TE Bvwg Erkenntnis 2018/8/27 L519 2198125-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.08.2018
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Entscheidungsdatum

27.08.2018

Norm

AsylG 2005 §13 Abs2 Z1
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §18 Abs1 Z2
BFA-VG §18 Abs1 Z6
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

L519 2198125-2/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, StA. TÜRKEI, vertreten durch RA Mag. BERTSCH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 19.7.2018, Zl. XXXX, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 13 Abs.2 Z.1

AsylG sowie § 18 Abs. 1 Z. 2 und 6 BFA-VG mit der Maßgabe abgewiesen, dass in Spruchpunkt IV. das Wort

"Rückkehrentscheidung" durch das Wort "Entscheidung" ersetzt wird.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger der Türkei, wurde am 24.12.1982 in Österreich geboren. Er hielt sich von seiner Geburt bis zum Jahr 2007 legal in Österreich auf. Aufgrund zahlreicher Verurteilungen wurde sein Aufenthaltstitel von der BH XXXX nicht mehr verlängert und der BF tauchte unter.

I.2.Mit Schreiben vom 14.9.2017 und vom 29.11.2017 gewährte das BFA dem BF Parteiengehör zur beabsichtigten Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot.

I.3. Mit Bescheid des BFA vom 24.5.2018, Zl. 17-1142929210-171053843, wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG nicht erteilt. Gem. § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 1 Z.1 FPG erlassen und gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei gem. § 46 FPG zulässig sei. Gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z. 1 FPG wurde gegen den BF ein Einreiseverbot in der Dauer von 6 Jahren erlassen. Gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z.1 FPG wurde ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt. Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde gem. § 18 Abs. 2 Z.1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.

I.4.Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 16.7.2018, Zl. L502 2198125-1 in allen Punkten als unbegründet abgewiesen. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde wurde als unzulässig zurückgewiesen.

I.5. Am 5.6.2018 brachte der BF verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz ein.

Bei seiner Erstbefragung gab der BF zusammengefasst an, dass er in Österreich geboren sei. Da er alevitischer Kurde sei, befürchte er in der Türkei politische und religiöse Verfolgung. Außerdem fürchte er um seine Existenz.

Bei seiner Einvernahme durch das BFA am 19.6.2018 gab der BF zusammengefasst an, er sei nie in der Türkei gewesen und spreche die türkische Sprache nicht. Außerdem habe er keine Verwandten in der Türkei. Er befürchte bei einer Rückkehr seine Verhaftung und eine Diskriminierung als alevitischer Kurde. Er habe auch Existenzängste. Außerdem habe er seinen Wehrdienst bislang nicht absolviert. 2009 oder 2010 habe er in Österreich beim Aufbau einer Bühne für eine HDP-Veranstaltung mitgewirkt, davon gebe es auch Fotos.

I.6. Der Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde mit im Spruch genannten Bescheid der belangten Behörde gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gem. § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Weiter wurde festgestellt, dass der BF gem. § 13 Abs. 2 Z.1 AsylG sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab 5.6.2018 verloren hat (Spruchpunkt III.) Einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung wurde gem. § 18 Abs. 1. Z.2 und 6 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.).

I.6.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus:

Der BF habe seine Rückkehrbefürchtungen nicht glaubhaft machen können. Er stütze sich dabei lediglich auf vage Vermutungen, konkrete Anhaltspunkte oder Hinweise hätten jedoch seinem Vorbringen nicht entnommen werden können. Zu seiner Volksgruppenzugehörigkeit gab der BF bei der Erstbefragung an, er würde deshalb bei einer Rückkehr einer Gefährdung unterliegen. Dazu habe er angegeben, dass man ihm von Kindheit an erzählt habe, dass man als Kurde Probleme bekommt. Seine Verwandten seien alt geworden, aber der BF gehe nicht in die Türkei, er habe keinen Bruder.... Dass er persönlich als Kurde verfolgt würde, schließe der BF aus Erzählungen seiner Mutter. Er habe Bekanntschaft mit Kurden geschlossen sowie mit Leuten, welche Probleme mit den kurdischen Milizen haben. Keiner spreche gut über die Kurden, jeder habe Probleme, auch der Vater des BF habe welche gehabt, weswegen er auch wieder nach Österreich gekommen sei. Bei der Ausreise hätten ihm die türkischen Behörden Probleme gemacht. Man würde die kurdische Abstammung des BF zu 80 % erkennen, da er aus XXXX stammt. Das würde auch im Pass stehen. Wenn man aus diesem Ort stammt, könne man nur Alevit oder Kurde sein. Auf die Frage ob der BF persönlich einen Kurden kenne, der aufgrund seiner Volksgruppe Opfer eines Übergriff der Regierung wurde, gab der BF letztlich an, er könne sich mit seinen Mithäftlingen nicht verständigen, da er nicht kurdisch könne.

