TE Bvwg Erkenntnis 2018/7/30 L526 2120178-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.07.2018
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Entscheidungsdatum

30.07.2018

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

L526 2120178-2/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M., als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX StA. Irak, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.03.2017, XXXX zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der turkmenischen Volkgruppe und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 04.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Dazu wurde er am 06.06.2015 von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Dabei gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er wegen dem Krieg durch den Islamischen Staat (IS) seinen Bruder verloren habe. Als dieser entführt worden sei, habe der Beschwerdeführer Angst gehabt, ebenfalls zu verschwinden. Im Fall einer Rückkehr in den Irak befürchte der Beschwerdeführer getötet zu werden.

2. Am 16.12.2015 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge kurz "BFA" genannt) niederschriftlich befragt. Dabei brachte er zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen vor, dass er in XXXX gelebt habe und dort am 10.06.2014 der IS gekommen sei, weshalb er mit seiner Familie nach

XXXX geflüchtet sei. Als der IS auch XXXX eingenommen habe, sei der Beschwerdeführer am 03.08.2014 nach Syrien geflüchtet. Im Jahr 2008 sei sein Bruder, welcher Polizist sei, vom IS getötet geworden. Im Jahr 2011 sei ein weiterer Bruder entführt worden und erst nach der Bezahlung eines Lösegeldes in Höhe von USD 25.000,-- wieder freigelassen worden. Nach seiner Ausreise habe der Beschwerdeführer erfahren, dass drei seiner Brüder entführt worden seien bzw. dass einer von einer Klinik auf eine Todesliste geschrieben worden sei. Von den zwei anderen Brüdern wisse der Beschwerdeführer nicht, wo diese seien. Von einem Freund habe der Beschwerdeführer nach seiner Ausreise erfahren, dass seine Familie in einem Flüchtlingslager untergekommen sei. Der Beschwerdeführer selbst sei nie persönlichen Angriffen ausgesetzt gewesen und habe er den Irak aufgrund der Übernahme von XXXX bzw XXXX durch den IS verlassen. Der Beschwerdeführer habe auch auf großen Baustellen für Ämter gearbeitet, weshalb es ebenfalls gefährlich für ihn geworden sei, zumal diese Ämter bombardiert werden würden. Im Falle einer Rückkehr in den Irak befürchte der Beschwerdeführer verloren zu gehen und zu sterben.

4. Mit Bescheid des BFA vom 11.01.2016,XXXX wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß

§ 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG abgewiesen und dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 10.01.2017 erteilt.

Die Erstbehörde traf darin aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben zur allgemeinen Lage im Irak.

Beweiswürdigend wurde vom Bundesasylamt ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keine ihn persönlich treffende Verfolgungshandlungen dargelegt habe. Auf Grund der derzeitigen Lage im Irak seien dem Beschwerdeführer jedoch der Status der subsidiär Schutzberechtigten und gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung zu erteilen gewesen.

5. Mit Verfahrensanordnungen des BFA vom 12.01.2016 wurde gemäß § 52 Abs 1 BFA-VG dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

6. Der Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 15.01.2016 ordnungsgemäß durch Hinterlegung zugestellt, wogegen am 22.01.2016 fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I erhoben wurde.

7. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 09.05.2016, XXXX, wurde der Bescheid des BFA vom 11.01.2016 im angefochtenen Ausmaß aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückverwiesen. Begründend wurde ausgeführt, dass die vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweismittel im angefochtenen Bescheid lediglich kurz erwähnt, jedoch in keinster Weise gewürdigt worden seien. Zudem habe sich das BFA nicht mit der Tötung bzw. Entführung der Brüder des Beschwerdeführers auseinandergesetzt und seien im bekämpften Bescheid keine Feststellungen zur Lage der Minderheiten der Turkmenen im Irak enthalten.

8. Am 02.01.2017 wurde der Beschwerdeführer erneut vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei brachte er zusammengefasst vor, dass sein Name 2012/2013 auf einer Liste gestanden sei, welche bei den Moscheen ausgehängt gewesen seien. Es habe sich dabei um Zettel mit gesuchten Personen, welche bei Behörden gearbeitet hätten, gehandelt. Wer die Liste ausgestellt habe, wisse er nicht. Er vermute, Milizen bzw. der IS hätten diese Listen erstellt und könne man nicht mehr arbeiten, wenn man darauf stehe. Viele Leute die auf solchen Listen gestanden hätten, seien gestorben. Die Brüder des Beschwerdeführers hätten für eine Behörde gearbeitet und sei deshalb die ganze Familie bedroht worden. Dies habe er bisher nicht erwähnt, weil er keine Beweise dafür gehabt habe. Sein Bruder sei Polizist, ein weiterer Bruder und der Beschwerdeführer selber hätten auch für eine Behörde gearbeitet. In erster Linie habe der Beschwerdeführer aber wegen seiner eigenen Tätigkeit auf der Liste gestanden. Schließlich führte der Beschwerdeführer noch aus, dass sein Bruder Ali 2011 vermisst worden sei und nach einer Zahlung von USD 25.000,-- freigelassen worden sei. Im Jahr 2014 sei dieser wieder vermisst worden und wüssten seine Familie und er nicht, wo er sich seither aufhalte. Der Beschwerdeführer selbst sei nicht deshalb ausgereist, weil seine Brüder vermisst worden seien, sondern weil sein Name auf diese List aufgeschienen sei.

9. Mit Bescheid des BFA vom 07.03.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG abgewiesen.

Das BFA traf im angefochtenen Bescheid aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben zur allgemeinen Lage im Irak. Beweiswürdigend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keine gegen ihn gerichtete Bedrohung angegeben habe und er sohin keiner Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe den Irak lediglich aufgrund der Einnahme von XXXX und XXXX</nichtanonym><anonym>XXXX</anonym></person> durch den IS verlassen, weshalb ihm der Status eines Asylberechtigten nicht zuzuerkennen gewesen sei.

10. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 07.03.2017 wurde gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

11. Der bekämpfte Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 09.03.2017 ordnungsgemäß durch Hinterlegung zugestellt, wogegen am 04.04.2017 fristgerecht Beschwerde erhoben wurde.

