenen Familien übernehmen zu können (IC 1.11.2016). Laut Berichten begehen die PMF-Milizen in Bagdad immer wieder Kidnappings und Morde an der sunnitischen Bevölkerung (die nicht untersucht werden), oder sie sprechen Drohungen dieser gegenüber aus (HRW 27.1.2016; Al-Araby 17.5.2017). Laut dem Parlamentsmitglied Abdul Karim Abtan langen bezüglich der Welle von konfessionell motivierten Entführungen und Morden fast täglich Berichte ein; er beschuldigt die Polizei, die Vorfälle zu ignorieren und den Milizen zu erlauben, straffrei zu agieren (Al-Araby 17.5.2017). Viele Familien waren in Bagdad durch den konfessionellen Konflikt dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und sie siedelten sich zunehmend entlang konfessioneller Grenzen wieder an (IOM 31.1.2017). Somit sind separate sunnitische und schiitische Viertel entstanden. Bagdad ist weiterhin entlang konfessioneller Linien gespalten (IOM 31.1.2017).

Insbesondere in den Stadtvierteln Ghazaliya, Mansur und Dawudi wurde auch von sunnitischen Moscheen berichtet, die Schikanen von Seiten der PMF-Milizen und der irakischen Sicherheitskräfte ausgesetzt sind. Diese haben Checkpoints vor den Moscheen eingerichtet, an denen sie Kontrollen durchführen. Laut einem Imam käme es fast täglich zu Verhaftungen; meistens erfolge eine Freilassung nach kurzer Zeit, nach der Entrichtung eines Betrages von 2.000 bis 10.000 Dollar (AQAA 14.4.2016).

Proteste

Darüber hinaus kommt es immer wieder zu Protesten in Bagdad, die v. a. mit der regierungskritischen Sadr-Bewegung in Zusammenhang stehen. Bei den im Jahr 2016 stattfindenden Protesten mit tausenden Demonstranten kam es sogar zweimal zur Durchbrechung der Barrieren zur stark befestigten "Green Zone". Dabei kam es auch zu gewaltsamen Reaktionen der Sicherheitskräfte, bei denen letztere auf Demonstranten schossen, Dutzende wurden verletzt. Am 11. Februar 2017 kam es in Bagdad erneut zu Zusammenstößen, bei denen Sicherheitskräfte der schiitisch dominierten Regierung auf schiitische Demonstranten der Sadr-Bewegung schossen, und bei denen es abermals zur Durchbrechung der Green-Zone-Barrieren kam. Dabei wurden mindestens sechs Personen getötet, weitere hunderte wurden verletzt, außerdem wurden dabei Raketen vom Typ Katyusha in die Green Zone geschossen. Gerichtet war die Demonstration v.a. gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik (MEE 12.2.2017, vgl. Standard 13.2.2017; Al-Jazeera 12.2.2017).

Statistiken und Grafiken zur Sicherheitslage im Irak

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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