Der BF habe somit keine substantiierte, nachvollziehbare Begründung darlegen können, wonach er im Fall einer Rückkehr verfolgt würde. Seine subjektive Hypothese gründe lediglich auf Erzählungen in seiner Kindheit, wonach Kurden in der Türkei Probleme hätten. Dem sei entgegenzuhalten, dass der BF kurz davor schilderte, ca. 50 Verwandte zu haben, wovon manche im Ausland leben und das Heimatdorf im Sommer für den Urlaub nutzen. Auch der Vater des BF habe bis vor 4 Jahren seinen dauernden Aufenthalt in der Türkei gehabt, nachdem er 1992 von Österreich in die Türkei abgeschoben wurde. Es sei daher nicht verständlich, weshalb die Verwandten des BF in ein - den Angaben des BF nach - gefährliches Gebiet auf Urlaub fahren. Der BF war nach seinen Angaben auch einige Male in der Türkei, zuletzt 2004 (demnach im Alter von 22 Jahren) und das vorletzte Mal 2000 (demnach im Alter von 18 Jahren). Im Widerspruch dazu erklärte er bei der Einvernahme, zuletzt im Kindesalter in seinem Heimatdorf gewesen zu sein. Aufgrund der Tatsache, dass der BF bis dato seinen Reisepass nicht in Vorlage brachte, war von der Behörde der Schluss zu ziehen, dass der BF auch im Erwachsenenalter, zuletzt mit 22 Jahren, in der Türkei aufhältig war. Dem BF sei die Möglichkeit gewährt worden, seine Ein- und Ausreisen durch Vorlage des Reisepasses zu beweisen, wovon er aber nicht Gebrauch machte. Es sei daher davon auszugehen, dass er nach Erreichen der Volljährigkeit ebenfalls noch in der Türkei war. Eine Gefährdung während seiner Türkeiaufenthalte habe der BF nicht ins Treffen geführt. Aus den Länderinformationen ergebe sich zudem, dass eine systematische, geplante Verfolgung von Kurden aufgrund ihrer Ethnie von staatlicher Seite nicht vorliegt. Außerdem haben mehr als 15 Mio. Türken einen kurdischen Hintergrund und sprechen diese kurdische Dialekte. Der BF gab stets an, kein kurdisch zu sprechen. Auf die Frage, wie man ihn dann in der Türkei als Kurden identifizieren könne, erklärte der BF, dass er aus XXXX stammt und daraus geschlossen würde, dass er Kurde oder Alevit ist. Laut dem der Behörde zur Verfügung stehenden Urkundeninformationssystem sei weder aus einem türkischen Reisepass noch aus einem Nüfus Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit abzulesen. Aus einem Reisepass kann nur der Geburtsort abgelesen werden und das ist im Fall des BF XXXX in Österreich. Aus den Dokumenten kann demnach keine Verbindung zwischen BF und XXXX hergestellt werden. Nach der Berichtslage gebe es zwar Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte an ethnischen Kurden, allerdings betreffe dies Kurden, die der Sympathie oder Mitgliedschaft zur PKK verdächtigt werden, was beim BF aber nicht der Fall ist.

Am 19.6.2018 gab der BF erstmals zu Protokoll, 2009 oder 2010 in XXXX bei einem Bühnenaufbau für eine kurdische Demonstration geholfen zu haben und dabei fotografiert worden zu sein. Deswegen habe er Angst, in die Türkei zu fliegen und in der Nähe dieses Landes zu sein. Er habe beim Bühnenaufbau geholfen, um sich etwas dazuzuverdienen. Ein politisches Motiv bzw. eine politische Überzeugung in diesem Zusammenhang sei den Angaben des BF nicht zu entnehmen gewesen. Außerdem habe er dies bei der Erstbefragung mit keinem Wort erwähnt.

Bei der Einvernahme im Juni 2018 habe der BF sein Vorbringen unzulässig gesteigert, um einen asylrelevanten Sachverhalt zu konstruieren. Konkrete Anhaltspunkte dahingehend, dass es dem BF nicht möglich oder zumutbar gewesen wäre, diese Umstände bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt darzulegen, seien nicht hervorgekommen.

Illustrativ werde dazu angeführt, dass der belangten Behörde bekannt ist, dass geradezu typischerweise bei im Ergebnis ungerechtfertigten Asylanträgen erst im Rahmen einer späteren Befragung neue Vorbringen erstattet bzw. diese ausgewechselt werden.

Auf Nachfrage, um welche Demonstration es sich konkret gehandelt habe, erklärte der BF, nur zu wissen, dass es eine kurdische Demonstration gewesen sei. Auf Nachfrage, weshalb sein Kollege ausgerechnet den BF damit beauftragte, beim Bühnenaufbau mitzuwirken, gab der BF an, dass dieser öfter bei Demonstrationen dabei sei und sich auskenne. Auf näheres Befragen konnte der BF aber weder angeben, wie viele Teilnehmer bei der Demonstration waren noch ob und wo ein Foto veröffentlicht wurde. Er konnte auch keine Beweismittel vorlegen und war nicht in der Lage, zu schildern, in welchem Kontext ein Foto von ihm angefertigt wurde. Auf die Frage nach Zeugen gab der BF an, keine nennen zu wollen.

Der BF wurde ausdrücklich aufgefordert, sowohl den Aufbau der Bühne als auch das Gespräch zwischen ihm und seinem Freund so detailreich wie möglich zu schildern. Seine Antworten beliefen sich auf Zweizeiler und war es dem BF insgesamt nicht möglich, sein Vorbringen mittels Detailreichtum und Homogenität zu objektivieren. Es sei auch nicht Aufgabe der belangten Behörde, jede der unzähligen vagen und pauschalen Angaben bzw. Andeutungen durch mehrmaliges Nachfragen zu konkretisieren. Vielmehr liege es am BF ein detailliertes und stimmiges Vorbringen zu erstatten. Erschwerend komme hinzu, dass der BF die Behauptung, es sei ein Foto von ihm gemacht worden, lediglich auf Angaben Dritter bezieht und nicht gewillt war, dessen Namen zu nennen.