Nach einer zusammenfassenden Wiedergabe des bisherigen Verfahrensganges wurde moniert, dass sich das BFA nicht näher mit dem konkreten Fluchtvorbringen auseinandergesetzt habe. Es habe nur unsubstantiiert ausgeführt, dass der Name des Beschwerdeführers nicht auf einer Liste gestanden sei, weil er dies nicht bereits am 16.12.2015 vor dem BFA vorgebracht habe. Zudem habe der Beschwerdeführer angegeben, dass er keinerlei persönlicher Bedrohung ausgesetzt gewesen sei. Das BFA verkenne dabei aber, dass es bereits ausreiche, wenn eine Verfolgungshandlung iSd GFK mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten sei (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131). Die Gefahr beziehe sich nicht auf vergangene Ereignisse, sondern erfordere eine Prognose, weshalb sich das BFA im Sinne einer Prognoseentscheidung genauer mit dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers auseinander setzten hätte müssen. Die vom BFA getroffenen Feststellungen seien jedoch mangelhaft und stehe der maßgebliche Sachverhalt nicht fest. Konkrete Feststellungen zur Situation der Turkmenen im Irak seien vom BFA erneut nicht getroffen worden. Die Verfolgung der Turkmenen durch den IS habe bereits systematischen Charakter angenommen und wurde diesbezüglich auszugsweise ein Bericht von USDOS - US Department of State zitiert. Der Beschwerdeführer habe auch dargetan, dass er als Arbeiter am Bau Tätigkeiten für staatliche Behörden ausgeführt habe und seien auch dahingehende Feststellungen unterlassen worden. Zudem enthalte der bekämpfte Bescheid eine falsch einkopierte Niederschrift, weswegen die Beweiswürdigung zum Teil nicht nachvollziehbar sei. Aus der im Bescheid eingefügten Niederschrift gehe nicht hervor, dass der Beschwerdeführer wegen der Liste und nicht wegen seiner Brüder ausgereist sei. Der Beschwerdeführer habe angegeben, dass er und seine Familie wegen seiner Tätigkeit sowie der Tätigkeit seiner Brüder für staatliche Behörden bereits vor der Einnahme ihrer Heimatstadt durch den IS bedroht gewesen seien. Seit 2012/2012 stehe er auch auf einer Liste der Milizen, welche sich später mit dem IS vereint hätten. Infolge der Einvernahme seiner Heimatstadt durch den IS sei der Beschwerdeführer gezwungen gewesen, zu fliehen, wobei der Beschwerdeführer aufgrund seiner Tätigkeit für die Regierung in besonderem Ausmaß exponiert gewesen sei. Im Sinne einer Prognoseentscheidung sei daher davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen von Seiten privater Akteure gedroht hätten. Die in der Vergangenheit gesetzten Verfolgungshandlungen gegen die Familie des Beschwerdeführers seien ein wesentliches Indiz für die Verfolgungsgefahr. Im Weiteren folgen allgemeine rechtliche Ausführungen zur Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten und wurde erneut auf die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Turkmenen sowie zur beruflichen Tätigkeit des Beschwerdeführers hingewiesen. Beim IS handle es sich um einen nichtstaatlichen Akteur und sei der irakische Staat nicht ausreichend schutzfähig und schutzwillig um eine Verfolgungsgefahr genügend zu unterbinden. Diesbezüglich wurden im Weiteren auszugsweise ein Bericht des UNHCR zitiert und die außerordentlich exponierte Stellung des Beschwerdeführers dargelegt, weshalb er sich der Bedrohung nicht durch ein Ausweichen in einen anderen Landesteil entziehen könne. Eine Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative könne aber aufgrund des gewährten subsidiären Schutzes entfallen.

12. Mit Schreiben des BVwG vom 08.06.2018 wurden dem Beschwerdeführer im Rahmen des Parteiengehörs die aktuellen Feststellungen zum Irak (Länderinformationsblatt vom 04.06.2018) übermittelt.

13. Am 25.06.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. In dieser wurde dem Beschwerdeführer die Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen. Zudem wurden ihm die aktuellen Länderinformationen zum Irak ausgehändigt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen eingeräumt. Eine Stelllungnahme ist bis dato nicht eingelangt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Sachverhalt:

1.1. Feststellungen zur Person

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest.

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Irak, sunnitischen Glaubens und Angehöriger der turkmenischen Volksgruppe.

Er wurde in XXXX geboren und lebte ab seinem fünften Lebensjahr in XXXX, wo er die Grundschule besuchte, anschließend den Beruf des Fliesenlegers erlernte und in diesem Beruf auch tätig war. Von 2012 bis 2013 war der Beschwerdeführer in Georgien als Fliesenleger tätig, kehrte danach wieder in den Irak zurück und war bis kurz vor seiner Ausreise wieder als Fliesenleger tätig.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Die Mutter des Beschwerdeführers sowie eine Schwester leben nach wie vor im Irak. Der Vater, zwei Brüder sowie eine Schwester des Beschwerdeführers sind bereits verstorben. Zwei Brüder des Beschwerdeführers leben in der Türkei.

1.2. Länderfeststellungen

Hinsichtlich der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak legt das erkennende Gericht seiner Entscheidung die aktuelle Version der Länderfeststellungen der Staatendokumentation zum Irak (datiert mit 04.06.2018 auf der Basis des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 30.08.2017) sowie den Artikel REACH "Telafar and Surrounding Areas - Rapid Overview of Areas of Return (ROAR) vom April 2018 zu Grunde. Jene Länderfeststellungen wurden auch in Wahrung des Parteiengehörs dem Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung mit 14-tägiger Stellungnahmemöglichkeit (wovon dieser allerdings keinen Gebrauch machte) zur Kenntnis gebracht.

Auszugsweise werden aus den herangezogenen Länderfeststellungen insbesondere folgende Feststellungen explizit angeführt:

Aktuelle Sicherheitslage

Die Rückeroberung Tal-Afars verzögerte sich zunächst auf Grund der Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen teilnehmenden Akteuren. Vom Iran gestützte schiitische Milizen drängten darauf, eine Rolle bei der Eroberung der Stadt zu spielen, was die Türkei und die USA, sowie auch Premierminister Abadi zu verhindern versuchten. Bei der am 20. August begonnenen Tal-Afar-Offensive nehmen die PMF-Milizen trotz vorangehender Konzessionen gegenüber Abadi nun doch teil (WI 22.8.2017; ISW 26.6.2017; AA 7.2.2017). Luftangriffe auf Tal-Afar werden schon seit längerer Zeit von der Anti-IS-Allianz und der irakischen Luftwaffe durchgeführt. Inzwischen gibt es erste Berichte, nach denen der IS Bewohner aus dem Bezirk Tal-Afar in die Stadt treibt, um sie als Schutzschilde zu verwenden, ähnlich wie er das auch bei der Mossul-Offensive betrieben hatte (Harrer 20.8.2017). Für die schiitischen Milizen ist Tal-Afar ein besonders wichtiges Ziel. Im Gegensatz zum sunnitisch-dominierten Mossul gab es dort vor der Eroberung durch den IS einen signifikanten schiitischen Bevölkerungsanteil und die Stadt war die nördlichste Hochburg der Milizen, die sie nun zurückerobern möchten, und sich darüber hinaus für die seit 2005 durch djihadistische sunnitische Gruppen verübten Verwüstungen rächen wollen (17.7.2017). Ebenso gab es Befürchtungen der Türkei (die weiterhin in der Nähe von Mossul mit Truppen präsent ist), denn Tal Afar ist zum Teil eine turkmenische Stadt (Harrer 20.8.2017). Die UNO warnt vor weiterer Gewalt an mutmaßlichen IS-Kollaborateuren, prangert die - insbesondere auch nach der Rückeroberung Mossuls - im ganzen Land stattfindenden Racheakte an und fordert den irakischen Regierungschef Abadi auf, dringend Maßnahmen zur Unterbindung der "Kollektivbestrafung" ganzer Familien zu ergreifen (Standard 17.7.2017).

Bezüglich der Offensive zur Rückeroberung Hawijas gibt es weiterhin Dispute, welche Kräfte das Gebiet betreten werden. Auch hier wird bezüglich schiitischer Milizen und kurdischer Kämpfer befürchtet, dass es zu Racheakten an der sunnitischen Bevölkerung kommen könnte (ICG 22.9.2016), bzw. dass eine Invasion durch nicht-sunnitische Kräfte sogar eine Ausweitung der bewaffneten Kämpfe auf weitere Teile der umstrittenen Gebiete auslösen könnte. Hawija stand in den letzten Jahren im Zentrum mehrfacher und bedeutender sunnitischer Aufstände (Rudaw 17.5.2017).

Nachdem Premierminister Abadi am 31. August 2017 die gesamte Provinz Ninewah für vom IS zurückerobert erklärt hatte (Rudaw 31.8.2017), liegt der Focus nun auf den Provinzen Anbar und Kirkuk. Am 21. September 2017 startete die Operation zur Rückeroberung der in der Provinz Kirkuk/Tameem liegenden Stadt Hawija und deren Umgebung (BAMF 25.9.2017). Bei der Operation nehmen irakische Truppen, sowie schiitische Milizen teil, die kurdischen Peschmerga sind derzeit nicht beteiligt (Al-Jazeera 23.9.2017). Das Gebiet liegt jedoch im von den Kurden für sich beanspruchten Gebiet (Al-Jazeera 27.9.2017). Gleichzeitig findet eine Offensive zur Rückeroberung der Provinz Anbar statt, an der die irakischen Sicherheitskräfte, einschließlich Polizeieinheiten und schiitischer PMF-Milizen (PMF: Popular Mobilization Forces) teilnehmen (Al-Monitor 26.9.2017).