Der BF hat auch keine Beweismittel beigebracht, die seine Tätigkeiten beim Bühnenaufbau belegen und habe damit seine Mitwirkungspflicht verletzt. Der Umstand, dass er sich weigerte, den Namen jener Person anzugeben, die ihm von der Existenz des Fotos erzählt hat, lasse auch eine amtswegige Ermittlung ins Leere gehen, weshalb von weiteren Ermittlungsschritten in diesem Zusammenhang Abstand genommen wurde.

Im Zuge der Einvernahme beim BFA gab der BF erstmals an, von einer ihm unbekannten Behörde gesucht zu werden, da er den Militärdienst in der Türkei nicht abgeleistet habe. Er habe Angst vor der Frage, wo er die letzten 10 Jahre war. Außerdem würde er zu seinem Reisepass und seinen Gesetzesübertretungen in Österreich befragt werden. Auch das habe er bei der Erstbefragung mit keinem Wort erwähnt. Über Vorhalt gab der BF an, er sei angehalten worden, dies beim BFA näher auszuführen.

Dem sei zu entgegnen, dass die Beamten im Gegensatz zum BF keinerlei Interesse am wie auch immer gearteten Verfahrensausgang haben. Selbst bei Wahrunterstellung der Behauptungen des BF bleibt es dem Asylwerber selbst überlassen, die wichtigsten Punkte und Befürchtungen zu schildern. Außerdem habe der BF zu Beginn der Einvernahme angegeben, dass die Erstbefragung korrekt gewesen sei. Seine Angaben seien vollständig gewesen und es gebe keine anderen Gründe. Außerdem komme den Angaben bei der Erstbefragung eine höhere Glaubwürdigkeit zu, da sie in der Regel weitgehend unbeeinflusst sind und nach eingehender Belehrung und Ausgabe entsprechender Informations- und Merkblätter erfolgt.

Der BF hätte sich aufgrund der Länderfeststellungen vom Wehrdienst freikaufen können. Zur Leistbarkeit stünde es ihm frei, Unterstützung von seinen im Ausland lebenden Verwandten einzuholen. Der BF erklärte, ein gutes familiäres Verhältnis zu haben. Auch sei er jung, gesund und arbeitsfähig. Zum aktuellen Zeitpunkt könne auch nicht festgestellt werden, dass seine Drogenabhängigkeit Einfluss auf seine Erwerbsfähigkeit hätte. Es stünde ihm auch frei, auf eigene finanzielle Ressourcen zurückzugreifen oder im Heimatstaat einen Kredit aufzunehmen.

Aus den aktuellen Länderfeststellungen ergebe sich auch, dass jeder türkische Staatsangehörige ab dem 20. Lebensjahr der Wehrpflicht unterliegt. Laut Angaben des BF befand sich dieser im Alter von 22 Jahren in der Türkei, woraus abzuleiten sei, dass im sowohl Einreise als auch Aufenthalt und Ausreise problemlos möglich waren, zumal er diesbezüglich auch keine Probleme ins Treffen führte.

Das allgemeine Vorbringen, beim Militärdienst aufgrund der kurdischen Ethnie Verfolgungshandlungen ausgesetzt zu sein, werde durch die zur Situation in der Türkei getroffenen Feststellungen, in denen mit hinreichender Deutlichkeit belegt ist, dass türkische Staatsbürger kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit alleine aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen unterworfen sind, entkräftet.

Voraussetzung für die Ableistung des Wehrdienstes ist eine Musterung. Erst danach wird über Wehrdienstfähigkeit oder Untauglichkeit entschieden. Im Rahmen der Musterung wird auch über Ausnahmen vom Wehrdienst entschieden. Da der BF mit keinem Wort erwähnte, dass er bei einer Musterung war, steht noch gar nicht fest, ob er überhaupt wehrdienstfähig ist.

Zu den Befürchtungen des BF wegen seiner Straftaten in Österreich sei anzumerken, dass die Türkei davon keine Kenntnis hat. Selbst wenn sie Kenntnis davon erlangen sollte, sei zu entgegnen, dass der BF türkischer Staatsangehöriger ist. Eine Gefährdung türkischer Straftäter im Ausland sei nicht zu erheben gewesen. Das Strafregister sei zudem ausschließlich auf das vom BF gesetzte Verhalten zurückzuführen, die Straftaten seien in der Türkei nicht abrufbar. Zudem habe der BF seine Straftaten teilweise während seines illegalen Aufenthaltes in Österreich gesetzt, was eindeutig zeige, dass der BF im Fall der drohenden Abschiebung, von der er aufgrund der Versagung der Verlängerung seines Aufenthaltstitels ausgehen musste, offenbar keine Repressalien seitens der Türkei gefürchtet hat.

Bei der Erstbefragung gab der BF an, auch eine Verfolgung aus religiösen Gründen zu befürchten. Beim BFA relativierte er dies, indem er angab, deswegen lediglich Diskriminierung zu befürchten.

Über Nachfrage gab der BF an, religiös zu leben, aber noch nie in einer Moschee gewesen zu sein.....Er sei zwar alevitischer Abstammung, habe aber keinen Bezug zu alevitischen Gebetshäusern und zum Beten.....Er habe keine Ängste hinsichtlich des Daseins als Alevit, sondern hinsichtlich der kurdischen Abstammung. Daraus ergebe sich, dass der BF eine Befürchtung wegen seiner Religion zuletzt ausgeschlossen hat und ausdrücklich erklärte, keine Ängste wegen seines Daseins als Alevit zu haben. Eine solche Gefährdung habe sich auch aus den Länderfeststellungen nicht ergeben.