In der Provinz Anbar haben sich irakische Regierungstruppen westlich von Bagdad heftige Gefechte mit dem IS geliefert. Laut Angaben eines irakischen Generals vom 27.9.2017 waren IS-Kämpfer in die Ortschaft al-Tach südlich der Stadt Ramadi sowie in das "Kilometer Sieben" genannte Gebiet westlich davon vorgedrungen (Standard 27.9.2017).

Ab dem 3.11.2017 mit Stand 17.11.2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 Prozent jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welches er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (Telegraph 17.11.2017; IFK 6.11.2017). Das Wüstengebiet nördlich der drei Städte bleibt vorerst weiterhin IS-Terrain. Die Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu jenen Gebieten, bei denen das Halten des Terrains eine große Herausforderung darstellt. (MEE 16.11.2017; Reuters 5.11.2017; BI 13.11.2017). Es stellt sich auch die Frage, wo sich jene IS-Kämpfer aufhalten, die, nicht getötet wurden oder die nicht in Gefängnissen sitzen (Alleine in Mossul gab es vor der Rückeroberung 40.000 IS-Kämpfer). Viele sind in die Wüste geflohen oder in der Zivilbevölkerung untergetaucht. Es gab es auch umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Der IS ist somit nicht verschwunden, nur sein Territorium [mit Einschränkungen s.u.] (Harrer 24.11.2017).

Seit der IS Offensive im Jahr 2014 ist die Zahl der Opfer im Irak nach wie vor nicht auf den Wert der Zeit zwischen 2008 - 2014 zurückgegangen, in der im Anschluss an den konfessionellen Bürgerkrieg 2006-2007 eine Phase relativer Stabilität einsetzte (MRG 10.2017; vgl. IBC 23.11.2017). Von dem Höchstwert von 4.000 zivilen Todesopfern im Juni 2014 ist die Zahl 2016 [nach den Zahlen von Iraq Body Count] auf 1.500 Opfer pro Monat gesunken; dieser sinkende Trend setzt sich im Jahr 2017 fort (MRG 10.2017). Nach den von Joel Wing dokumentierten Vorfällen, wurden in den Monaten August, September und Oktober 2017 im Irak 2.988 Zivilisten getötet (MOI 9.-11.2017). Zu diesen Zahlen gelten die im Länderinformationsblatt Irak in Abschnitt 3.1 erwähnten Einschränkungen und Anmerkungen - kriminelle Gewalt wurde in dieser Statistik nur zum Teil berücksichtigt, Stammesgewalt gar nicht .

Beispielhaft wird im Folgenden eine Grafik angeführt, in der die von einer Sicherheitsfirma dokumentierten Vorfälle, die in Kalenderwoche 45 des Jahres 2017 stattgefunden haben, eingezeichnet sind. Die Grafik stellt jedoch nach Angaben der Quelle nicht das gesamte Ausmaß der Gewalt und der Vorfälle dar. Mehrere Vorfälle, bzw. umfangreiche und länger andauernde Gefechte werden jeweils als ein Vorfall zusammengefasst dargestellt. Darüber hinaus bleiben viele Vorfälle auf Grund von Einschränkungen durch die Regierung und Einschränkungen der Kommunikation undokumentiert:

Im kürzlich veröffentlichten Global Peace Index (GPI)-Bericht wurde der Irak als das "dritt-unfriedlichste" Land der Welt eingestuft. Laut GPI-Bericht bleibt trotz der Zurückdrängung des IS die Stabilität und Sicherheit der Staaten Syrien und Irak weiterhin bedroht (K24 8.8.2017; vgl. Iraqinews 15.11.2017).

Wie auf dieser Karte zu sehen ist, hat die US-geführte Koalition gegen den IS im Irak seit August 2014 mehr als 12.200 Luftschläge durchgeführt (BBC 20.7.2017). Bei diesen Luftangriffen sind hunderte, vermutlich tausende Zivilisten ums Leben gekommen. Die US-geführte Koalition hat zugegeben, dass bei ihren Luftangriffen in Syrien und Irak [die zum größten Teil in Irak, dabei vorrangig in Mossul, aber auch in anderen Gebieten des Nord- und Zentral-Irak stattfanden, s. Karte] zumindest 484 Zivilisten getötet wurden. Unabhängige Beobachter sprechen eher von tausenden, das Transparenz-Projekt Airwars spricht von zumindest 3.800 toten Zivilisten in Irak und Syrien. Der tödlichste Einzel-Luftschlag war jener auf den Mossul-Bezirk al-Jadida am 17.03.2017, bei dem zumindest 101 Männer, Frauen und Kinder getötet wurden (IP 3.6.2017), obwohl das Ziel dieses Angriffes lediglich zwei IS-Scharfschützen waren (Zeit 11.7.2017). Neben den "Bedenken bezüglich möglicher Kriegsverbrechen", die den Kampf gegen den IS in Mossul betreffend geäußert werden (IP 3.6.2017), haben nun auch einige ehemalige US-amerikanische Sicherheitsoffiziere einen warnenden Brief an den US-Verteidigungsminister James Mattis gerichtet, dass "unbeabsichtigte Zivilopfer strategische Rückschläge verursachen können, indem etwa die Kooperation mit lokalen Partnern zurückgehen könnte, oder als Antrieb für militante Propaganda benutzt werden könnten" (NY Times 25.5.2017).

Die Sicherheitslage im Irak hat sich nach der dramatischen Verschlechterung (vor allem durch den Vormarsch des IS ab Mitte 2014) in den Jahren 2015 und 2016 (mit Ausnahme von einigen vom IS zurückeroberten Gebieten) nicht verbessert (AA 7.2.2017). Es herrschen weiterhin Langzeit-Instabilität und Gewalt an mehreren Fronten gleichzeitig (OA/EASO 2.2017). Die territoriale Zurückdrängung des IS im Laufe des Jahres 2016 hat die Zahl der terroristischen Anschläge in den genannten Provinzen nicht wesentlich verringert, in manchen Fällen hat sie sogar eine asymmetrische Kriegführung des IS mit verstärkten terroristischen Aktivitäten provoziert (AA 7.2.2017; vgl. ÖB 12.2016). Schwerpunkte terroristischer Aktivitäten bleiben Bagdad sowie die Provinzen Anbar, Ninewah, ?ala? ad-Din und Diyala im Norden und Westen des Landes (AA 7.2.2017). Teile dieser Provinzen sind weiterhin nicht vollständig unter der Kontrolle der Zentralregierung. Systematische, grausamste Verbrechen des IS an tausenden Menschen bis hin zu Versuchen, ganze Bevölkerungsgruppen zu vernichten, prägen hier das Bild. Rund 17 Millionen Menschen (53 Prozent der Bevölkerung Iraks) sind von Gewalt betroffen (AA 7.2.2017). Zuletzt griff der IS am 4. Juli 2017 das Dorf Imam Gharbi, südlich von Qayyarah, an. Dabei gab es 170 Opfer, einige davon Zivilisten (OCHA 13.7.2017). Dem IS wird auch immer wieder vorgeworfen, Chemiewaffen einzusetzen (Zeit 16.4.2017). Laut World Health Organization (WHO) sind mögliche Fälle von Einsätzen von Chemiewaffen im Irak seit 2016 stark angestiegen, insbesondere in Mossul gibt es regelmäßig solche Berichte. Die WHO bezog jedoch nicht Stellung, ob die Chemiewaffeneinsätze auf das Konto des IS oder das von anderen Gruppen, die in die Kämpfe um Mossul verwickelt sind, gehen (New Arab 26.6.2017).

Neben den sicherheitsrelevanten Handlungen des IS wird auch von Gewalttaten gegen Zivilisten von Seiten der irakischen Sicherheitskräfte und Milizen berichtet (AA 7.2.2017). Die Milizen sind ein wichtiger Teil der Offensiven gegen den IS, gleichzeitig sind sie jedoch stark religiös/konfessionell motiviert, und es gibt zahlreiche Berichte über Racheakte insbesondere an der sunnitischen Bevölkerung (s. dazu ausführlich die Abschnitte zur Menschenrechtslage sowie den Abschnitt zu IDPs). Allgemein ergeben sich zunehmende Spannungen dadurch, dass die (vorwiegend) schiitischen Milizen der PMF zunehmend an Macht und Terrain gewinnen. Im Norden Iraks nimmt das Gebiet, das die Milizen im Zuge der Mossul-Rückeroberungsoffensive unter ihrer Kontrolle haben, stark zu. (BBC 3.12.2016). Im Nordwesten des Irak eroberten pro-iranische schiitische Milizen beispielsweise die Stadt Baadsch im irakisch-syrischen Grenzgebiet vom IS zurück. Weitere Vorstöße erfolgten in Richtung der Stadt Al-Qaim. Der Sprecher der Volksmobilisierungseinheiten, Karim al-Nuri, betonte zudem, dass in Koordination mit dem syrischen Regime der IS auch auf syrischem Boden bekämpft wird. Die neue Dominanz der pro-iranischen Milizen im Grenzgebiet stößt auf heftige Kritik der kurdisch dominierten SDF (Syrian Democratic Forces) in Syrien, die davor warnen syrisches Territorium zu betreten. Ein Einmarsch der schiitischen Milizen würde neue Spannungen zwischen den von den USA unterstützten Kurden und den vom Iran unterstützten schiitischen Milizen schaffen. Premierminister Abadi kritisierte die Aussage des Kommandanten der Volksmobilisierungseinheiten und betonte, dass es gemäß Verfassung Irakern nicht gestattet ist, über die Grenzen des Landes hinaus zu kämpfen (IFK 9.6.2017).

Gewaltmonopol des Staates

Staatlichen Stellen ist es derzeit nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen sowie der IS handeln eigenmächtig. Dadurch sind die irakischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage, den Schutz der Bürger sicherzustellen (AA 7.2.2017). Insbesondere über den Nordwesten des Irak kann die Regierung nicht die Kontrolle behalten und muss sich auf die [vorwiegend] schiitischen Milizen der PMF verlassen. Die zwei wichtigsten davon sind Asaïb Ahl al-Haq (AAH) und die Badr-Brigaden, die beide [effektiv] unter dem Kommando des Iran stehen (Stansfield 26.4.2017). Durch die staatliche Legitimierung der Milizen verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Staatliche Ordnungskräfte können sich teilweise nicht mehr gegen die mächtigen Milizen durchsetzen (AA 7.2.2017).

[...]

Minderheiten

Traditionelle Stammesstrukturen und ethnisch-religiöse Zugehörigkeiten bestimmen die gesellschaftlichen und politischen Loyalitäten bzw. Konfliktlinien. Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60 bis 65% der Bevölkerung ausmachen (AA 7.2.2017), [gemäß CIA-Factbook 55-60 Prozent (CIA 2010)] und vor allem den Süden und Südosten des Landes bewohnen; (arabische) Sunniten (17 bis 22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak (aus dieser Gruppe stammte bis zum Ende der Diktatur von Saddam Hussein 2003 der größte Teil der politischen und militärischen Führung) und die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend sunnitischen Kurden (15 bis 20%). Entlang dieser Linien hat sich auch die Parteienlandschaft gebildet. Angehörige der religiösen Minderheiten, die traditionell besonders im arabisch-kurdischen Grenzgebiet siedelten, haben teilweise eine eigene ethnisch-religiöse Identität bewahrt, betrachten sich häufig aber auch als Kurden oder Araber (AA 7.2.2017). In der Hauptstadt Bagdad wird die Mehrheit der Bevölkerung von den schiitischen Arabern gestellt (USDOS 10.8.2016).

Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in jenen Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des IS standen oder noch stehen. Hier kommt es zu gezielten Verfolgungen und systematischer Unterdrückung von Mitglieder ethnischer und religiöser Minderheiten. Jesiden, Christen, Kakai, Kurden, Sabäer-Mandäer, Schiiten, Turkmenen und Schabak werden Berichten zufolge vom IS schwer misshandelt. Es kommt zu Hinrichtungen, Entführungen, Zwangskonvertierungen, Vergewaltigungen, Versklavungen, Zwangsverheiratungen, Zwangsabtreibungen und Zwangsvertreibungen. Die Mehrzahl der Mitglieder ethnischer und religiöser Minderheiten in Gebieten, die vom IS kontrolliert werden, sind laut Berichten entweder getötet, entführt oder vertrieben worden (UNHCR 14.11.2016; vgl. AA 7.2.2017). Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten unter weitreichender faktischer Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen. Sie bleiben daher, u.

a. im Zusammenhang mit ihren Berufen und damit verbundenen Lösegelderwartungen, Opfer von Entführungen und sind bevorzugte Ziele von Anschlägen. In Zusammenhang mit der Rückeroberung von Gebieten aus IS-Hand wurden problematische Versuche einer ethnisch-konfessionellen Neuordnung unternommen, besonders in der ethnisch-konfessionell sehr heterogenen Provinz Diyala (AA 7.2.2017). Die Muster der ethnischen und religiösen Verfolgung sind nicht auf bestimmte ethnische/religiöse Gemeinschaften beschränkt, sondern können, abhängig vom jeweiligen Gebiet, fast auf alle Gemeinschaften zutreffen (Lattimer 26.4.2017).

In der kurdischen Autonomieregion gaben Jesiden, Christen und sunnitische Anführer an, dass sie Schikanen und Misshandlungen durch die Peschmerga der KRG und der Asayisch ausgesetzt waren (USDOS 10.8.2016).

Schiiten sind regelmäßig Ziel von Anschlägen im Irak, insbesondere durch den IS (exemplarisch: Guardian 5.1.2017; HRW 15.1.2017, sowie Abschnitt Sicherheitslage). Generell gibt es im Irak ganz erhebliche Konflikte zwischen den Religionsgruppen der arabischen Sunniten und der Schiiten im Irak (z.B. LIPortal 12.2014, siehe dazu u.a. auch die Abschnitte politische Lage, Sicherheitslage und Menschenrechtslage.

Sunnitische Araber

Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach Entmachtung Saddam Husseins 2003 insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Maliki (2006 bis 2014) aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es ihr weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Die Sunniten leben mehrheitlich in den am stärksten umkämpften Gebieten der Provinzen Anbar und Ninewah. Einige bekennen sich nicht mehr zu ihrer Konfession und versuchen dadurch, Benachteiligungen zu umgehen. (AA 7.2.2017). Insbesondere ist die Lage von Sunniten, die aus (ehemaligen) IS-Gebieten stammen, sehr schlecht (UNHCR 14.11.2016). Ca. 60 Prozent der IDPs im Irak sind sunnitische Araber - laut US-Department of State selbst handelt es sich dabei jedoch um eine ungenaue Schätzung (USDOS 10.8.2016).

Anm.: S. dazu, sowie zu anderen Themen bzgl. der sunnitischen Araber auch die Abschnitte Menschenrechtslage, politische Lage, IDPs und Flüchtlinge, etc.

[...]