Zum Vorbringen mangelhafter Türkischkenntnisse gab der BF beim BFA zunächst an, ein bisschen Türkisch zu sprechen. Über Vorhalt, dass er seine Türkischkenntnisse bei der Erstbefragung mit C1 angegeben hat, meinte der BF, dass Türkisch seine Muttersprache sei und er das von den Eltern gelernt habe. Gefragt wie es sein könne, dass sich innerhalb von 2 Wochen die Türkischkenntnisse von C1 auf "ein bisschen" reduzieren, gab der BF an, dass es in der Türkei sofort auffalle, dass er "Ausländer" ist. Zur Frage nach der Einschätzung seiner Türkischkenntnisse gab der BF an, dass er sich auf Türkisch verständigen könne und über Nachfrage, dass seine Türkischkenntnisse im Vergleich zu seinen Deutschkenntnissen nicht gut seien. Mit seiner Mutter spreche er Türkisch, er frage sie aber nur, wie es ihr geht. Über Vorhalt, wie es möglich sei, dass der BF den Gesprächsstoff mit seiner Mutter sein ganzes Leben auf die Frage nach ihrem Befinden beschränkt, gab der BF an, dass seine Mutter nicht lesen und schreiben könne. Wenn er mit ihr redet, dann Türkisch.....er führe mit seiner Mutter nur Smalltalk.....Mit seinem Vater unterhalte sich der BF so gut es geht auf Türkisch. Er frage

seinen Vater, wie es ihm geht und ob ihm etwas weh tut......dass er

nicht Kurdisch spricht erklärte der BF dahingehend, dass er nur 3 Wörter auf Kurdisch beherrsche.

Die Angaben des BF zu seinen Sprachkenntnissen waren insgesamt widersprüchlich und nicht glaubhaft. Die Schilderung, wonach sich der Gesprächsstoff mit der Mutter auf die Frage nach ihrem Befinden erschöpft, entbehrt jeder Logik, zumal mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass der BF mit seiner Mutter auch umfassendere Gespräche führte bzw. im Umgang mit seinen Familienangehörigen, zu welchen er eine gute Beziehung hat, weitaus redegewandter ist und der Gesprächsfluss durchaus tiefgründiger ist als vom BF behauptet. Zudem gab der BF an, einige Male in der Türkei aufhältig gewesen zu sein, wodurch die Behauptung, nicht türkisch zu können ins Leere geht. Es könne davon ausgegangen werden, dass sich der BF im Zuge seiner Verwandtenbesuche bzw. innerhalb der Familie ein Wissen in türkischer bzw. kurdischer Sprache angeeignet hat. Es sei allerdings nachvollziehbar, dass die Türkischkenntnisse des BF aufgrund des langjährigen Auslandsaufenthaltes nicht mit einem durchgehend in der Türkei lebenden Türken zu vergleichen sind. Dennoch könne diese Erwägung kein fundiertes Rückkehrhindernis bzw. den Zustand einer ausweglosen Lage darstellen.

Weiter lasse der zeitliche Zusammenhang zwischen der Versagung der Verlängerung des Aufenthaltstitels, des langjährigen illegalen Aufenthaltes, der erlassenen Rückkehrentscheidung iVm einem Einreiseverbot vom 24.5.2018 und der Asylantragstellung am 5.6.2018 den Schluss zu, dass die Asylantragstellung ausschließlich dem Zweck der Verhinderung der Abschiebung und der Erlangung eines Aufenthaltstitels in Österreich dienen sollte. Da der BF zwischenzeitig hinreichend Gelegenheit gehabt hätte, einen Asylantrag zu stellen, müsse die Behörde davon ausgehen, dass dieser Antrag einen Missbrauch des Asylrechts darstellt.

Es sei auch nicht ersichtlich, weshalb es dem BF nicht möglich sein sollte in der Türkei einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und so seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Bezüglich der Drogenabhängigkeit des BF sei auf eine AB der Staatendokumentation vom 4.7.2011 zu verweisen. Demnach gibt es in der Türkei sowohl ambulante als auch stationäre Drogentherapien. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der Praxisgebühr unentgeltlich.

Der Verlust des Aufenthaltsrechtes sei auf die zahlreichen strafgerichtlichen Verurteilungen des BF zurückzuführen.

Dass der BF eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, ergebe sich aus seinem illegalen Aufenthalt, dem kriminalpolizeilichen Aktenindex und seinen 16 rechtskräftigen Verurteilungen.

Gegen den BF wurde vor der Asylantragstellung eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot in der Dauer von 6 Jahren verhängt.

Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung war auszusprechen, da schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der BF eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt und gegen ihn vor der Stellung des ggst. Antrages eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung erlassen wurde. der BF wurde von seinem 16. Lebensjahr bis 2006 immer wieder straffällig, ehe er untertauchte. Er reiste unter Verwendung einer falschen Identität und eines falschen Reisedokumentes nach Spanien. 2017 reiste der BF illegal wieder nach Österreich. Er verübte von 1998 bis 2006 eine Vielzahl von Straftaten, wovon es in 16 Fällen zu rechtskräftigen Verurteilungen kam, darunter solche nach dem SMG.