Turkmenen

Die meisten der ca. 400.000 irakischen Turkmenen leben im Raum Kirkuk und im westlich von Mossul gelegenen Gebiet um Tal Afar (AA 7.2.2017). Eine andere Quelle schätzt die Zahl der Tukmenen auf 600.000 bis 2 Millionen, von denen etwa 60 Prozent Sunniten, die Übrigen vorwiegend Schiiten sind. Sie leben neben der Stadt Tal-Afar vor allem in den Provinzen Kirkuk, Erbil, Salahuddin, Dialah, Bagdad und in der Stadt Kut, und sind seit 2014 signifikanter Vertreibung ausgesetzt (WCC, NCA 30.11.2016). Vor allem schiitische Turkmenen wurden vom IS verfolgt und ihre Häuser geplündert. Nach dem Fall von Mossul flüchtete das Gros der schiitischen Turkmenen südwärts nach Bagdad und in die schiitischen Provinzen Karbala und Najaf (ÖB 12.2016). Im Distrikt Amerli in Salahuddin wurden im August 2014 bis zu 20.000 schiitische Turkmenen von IS-Kräften eingeschlossen und belagert. Erst durch einen gemeinsamen Angriff von kurdischen Peschmerga, irakischen Sicherheitskräften und Milizen sowie durch amerikanische Luftunterstützung konnten sie befreit werden. Ende 2016 flüchteten tausende Turkmenen aus Tal-Afar vor den Kampfhandlungen zur Rückeroberung der Stadt vom IS (AA 7.2.2017). Im Juli 2017 exekutierte der IS Berichten zufolge 200 Turkmenen in Tal-Afar (Iraqinews 4.7.2017). Am 20. Juli 2017 erkannte das irakische Parlament die Verfolgung der Turkmenen durch den IS als Völkermord an (Rudaw 20.7.2017). Tal-Afar wird von schiitischen und sunnitischen Turkmenen bewohnt. Ministerpräsident Abadi hat den schiitisch dominierten Kräften der Volksmobilisierung zunächst die Zusage abgerungen, nicht nach Tal-Afar vorzustoßen, da sonst Racheakte der schiitischen Kräfte an den pauschal als IS-Kollaborateure abgestempelten sunnitischen Turkmenen zu befürchten wären (AA 7.2.2017; s. zu Tal Afar auch den Abschnitt "Sicherheitslage"). Nun ist es aber doch anders gekommen, und die Milizen nehmen an der Tal-Afar-Offensive teil (WI 22.8.2017). Sunnitische Turkmenen (insbesondere jene, die aus IS-Gebieten kommen) werden ebenso wie sunnitische Araber immer wieder unter Pauschalverdacht gestellt und nach dem Anti-Terror-Gesetz von 2005 verhaftet. Außerdem wird ihnen immer wieder der Zutritt zu (relativ gesehen) sicheren Regionen verwehrt (UNHCR 14.11.2016). Anm.: Siehe dazu weitere Informationen in Abschnitt Menschenrechtslage. Es gibt Berichte, dass kurdische Streitkräfte Turkmenen aus den kurdisch kontrollierten Gebieten vertreiben, zum Teil werden turkmenische IDPs, die nach Kirkuk geflohen sind, erneut vertrieben (HRW 7.5.2017; vgl. Al-Jazeera 13.2.2017). Um sich vor den kurdischen Sicherheitskräften zu schützen, gründen sie immer wieder kleinere eigene Milizen und es kommt regelmäßig zu Zusammenstößen (Al-Jazeera 13.2.2017). Turkmenische IDPs (insbesondere sunnitische) fürchten sich vor Misshandlungen durch die PMF, wenn sie in ihre Heimatgebiete zurückkehren (HRW 7.5.2017).

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Allgemeine Menschenrechtslage

Auch wenn in der Verfassung aus dem Jahr 2005 wichtige demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung verankert sind, kommt es weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte (AA 7.2.2017). UN-Menschenrechtsgremien und Menschenrechtsorganisationen haben dokumentiert, dass alle Parteien des nicht internationalen bewaffneten Konflikts im Irak das humanitäre Völkerrecht verletzen und schwere Verstöße gegen internationale Menschenrechte begehen (UNHCR 14.11.2016). Die Menschenrechtslage ist vor allem in Hinblick auf die mangelhafte staatliche Kontrolle und das wenig ausgeprägte Gewaltmonopol samt verbreiteter Straflosigkeit desolat, in der KRI vergleichsweise etwas besser (ÖB 12.2017). Im gesamten Land gibt es einen Mangel an Schutzmöglichkeiten, und die Menschen sind ernstzunehmenden Verletzungen des internationalen humanitären Rechts sowie der Menschenrechte ausgesetzt. Mangelnder Zugang zu sicheren Orten, Mangel an Bewegungsfreiheit, Gewalt und unfaire Behandlung verschlimmern die Spannungen zwischen den Volksgruppen (OCHA 7.3.2017).

Den Großteil der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen beging die Terrororganisation IS, die unter anderem Angriffe gegen folgende Gruppen verübte: Zivilisten (im speziellen Schiiten aber auch Sunniten, die den IS ablehnen); Mitglieder anderer religiöser und ethnischer Minderheiten; einschließlich Frauen und Kinder. Die Behörden entdeckten während des Jahres 2016 etliche Massengräber (USDOS 3.3.2017).

Verstöße gegen die Menschenrechte sind aber auch außerhalb des vom IS beherrschten Gebietes weit verbreitet (AA 7.2.2017). Staatliche Stellen, insbesondere die irakische Armee und ihre Verbündeten sind nach wie vor für zahlreiche schwere Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und trotz erkennbarem Willen der Regierung Abadi nicht in der Lage, die in der Verfassung verankerten Rechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten (ÖB 12.2016; AA 7.2.2017). Von Seiten der Regierungskräfte wurden u.a. Massenexekutionen, Misshandlungen während der Haft, "Verschwindenlassen", das Verstümmeln von Leichen (HRW 12.1.2017), sowie Folter dokumentiert (AI 22.2.2017). Insbesondere den Popular Mobilisation Forces (PMF) werden Massenerschießungen, Tötungen von Gefangenen und Festgenommenen (ohne Gerichtsverfahren) vorgeworfen (ÖB 12.2016). Den staatlichen Stellen ist es nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen, insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Dies geht einher mit Repressionen, mitunter auch Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession Minderheiten geraten oft zwischen die Fronten (AA 7.2.2017).

In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, kommt es zu Massenvergeltungsmaßnahmen an sunnitisch-arabischen und turkmenischen Einwohnern und Rückkehrern aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten Verbindung zum IS (AA 7.2.2017; vgl. UNHCR 14.11.2016). Daran beteiligt sind mit den PMF verbündete Streitkräfte, Stammesgruppen und kurdische Sicherheitskräfte (UNHCR 14.11.2016). Es kommt zu Repressionen durch schiitische und sunnitische Milizen, durch die kurdischen Peschmerga, sowie in geringerem Maße durch Milizen der verschiedenen konfessionellen Minderheiten (AA 7.2.2017). Auch im Zuge der Mossul-Offensive verhafteten und misshandelten Stammesmilizen Einwohner der Gebiete, die vom IS zurückerobert worden waren, und es kam zu Racheakten der schiitischen Milizen (HRW 12.1.2017; Harrer 10.8.2017; vgl. BAMF 26.6.2017). Die irakischen Sicherheitskräfte misshandelten und töteten Berichten zufolge Männer und Knaben, die aus Mossul flüchteten (HRW 30.6.2017). Allgemein kam es von Seiten Angehöriger der ISF und verbündeter Gruppen zu Vergehen an der flüchtenden Zivilbevölkerung, an Binnenvertriebenen und Rückkehrern. In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, ist auch von Plünderungen und der willkürlichen Inbrandsetzung und Zerstörung von Wohnhäusern, Geschäften und Moscheen berichtet worden (UNHCR 14.11.2016). Zum Teil wurden gesamte arabische Dörfer zerstört, bei gleichzeitiger Deportation der Einwohner, obwohl es dafür keine militärische Notwendigkeit gab. In vielen Fällen handelte es sich dabei um Kriegsverbrechen (HRW 12.1.2017). Bezüglich der Frage der Rückkehrer hat die lokale Regierung in der Provinz Salahuddin im Jahr 2016 ein Dekret erlassen, nach dem jeder, der Verbindungen zum IS hat, nicht in die Region zurückkommen dürfe - Iraker, die ihre IS-assoziierten Verwandten töten würden, wären ausgenommen (OA/EASO 2.2017, vgl. HRW 5.3.2017).

Die große Zahl der Binnenvertriebenen im Irak und die weitverbreitete Pauschal-Auffassung, dass sunnitische Araber IS-Mitglieder sind oder mit dem IS sympathisieren, hat Berichten zufolge dazu geführt, dass immer mehr sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die nicht vertrieben wurden und in Bagdad und anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten leben, nach dem Anti-Terror-Gesetz von 2005 verhaftet werden (UNHCR 14.11.2016). Teilweise unterzogen die Regierungskräfte alle männlichen Personen im kampffähigen Alter (etwa zwischen 15 und 65 Jahren), die aus Gebieten unter IS-Kontrolle geflohen waren, einer Sicherheitsüberprüfung. Sie wurden in behelfsmäßige Hafteinrichtungen oder provisorische Auffanglager gebracht, in denen sie Tage oder sogar Monate ausharren mussten, häufig unter extrem harten Bedingungen. Terrorverdächtige wurden an Sicherheitsbehörden wie die Abteilung für Verbrechensbekämpfung, die Abteilung für Terrorismusbekämpfung oder die Geheimdienstabteilung des Innenministeriums überstellt, wo ihnen Folter und andere Misshandlungen drohten, und regelmäßig wurde ihnen der Kontakt zu ihren Familien oder Rechtsbeiständen verwehrt. Sicherheitskräfte und Milizen nahmen mutmaßliche Terrorverdächtige ohne Haftbefehl in ihren Wohnungen, an Kontrollpunkten und in Lagern für Binnenvertriebene fest und informierten weder die Betroffenen noch deren Angehörige über die Gründe für die Festnahme (AI 22.2.2017). Häufig befinden sich diese Kontrollpunkte in der Nähe der Front. Zwar werden manche Personen nach einigen Tagen wieder entlassen, andere werden jedoch Berichten zufolge wochen- oder gar monatelang festgehalten, bis sie schließlich freigelassen oder in die Obhut der zuständigen Sicherheitsbehörden überstellt werden (UNHCR 14.11.2016).

Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad und anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen. UNHCR berichtet von Vergeltungsmaßnahmen nach einem ISIS-Anschlag auf Kirkuk vom 21. Oktober 2016. In vier mehrheitlich arabischen Dörfern (Kara Tepa, Wahid Huzairan, Kutans und Qushqai) in der Provinz Kirkuk wurden massenhaft Wohnhäuser zerstört, was zur Vertreibung von über 1.100 Familien geführt hat. Ferner werden nicht näher quantifizierte Vorfälle aufgezeigt, wonach sunnitische Araber entführt, verschleppt oder außergerichtlich hingerichtet wurden. Die sunnitische Zivilbevölkerung wird Berichten zufolge nach IS-Attacken auf die schiitische Zivilbevölkerung von den ISF und verbündeten Streitkräften der PMU ins Visier genommen und im Rahmen offensichtlicher Vergeltungsmaßnahmen wurden sunnitische Zivilpersonen getötet und ihre Häuser, Geschäfte und Moscheen zerstört. Lager für Binnenvertriebene sind Anschlägen zum Ziel gefallen. Dokumentiert sind etwa Vergeltungsmaßnahmen gegen Sunniten nach Angriffen von ISIS auf schiitische Ziele in der Stadt Al-Muqdadiyah (Diyala) im Januar und Februar 2016, bei denen Sunniten getötet und ihre Häuser, Geschäfte und Moscheen in Brand gesetzt wurden. Beim sogenannten "Barwana-Massaker" vom 26. Januar 2015 wurden im Rahmen einer Vergeltungsmaßnahme für den Tod von ISFund PMU-Mitgliedern in den Tagen zuvor mindestens 56 sunnitische Muslime in Barwana (Diyala) von den ISF und PMU summarisch hingerichtet (UNHCR 14.11.2016).

Männer und Jugendliche ab 15 Jahren wurden unter Druck gesetzt, bewaffneten Stammesgruppen zur Bekämpfung des IS beizutreten, um nicht für IS-Anhänger gehalten zu werden (UNHCR 14.11.2016). Darüber hinaus gibt es Berichte, dass sowohl Volksmobilisierungskräften (PMF), sunnitische Stämme, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) und sonstige bewaffnete kurdische Gruppen sowie turkmenische und jesidische Selbstverteidigungsgruppen Kinder für Unterstützungs- und Kampfhandlungen rekrutieren (UNHCR 14.11.2016, vgl. USDOS 3.3.2017; vgl. AI 22.2.2017).

Die Behörden unternahmen nichts, um den Aufenthaltsort und das Schicksal Tausender sunnitischer arabischer Männer und Jungen zu klären, die Milizen und Regierungstruppen in den vergangenen Jahren in Wohnhäusern, an Kontrollpunkten und in Lagern für Binnenvertriebene aufgegriffen hatten und die seitdem "verschwunden" sind (AI 22.2.2017).

Gemäß einem Bericht von Amnesty International haben die Truppen der Koalition zur Bekämpfung des IS bei ihrem Vorgehen in Mossul keine angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung unternommen, und Waffen eingesetzt, die in bevölkerungsreichen Gebieten niemals verwendet werden dürften (Zeit 11.7.2017). Es werden Bedenken über mögliche Kriegsverbrechen der US-geführten Koalition in Bezug auf den Kampf gegen den IS in Mossul geäußert (IP 3.6.2017).

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Staatliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit

Anm.: Die Regelungen bzgl. der Bewegungsfreiheit, insbesondere bezüglich der Zugangs- und Aufenthaltsbestimmungen für IDPs sind laufenden Änderungen und einem hohen Maß an Willkür unterworfen. Darüber hinaus berichten unterschiedliche Quellen bezüglich mancher Aspekte Unterschiedliches. Daher werden die unterschiedlichen

Quellen namentlich erwähnt und nebeneinandergestellt:

Laut Einschätzung des UNHCR sind die Möglichkeiten einer innerstaatlichen Fluchtalternative für IDPs durch die aktuellen Umstände, das Ausmaß innerstaatlicher Vertreibung, die ernstzunehmende humanitäre Krise, die zunehmenden interkommunalen Spannungen, die Beschränkungen bzgl. des Zuganges und/oder Aufenthaltes in fast allen Teilen des Landes und durch den steigenden Druck auf IDPs in ihre Heimatgebiete zurückzukehren, eingeschränkt (UNHCR 12.4.2017). Laut Amnesty International schränkten die Behörden des Irak sowie der KRI die Bewegungsfreiheit vertriebener arabischer Sunniten willkürlich und in diskriminierender Weise ein (AI 22.2.2017). Laut USDOS hatten IDPs während des Jahres 2016 (Berichtszeitraum des USDOS-Menschenrechtsberichtes) eingeschränkten Zugang zu Bagdad, Kirkuk, sowie zur Provinz Najaf und zu Gebieten, die unter der Kontrolle der KRG stehen. Hunderten sunnitisch-turkmenischen IDPs aus der Umgebung von Tal Afar wurde die Einreise nach Dohuk in der KRI verwehrt. Der Gouverneur von Dohuk äußerte Bedenken, dass es innerhalb dieser IDPs Elemente des IS gäbe, deren Anwesenheit in den IDP-Lagern in Dohuk zu jesidischen Racheattacken an ihnen führen könnte (USDOS 3.3.2017). Das Gesetz erlaubt es, dass bevollmächtigte Sicherheitskräfte die Reisefreiheit im Inland einschränken, Ausgangssperren verhängen, ein Gebiet absperren oder durchsuchen dürfen, sowie andere notwendige Sicherheits- und Militärmaßnahmen als Reaktion auf Sicherheitsbedrohungen und Angriffe ergreifen können. Es gab im Berichtszeitraum 2016 zahlreiche Berichte, dass Sicherheitskräfte, inklusive der ISF, der Peschmerga, sowie auch der PMF selektiv Bestimmungen bezüglich Aufenthaltsgenehmigungen durchsetzten, um den Zugang von Personen in befreite, unter ihrer Kontrolle stehende Gebiete zu limitieren. UNAMI und das UN Office of the High Commissioner for Human Rights erhielten mehrere Berichte, dass Behörden von Kirkuk sunnitisch-arabischen IDPs aus den Provinzen Salahuddin und Ninewah den Zugang in die Provinz Kirkuk verwehrten (USDOS 3.3.2017).