I.6.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei traf die belangte Behörde ausführliche, aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.

I.6.3. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam.

I.7. Gegen diesen Bescheid wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

Im Wesentlichen wurde vorgebracht, dass der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen sei. Dem BF sei eine Rückkehr in die Türkei nicht zuzumuten, da er in Österreich geboren und aufgewachsen sei. Der BF habe beim BFA wahre Angaben gemacht und werde auf diese verwiesen. Der BF sei nicht jung. Außerdem sei er krank, suchtgiftabhängig. Wegen dieser Krankheit sei dem BF vom LG XXXX Therapie statt Strafe bewilligt worden, welche er derzeit stationär absolviert. Deshalb sei der BF derzeit auch nicht arbeitsfähig und sei ihm deshalb auch keine Rückkehr in die Türkei zumutbar. Beantragt werde eine mündliche Beschwerdeverhandlung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

II.1.1. Der Beschwerdeführer:

Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen türkischen Staatsangehörigen, welcher zur Volksgruppe Kurden gehört und Alevit ist. Der BF ist damit Drittstaatsangehöriger.

Der BF ist ein lediger, 35-jähriger, weitgehend gesunder, arbeitsfähiger Mann mit einer in der Türkei - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage.

Der BF wurde in Österreich geboren, ist bei seinen Eltern und 3 Schwestern aufgewachsen und hat hier die Volks- und Hauptschule besucht. 1998 wurde er aus disziplinären Gründen vom Schulbesuch suspendiert. Den Eltern kommt die türkische, den Schwestern die österreichische Staatsbürgerschaft zu. Er hat mehrere Lehren begonnen, jedoch keine abgeschlossen. Der BF verfügte bis November 2006 über einen Aufenthaltstitel, in der Folge bis dato nicht mehr. Er war von April 1998 bis November 2007 am Wohnsitz der Eltern aufrecht gemeldet. Er verließ jedoch bereits 2006 das österreichische Bundesgebiet Richtung Gran Canaria. Wo er sich in weiterer Folge genau aufhielt, war nicht feststellbar. Zwischen Oktober 2014 und Juli 2017 trat er jedoch in Spanien mit einer anderen Identität und einem auf diese Identität abgestimmten Reisepass mehrfach polizeilich in Erscheinung, er wurde im Zuge dessen unter anderem wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Einbruchsdiebstahls inhaftiert. Am 12.2.2017 wurde er in Österreich festgenommen.

Die Familie des BF stammt aus XXXX. Der BF spricht neben Deutsch auch Türkisch auf alltagstauglichem Niveau.

Welche konkreten Verwandten des BF in der Türkei leben, war nicht feststellbar

Die Identität des BF steht fest. Derzeit absolviert er seit 28.6.2018 eine stationäre Therapie für Suchtkranke. Dafür wurde ihm mit Beschlüssen des LG XXXX vom 13.12.2017, 19 Hv 12/17v bzw. 19 Hv 36/05h Strafaufschub in der Dauer von 2 Jahren gewährt.

Zwischen 1998 und 2017 wurde der BF wie folgt rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt:

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LG XXXX vom 20.4.1998 wegen §§ 127, 129 Abs. 2 und 83 Abs. 1 StGB (Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe)

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LG XXXX vom 17.5.1999 wegen §§ 127, 129 Abs. 1 und 2 iVm 15 und 164 Abs. 2 StGB zu einer bedingten Geldstrafe

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LG XXXX vom 27.8.1999 wegen §§ 127, 129 Abs. 1 iVm 15 und 136 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Geldstrafe

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LG XXXX vom 27.12.1999 wegen § 107 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Geldstrafe

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BG XXXX vom 16.3.2000 wegen § 83 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Geldstrafe

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LG XXXX vom 12.3.2001 wegen §§ 127, 128 Abs. 1 Z.4, 129 Abs. 1, 2 und 3 iVm 15 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten

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LG XXXX vom 10.9.2001 wegen §§ 127, 129 Abs. 1 und 2, 146, 147 Abs. 1 Z.1, 233 Abs. 1 Z.1 und 2 StGB sowie §§ 27 Abs. 1 und 28 Abs. 2 SMG iVm § 12 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten

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LG XXXX vom 15.4.2002 wegen § 105 Abs. 1 und 164 Abs. 2 und 4 StGB sowie § 27 Abs. 1 SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 4 Monaten

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BG XXXX vom 30.9.2003 wegen § 27 Abs. 1 SMG zu einer unbedingten Geldstrafe

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BG XXXX vom 13.1.2004 wegen § 83 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Geldstrafe

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LG XXXX vom 11.5.2004 wegen §§ 27 Abs. 1 und 28 Abs. 2 SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 20 Monaten

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BG XXXX vom 28.6.2005 wegen § 136 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Geldstrafe

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BG XXXX vom 7.3.2006 wegen § 83 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Geldstrafe

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LG XXXX vom 23.1.2006 wegen §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 und 288 Abs. 1 iVm 12 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 10 Monaten

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LG XXXX vom 7.3.2006 wegen §§ 27 Abs. 1 und 28 Abs. 2 SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 1 Jahr, 11 Monaten und 2 Wochen

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LG XXXX vom 2.8.2017 wegen § 28a Abs. 1 SMG iVm § 12 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 2 Jahren

Der BF hielt sich lediglich aufgrund der Bestimmungen des Asylgesetzes vorübergehend legal in Österreich auf und besteht kein Aufenthaltsrecht nach anderen gesetzlichen Bestimmungen.