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Politische Lage

Im März 2003 kam es zum Einmarsch von Truppen einer Koalition, die von den USA angeführt wurde (BBC 12.7.2017). Als Grund hierfür wurden Massenvernichtungswaffen angegeben, deren Existenz jedoch nie bestätigt werden konnte. Nach dem im März 2003 erfolgten Sturz von Saddam Hussein, einem Angehörigen der sunnitischen Minderheit, wurden die Regierungen von Vertretern der schiitischen Mehrheitsbevölkerung geführt (BPB 9.11.2015). Mit 2003 begann der Aufstieg von [vorwiegend] irantreuen bzw. dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien/Milizen, denen die amerikanischen Invasoren erlaubten, aus dem iranischen Exil in ihre Heimat zurückzukehren (SWP 8.2016; vgl. Hiltermann 26.4.2017). Es konnte nach der Entmachtung Husseins weder eine umfassende Demokratisierung noch eine Stabilisierung erreicht werden, da die Strukturen des neuen politischen Systems das Land entlang ethnisch-konfessioneller Linien fragmentierten (BPB 9.11.2015). Die von der US-Besatzung beschlossene Auflösung der irakischen Armee sowie das Verbot der Baath-Partei ließen viele Sunniten, darunter erfahrene Militärs, radikalen islamistischen Gruppen zuströmen (Spiegel 18.4.2015). Die sunnitische Minderheit fühlte sich zunehmend diskriminiert und radikale Anführer konnten immer mehr AnhängerInnen gewinnen (AI 28.5.2008). Zudem hatte die Demontage der irakischen Armee und irakischen Sicherheitskräfte durch die US-geführte Koalition ein Sicherheitsvakuum hinterlassen, das die schiitischen Milizen zu füllen versuchten, wodurch es zu einem sunnitischen Aufstand kam (Hiltermann 26.4.2017). Die US-Regierung (sowohl die Bush-, als auch die Obama-Regierung) arbeitete zum Teil mit diesen Kräften (Badr-Miliz) zusammen, und verschloss vor den Gewaltexzessen der schiitischen Milizen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung die Augen (Reuters 14.12.2015). Während die Revolte der Sunniten gegen die US-Präsenz seit 2003 eher eine nationalistisch als eine religiös geprägte Bewegung war, entwickelte die Revolte zunehmend einen dominanten radikal-sunnitisch-islamistischen Zug. Der in der Folge entstehende konfessionelle Bürgerkrieg (ca. 2005 bis 2007) führte zu einer Änderung der US-Politik im Irak, die wiederum die Niederlage von Al-Qaida im Irak (AQI) herbeiführte. Doch dadurch, dass das Problem der Ausgrenzung der Sunniten weiter bestehen blieb, kam es zu weiteren Protesten in den sunnitischen Gebieten in den Jahren 2013 und 2014, daraufhin zu einer gewaltsamen Antwort von Seiten des Staates und danach zur Übernahme sunnitischer Gebiete durch eine noch radikalere Version von Al-Qaida - durch die Organisation "Islamischer Staat" [IS, auch ISIS oder ISIL, vormals ISI, arab.

Akronym: DAESH] (Hiltermann 26.4.2017). Diese konnte in große Teile der sunnitischen Gebiete im Westen des Irak, in kurdische Gebiete im Norden des Irak und in Teile Syriens vordringen (ACCORD 12.2016). Als die nach der Entmachtung Saddam Husseins neu aufgestellte Armee vorübergehend "kollabierte", mobilisierten schiitische Führer in Notwehr ihre Gefolgschaft, wodurch die schiitischen Milizen (allen voran die Badr Organisation, Asaib Ahl al-Haq und Kataeb Hezbollah, mit Unterstützung des Irans) verstärkt auf den Plan traten und sich nordwärts in die sunnitischen Gebiete bewegten (Hiltermann 26.4.2017). Gegen Ende des Jahres 2015 war der irakische Staat im Wesentlichen in drei Teile (Kontrollgebiete) zerbrochen: das IS-Gebiet im Westen, das Kurdengebiet im Nordosten und die zentralen Behörden Bagdads im Zentralirak und im Süden des Landes (Stansfield 26.4.2017). Das politische Geschehen ist [trotz großer Erfolge bei der Rückeroberung von IS-Gebieten - s. Abschnitt Sicherheitslage] weiterhin vom Kampf gegen den IS geprägt (ÖB 12.2016). Seit Ende 2015 wird der IS mit einem Bündnis auf Zeit aus irakischem Militär, kurdischen Peschmerga, schiitischen Milizen und Luftschlägen der internationalen US-geführten Anti-IS-Koalition bekämpft (AA 7.2.2017).

Staatsform & Parteien

Der Irak ist formal-konstitutionell eine republikanische, demokratische, föderal organisierte und parlamentarische Republik. So sieht es jedenfalls die gültige Verfassung von 2005 vor. Sitz von Regierung und Parlament ist Bagdad. Staatspräsident ist seit dem 24. Juli 2014 der Kurde Fuad Massum, Angehöriger der irakisch-kurdischen Partei Patriotic Union of Kurdistan - PUK. Ein Teil des föderalen Staates ist auch das kurdische Autonomiegebiet, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Diese Föderale Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung, sowie gesonderte Militäreinheiten, die Peschmerga (LIP 6.2015).

Im Irak gibt es eine Vielzahl von Parteien (zu einer Anerkennung genügen laut Parteiengesetz 500 Unterschriften). Sie haben sich vor und nach den Wahlen zu Bündnissen zusammengeschlossen (AA 7.2.2017):

Nationale Allianz (NA):

Die Dachorganisation der irakischen Schiiten umfasst mehrere Wahllisten. Die Allianz bemüht sich um Konsensentscheidungen, leidet aber auch unter den divergierenden Interessen und Machtambitionen ihrer Listen. Der nach einer Vakanz seit September 2016 zum Vorsitzenden für ein Jahr gewählte Ammar al-Hakim versucht, die NA eine positive Rolle im nationalen Versöhnungsprozess spielen zu lassen (AA 7.2.2017). Hakim war bis Juli 2017 auch der Parteichef des sich innerhalb der Dachorganisation NA befindenden Islamic Supreme Council of Iraq (ISCI, vormals Supreme Council for the Islamic Revolution in Iraq - SCIRI), verließ diesen aber nun und gründete eine neue Partei namens National Wisdom Movement (Al-Monitor 24.8.2017).

Rechtsstaatskoalition (State of Law):

Die Rechtsstaatskoalition, ein Zusammenschluss mehrerer schiitischer Parteien und Teil der Nationalen Allianz, ging mit ihrem Spitzenkandidat Nuri al-Maliki als numerischer Sieger aus den Parlamentswahlen 2014 hervor, zerbrach allerdings im Anschluss. Die Dawa-Partei, der sowohl der ehemalige Premierminister Maliki, als auch der amtierende Premierminister Haidar al-Abadi angehören, ist eine der Parteien innerhalb der Rechtsstaatskoalition (AA 7.2.2017).