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Türkei:

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

Politische Lage

Die Türkei ist eine parlamentarische Republik, deren rechtliche Grundlage auf der Verfassung von 1982 basiert. In dieser durch das Militär initiierten und vom Volk angenommenen Verfassung wird das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung verankert. Die Türkei ist laut Verfassung eine demokratische, laizistische, soziale und rechtsstaatliche Republik, welche die Menschenrechte achtet und sich dem Nationalismus Atatürks verbunden fühlt (bpb 11.8.2014). Oberhaupt des Staates ist der Staatspräsident (IFES 2016a). Recep Tayyip Erdogan, der zuvor zwölf Jahre lang Premierminister war, gewann am 10.8.2014 die erstmalige direkte Präsidentschaftswahl, bei der auch zum ersten Mal im Ausland lebende türkische Staatsbürger an nationalen Wahlen teilnahmen (bpb 11.8.2014; vgl. BBC 8.12.2015; vgl. Presse 10.8.2014).

Nach einer Unterredung mit Staatspräsident Erdogan kündigte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am 5.5.2016 seinen Rücktritt als Partei- und Regierungschef an. Davutoglu galt zuletzt als Erdogans Widersacher auf dem Weg zu einem Umbau der Türkei zur Präsidialrepublik (WZ 5.5.2016; vgl. SD 5.5.2016). Die Spannungen zwischen Davutoglu und seiner Partei erreichten am 29.4.2016 einen Höhepunkt, als das Zentrale Exekutivkomitee der AKP beschloss, Davutoglu die Befugnis zur Ernennung der lokalen Parteiführer zu entziehen (HDN 5.5.2016). Neuer Ministerpräsident wurde Ende Mai Binali Yildirim, der sich durch eine besondere, selbstbekundete Loyalität zu Staatspräsident Erdogan auszeichnet (NZZ 29.5.2016).

Der Ministerpräsident und die auf seinen Vorschlag hin vom Staatspräsidenten ernannten Minister bzw. Staatsminister bilden den Ministerrat, der die Regierungsgeschäfte führt. Überdies ernennt der Staatspräsident 14 von 17 Mitglieder des Verfassungsgerichtes für zwölf Jahre. In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt (bpb 11.8.2014).

Das türkische Parlament, die Große Türkische Nationalversammlung, wird für vier Jahre gewählt. Gewählt wird nach dem Verhältniswahlrecht in 85 Wahlkreisen. Im Unterschied zu unabhängigen KandidatInnen gilt für politische Parteien landesweit eine Zehn-Prozent-Hürde (OSCE 18.8.2015).

2015 fanden zweimal Parlamentswahlen statt. Die Wahlen vom 7.6.2015 veränderten die bisherigen Machtverhältnisse in der Legislative. Die seit 2002 alleinregierende AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) verlor zehn Prozent der Wählerstimmen und ihre bisherige absolute Mehrheit. Dies war auch auf den Einzug der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) zurückzuführen, die deutlich die nötige Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament schaffte (AM 8.6.2015; vgl. HDN 9.6.2015). Der Wahlkampf war überschattet von zahlreichen Attacken auf Parteilokale und physischen Übergriffen auch mit Todesopfern. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) kritisierte überdies den Druck auf regierungskritische Medien sowie die unausgewogene Berichterstattung, insbesondere des staatlichen Fernsehens zugunsten der regierenden AKP. Überdies hat Staatspräsident Erdogan im Wahlkampf eine aktive Rolle zugunsten seiner eigenen Partei eingenommen, obwohl die Verfassung den Staatspräsidenten zur Neutralität verpflichtet (OSCE 8.6.2015).

Die Parlamentswahlen vom 1.11.2015, die als Folge der gescheiterten Regierungsbildung abgehalten wurden, endeten mit einem unerwartet deutlichen Wahlsieg der seit 2002 alleinregierenden AKP. Die AKP gewann fast die Hälfte der abgegebenen Stimmen, was einen Zuwachs von rund neun Prozent im Vergleich zu den Juni-Wahlen bedeutete. Da die pro-kurdische HDP, zwar unter Verlusten, die nötige Zehn-Prozenthürde für den Einzug ins Parlament schaffte, verfehlte die AKP die Verfassungsmehrheit, um das von ihrem Vorsitzenden und gegenwärtigen Staatspräsident, Recep Tayyip Erdogan, angestrebte Präsidialsystem zu errichten (Guardian 2.11.2015; vgl. Standard 2.11.2015).

Im 550-köpfigen Parlament sind vier Parteien vertreten: die islamisch-konservative AKP mit 49,5 Prozent der Wählerstimmen und 317 Mandaten (Juni 2015: 258), die sozialdemokratische CHP (Republikanische Volkspartei) mit 25,3 Prozent und 134 Sitzen (bislang 132), die rechts-nationalistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) mit 11,9 Prozent und 40 Sitzen (bislang 80) sowie die pro-kurdische HDP mit 10,8 Prozent und 59 (bislang 80) Mandaten (IFES 2016b).

Der polarisierte Wahlkampf war überschattet von einer Gewalteskalation, insbesondere durch das Attentat vom 10.10.2015 in Ankara, bei welchem über 100 Menschen starben. Nebst Attacken vor allem auf Mitglieder und Parteilokale der pro-kurdischen HDP wurden mehrere HDP-Mitglieder festgenommen. Überdies wurden Mitglieder aller drei parlamentarischen Oppositionsparteien wegen Verunglimpfung von Amtsvertretern und Beleidigung des Staatspräsidenten angezeigt. Insbesondere im Südosten des Landes war infolge der verschlechterten Sicherheitslage und der darauf folgenden Errichtung von speziellen Sicherheitszonen und der Verhängung von Ausgangssperren ein freier Wahlkampf nicht möglich. Die zunehmende Anwendung von Bestimmungen des Anti-Terrorismus- und des Strafgesetzbuches während des Wahlkampfes führte dazu, dass gegen eine große Anzahl von Journalisten, Benutzern Sozialer- und Informationsmedien Untersuchungen wegen Verleumdung oder Terrorismusverdacht eingeleitet wurden. Zudem gab es Fälle von Gewalt gegen Medienhäuser und Journalisten (OSCE/ODHIR 23.10.2015; vgl. OSCE/ODHIR 2.11.2015).

Laut dem Bericht der Europäischen Kommission vom November 2016 sind Fortschritte in der Anpassung des Gesetzesrahmens an die Europäischen Standards ausgeblieben. Weiterhin bedarf es einer umfassenden Reform des parlamentarischen Regelwerkes, um die Inklusion die Transparenz und die Qualität der Gesetzgebung sowie eine effektive Aufsicht der Exekutive zu verbessern. Die parlamentarische Aufsicht über die Exekutive blieb schwach. Wann immer das Parlament seine Instrumente der Befragung oder der Untersuchungsausschüsse anwandte, blieben weiterführende Maßnahmen der Regierung unzureichend. Die Fähigkeit des Parlaments seine Schlüsselfunktionen, nämlich die Gesetzgebung und Aufsicht der Exekutive, auszuüben, blieb bis zum 15.7.2016 von politischer Konfrontation überschattet. Die Gesetzgebung wurde oft ohne ausreichende Debatte im Parlament und ohne Konsultation der Beteiligten vorbereitet und verabschiedet. Nach der Erklärung des Ausnahmezustandes und seiner Ausweitung war die Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren beschränkt. Es gab weder Fortschritte bei der Reform der parlamentarischen Regeln und Verfahren noch hinsichtlich der Wahl- und Parteiengesetzgebung nach Europäischen Standards. Der im Dezember 2013 zum Stillstand gekommene Verfassungsreformprozess wurde im Februar 2016 wiederbelebt. Allerdings brachen die Diskussionen im Vermittlungsausschuss des Parlaments bald zusammen, da es zur Blockade wegen des von der regierenden AKP vorgeschlagenen Präsidialsystems kam (EC 9.11.2016).

In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle (NZZ 17.7.2016). Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben (Standard 18.7.2016). Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt (SD 16.7.2016). Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt (WZ 19.7.2016a). Das Innenministerium suspendierte rund 8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure (HDN 18.7.2016). Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen (WZ 19.7.2016a; vgl. HDN 18.7.2016). Die Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter zeigte sich tief betroffenen über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Laut Richtervereinigung dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat Richterinnen und Richter nur in den in der Verfassung festgelegten Fällen und nach einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren versetzt oder abgesetzt werden (RIV 18.7.2016).

Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung (WZ 19.7.2016b). Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt (TS 19.7.2016; vgl. HDN 19.7.2016). Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden (Spiegel 19.7.2016).

Die Erklärung des Ausnahmezustandes vom 20. Juli führte zu erheblichen Gesetzesänderungen, die durch Dekrete ohne vorherige Konsultation des Parlaments angenommen wurden, obwohl eine begrenzte Konsultation der Oppositionsparteien vorgenommen wurde. Im Einklang mit Artikel 120 der Verfassung werden die Erlasse im Rahmen des Ausnahmezustands innerhalb von 30 Tagen dem Parlament zur Genehmigung unterbreitet. Die Einrichtung einer parlamentarischen Kommission, die Vertreter aller vier Parteien einschließt und Stellungnahmen zu den Dekreten erhält, die während des Ausnahmezustands erlassen werden sollen, wird geprüft (EC 9.11.2016).

Gegen die Dekrete kann nicht vor dem Verfassungsgericht vorgegangen werden. Während des Ausnahmezustands können nach Artikel 15 Grundrechte eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Auch dürfen Maßnahmen ergriffen werden, die von den Garantien in der Verfassung abweichen. Voraussetzung ist allerdings, dass Verpflichtungen nach internationalem Recht nicht verletzt werden. Unverletzlich bleibt das Recht auf Leben. Niemand darf zudem gezwungen werden, seine Religionszugehörigkeit, sein Gewissen, seine Gedanken oder seine Meinung zu offenbaren, oder deswegen bestraft werden. Strafen dürfen nicht rückwirkend verhängt werden. Auch im Ausnahmezustand gilt die Unschuldsvermutung (DTJ 21.7.2016). Der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland, machte unter Zitierung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) klar, wonach jegliche Beeinträchtigung von Rechten der Situation angemessen sein muss, und dass unter keinen Umständen von Artikel 2 - das Recht auf Leben, Artikel 3 - das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung und Artikel 7 - keine Bestrafung jenseits des Gesetzes, abgewichen werden darf. Opfer von Verletzungen der Menschenrechtskonvention durch die Türkei, infolge der verabschiedeten Maßnahmen unter dem Ausnahmezustand, hätten laut Jagland weiterhin das Recht, den EGMR anzurufen (CoE 25.7.2016).