Allianz Nationaler Kräfte (Sunniten):

Die mehrheitlich sunnitische, säkulare Iraqiya-Bewegung, 2010 noch Wahlsieger, ist vor den Wahlen 2014 zerbrochen. Von den sunnitisch geprägten Nachfolgeparteien schnitt die eher radikal ausgerichtete Motahidoun unter Führung des aktuellen Vizepräsidenten Nujaifi aus der Provinz Ninewah am stärksten ab, gefolgt von der Nationalen Liste des ehemaligen Vizepremiers Mutlak aus Anbar. Im Zuge der Regierungsbildung schlossen sich diese Parteien mit kleineren sunnitischen Gruppierungen zur Allianz Nationaler Kräfte zusammen. Der Rückhalt in der sunnitischen Bevölkerung ist teilweise sehr gering. Zahlreiche Abgeordnete können aus Sicherheitsgründen nicht ihre durch den IS kontrollierte Herkunftsregion besuchen. Von der säkularen Bewegung konnte die Nationale Liste des Vize-präsidenten Allawi einen Achtungserfolg erringen. Sie spielt aber im politischen Tages-geschäft nur eine untergeordnete Rolle (AA 7.2.2017).

Wahlen & Premierminister

Die letzten nationalen Wahlen, die im April 2014 stattfanden, hatte zwar abermals der zuvor amtierende Premierminister Nouri al-Maliki gewonnen, da es jedoch auf Grund seines autoritären und pro-schiitischen Regierungsstils massive Widerstände gegen ihn gab, trat er im August 2014 auf kurdischen, internationalen, aber auch auf innerparteilichen Druck hin zurück (GIZ 6.2015). Maliki wird unter anderem vorgeworfen, mit seiner sunnitenfeindlichen Politik (Ausgrenzung von sunnitischen Politikern, Niederschlagung sunnitischer Demonstrationen, etc.) deutlich zur Entstehung radikaler sunnitischer Gruppen, wie dem IS, beigetragen zu haben (Qantara 17.8.2015; vgl. auch Abschnitt "Sicherheitslage"). Infolge dessen wurde die schiitisch dominierte Regierung des Premierministers Nuri al-Maliki von einer nationalen Einheitsregierung mit Beteiligung von Sunniten und Kurden unter dem gemäßigteren Premierminister Haidar al-Abadi abgelöst (HRW 29.1.2015). Abadi ist ebenfalls Schiite und ein Parteikollege Malikis in der Da'wa-Partei. Er ist mit dem Versprechen angetreten, das ethno-religiöse Spektrum der irakischen Bevölkerung wieder stärker abzudecken (GIZ 6.2015), und zunächst konnten durch seine Ernennung zum irakischen Premierminister tatsächlich einige gesellschaftliche Gräben geschmälert werden. Von einer tatsächlichen Versöhnung zwischen den ethnischen und religiösen Gruppierungen ist jedoch nichts zu bemerken (ÖB 12.2016). Die sunnitischen Regierungs- und Parlamentsmitglieder stehen unter Druck, da ihre Kooperation in Bagdad bislang kaum dazu beitrug, ihre Klientel zu schützen (ÖB 12.2016). Abadis Reformen sind bislang nur oberflächlicher Natur oder harren noch ihrer Umsetzung. Unterstützt werden die Reformpläne der Regierung bislang immerhin durch die höchste geistliche Autorität der Schiiten, Großajatollah Al-Sistani (AA 7.2.2017). Insgesamt ist die Zentralregierung aber schwach, Premierminister Abadi kann gegen die internen Rivalitäten der schiitischen Parteien nicht viel ausrichten. Er ist von zahlreichen Herausforderern umgeben: Dem Ex-Premierminister Nouri al-Maliki, dem Oppositionsführer und populärer Priester Muqtada al-Sadr, sowie den anderen Anführern schiitischer Milizen (Stansfield 26.4.2017).

Schiitische Milizen, Maliki, Iran

Abadi hat mit dem Iran-freundlichen Ex-Premierminister Maliki (nunmehr Vize-Premierminister und Vorsitzender der State of Law Coalition, sowie Da'wa-Parteiführer) einen starken Widersacher innerhalb seiner Partei. Ein Problem Abadis ist auch die Macht der schiitischen Milizen - einerseits unverzichtbar für Abadi im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (Standard 5.11.2015), gleichzeitig wird deren Einsatz aber von der sunnitischen Bevölkerung als das "Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub" gesehen. Das Vertrauen der sunnitischen Bevölkerung in die schiitisch dominierte Zentralregierung bleibt weiterhin minimal. Der Einsatz dieser Milizen im Kampf gegen den IS wird von Sunniten meist abgelehnt, sie fürchten ein ruchloses Vorgehen der Milizen und dulden daher oft die sunnitischen Extremisten in ihren Gebieten. Berichte zu Übergriffen der schiitischen Milizen (s. ausführlich im Abschnitt zur Menschenrechtslage) konterkarieren die Versuche von Premierminister Haidar al-Abadi, den arabischen Sunniten wieder Vertrauen in den irakischen Staat einzuflößen (ÖB 12.2016; vgl. ÖB 5.2015). Bezüglich der schiitischen Milizen spielt auch der [stark schiitisch dominierte] Iran eine große Rolle, der insgesamt einen großen Einfluss auf den Irak ausübt. An den Schalthebeln der Macht in Bagdad werden selbst hochrangige irakische Kabinettsmitglieder von der iranischen Führung abgesegnet oder "hinauskomplementiert". Dadurch kommt es auch dazu, dass Gesetze verabschiedet werden, wie z. B. jenes [vom November 2016 - s. Harrer 28.11.2016], das die schiitischen Milizen effektiv zu einem permanenten Fixum der irakischen Sicherheitskräfte macht (NYTimes 15.7.2017), und sie im Rahmen der Dachorganisation PMF (auch PMU, Popular Mobilisation Forces/Units, Volksmobilisierung, arabisch: Al-Hashd al-Shaabi, oder auch nur "Hashd") der irakischen Armee gleichstellt (Harrer 9.12.2016). Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt. Dem Iran geht es dabei nicht nur um die weitere Ausbreitung der Kontrolle über irakisches Gebiet, sondern auch darum, einen Korridor zu den Stellvertreter-Kräften in Syrien und im Libanon zu bilden. Was im März 2017 passierte, nämlich, dass Iran-gestützte schiitische Milizen zum ersten Mal den gesamten Weg westwärts bis zur syrisch-irakischen Grenze vorstoßen konnten, quer durch irakisches, vorwiegend sunnitisches Gebiet, veranschaulicht dieses Vorhaben (ICG 31.5.2017; vgl. NYTimes 15.7.2017). Der ehemalige Premierminister Maliki, der sich bereits zu seiner Amtszeit stark in Richtung Iran gelehnt hatte, und der nach Ende seiner Amtszeit weiterhin massiv von der Zusammenarbeit mit dem Iran profitierte, spielt heute auf politischer Ebene in Bezug auf die PMF eine zentrale Rolle und wird nicht umsonst "Godfather of the PMF" genannt. U.a. aufgrund der Schwäche des Irakischen Staates, der Dominanz des Irans, sowie ganz besonders aufgrund der Hilfe, die der reguläre irakische Sicherheitsapparat für das Zurückschlagen des IS benötigt(e), blieb Abadi keine andere Wahl, als den PMF-Milizen zu noch weiterem Einfluss zu verhelfen - in Fortsetzung der bezüglich der Milizen vorangetriebenen Legitimierungspolitik Malikis. Die PMF sind somit einerseits eine vom Staat mittlerweile legitimierte (und der Armee gleichgestellte) Dachorganisation von - fast ausschließlich - schiitischen Milizen, gleichzeitig werden sie aber von nicht-staatlichen Anführern befehligt (Carnegie 28.4.2017). Maliki versucht, an die Spitze der irakischen Politik zurückzukehren, und hat als Verbündete dabei den Iran und "seine" neue Hausmacht, die schiitischen Milizen (Harrer 13.2.2017; vgl. Harrer 28.11.2016; vgl. Al-Monitor 21.7.2017). Gegen dieses Vorhaben regt sich insbesondere auch im Süden verstärkter Widerstand: Die Anhänger der Sadr-Bewegung [Muqtada al-Sadr: Führer der Sadr-Bewegung, einer politischen Partei, sowie Führer der Saraya al-Salam, einer schiitischen Miliz - s. Abschnitt Sicherheitskräfte] wollen mittels Demonstratione

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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