Der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand ist Anfang Jänner 2017 bis zum 19. April 2017 verlängert worden. Das Parlament in Ankara stimmte dem Antrag der Regierung auf Verlängerung um weitere drei Monate zu. Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus begründete dies unter anderem mit anhaltenden terroristischen Angriffen auf die Türkei (FAZ 3.1.2017).

Seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli wurden in der Türkei bereits mehr als 42.000 Menschen festgenommen und etwa 120.000 weitere entlassen oder vom Dienst suspendiert. Rund 600 Unternehmen von angeblich Gülen-nahen Geschäftsleuten wurden unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Das enteignete Firmenvermögen beläuft sich auf geschätzte zehn Mrd. US-Dollar (FNS 1/2017). Laut "TurkeyPurge.com", einer Internetplattform, die aktuelle Informationen zur staatlichen Verfolgung von vermeintlichen Unterstützern des gescheiterten Putschen oder militanter Organisationen sammelt, waren mit Stand 5.2.2017 rund 124.000 Personen entlassen worden, davon fast 7.000 Akademiker sowie über

3.800 Richter und Staatsanwälte. Fast 91.000 Personen waren festgenommen worden, wovon über 44.500 inhaftiert wurden (TP 17.1.2017).

Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet (Spiegel 25.7.2015; vgl. DF 28.7.2015).

Hinsichtlich des innerstaatlichen Konfliktes forderte das EU-Parlament einen sofortigen Waffenstillstand im Südosten der Türkei und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses, damit eine umfassende und tragfähige Lösung zur Kurdenfrage gefunden werden kann. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) sollte die Waffen niederlegen, terroristische Vorgehensweisen unterlassen und friedliche und legale Mittel nutzen, um ihren Erwartungen Ausdruck zu verleihen (EP 14.4.2016; vgl. Standard 14.4.2016).

Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden. Die Gesetzesänderung, welche die Aufhebung der Immunität einer großen Zahl von Parlamentariern bewirkte sowie die darauf folgende Festnahme und Inhaftierung mehrerer Abgeordneter der [pro-kurdischen] HDP Anfang November 2016, die beiden Ko-Vorsitzenden eingeschlossen, werden mit großer Sorge gesehen (EC 9.11.2016).

Die von Staatschef Erdogan angestrebte Verfassungsreform für ein Präsidialsystem in der Türkei ist vom Parlament am 21.1.2017 verabschiedet worden. In Kraft treten können die Änderungen allerdings erst, wenn das Volk in einem Referendum zustimmt. Für das von der regierenden AKP vorgelegte Reformpaket aus 18 Artikeln stimmten 339 Abgeordneten, 142 waren dagegen. Die notwendige Drei-Fünftel-Mehrheit von mindestens 330 Stimmen wurde auch mit Hilfe von Abgeordneten aus der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP erzielt. Die Umsetzung der Verfassungsreform soll schrittweise erfolgen und bis Ende 2019 vollständig abgeschlossen sein. Das Präsidialsystem würde Staatspräsident Erdogan deutlich mehr Macht verleihen und das Parlament schwächen. Der Präsident würde zugleich als Staats- und Regierungschef amtieren und könnte weitgehend per Dekret regieren. Sein Einfluss auf die Justiz würde weiter zunehmen Die besagten Dekrete treten mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament (wie im derzeit geltenden Ausnahmezustand) ist nicht vorgesehen. Die Dekrete werden nur dann unwirksam, falls das Parlament zum Thema des jeweiligen Erlasses ein Gesetz verabschiedet. Per Dekret kann der Präsident auch Ministerien errichten, abschaffen oder umorganisieren (DTJ 23.1.2017; vgl. FAZ 21.1.2017). Obwohl Präsidentschaftsdekrete einer Überprüfung durch das Verfassungsgericht unterliegen, dürfte das Gericht nicht mehr unabhängig und unparteiisch genug sein. Nach der Verfassungsänderung hätte das Verfassungsgericht 15 Mitglieder, die meisten direkt oder indirekt vom Präsidenten ernannt. Darüber hinaus wird der Präsident auch eine wichtige Rolle bei der Formierung des Obersten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) spielen (WP 24.1.2017). Laut Ministerpräsident Yildirim sollte das Referendum Anfang April 2017 stattfinden (TM 26.1.2017).

Quellen:

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AM - Al Monitor (8.6.2015): Turkey Pulse: What's next for Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2015/06/turkey-elections-what-next-coalitions-akp-chp-hdp.html?utm_source=Al-Monitor+Newsletter+%5BEnglish%5D&utm_campaign=16d225108b-June_08_2015&utm_medium=email&utm_term=0_28264b27a0-16d225108b-102453981, Zugriff 24.1.2017

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BBC News (8.12.2015): Turkey country profile, http://www.bbc.com/news/world-europe-17988453, Zugriff 24.1.2017

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bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (11.8.2014): Das politische System der Türkei,

http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184968/das-politische-system-der-tuerkei, Zugriff 24.1.2017

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CoE - Council of Europe, Human Rights Europe (25.7.2016):

Thorbjørn Jagland: Council of Europe focussed on protecting human rights and democracy in Turkey, http://www.humanrightseurope.org/2016/07/thorbjorn-jagland-council-of-europe-focussed-on-protecting-human-rights-and-democracy-in-turkey/, Zugriff 25.1.2017

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Der Standard (14.4.2016): EU-Parlament kritisiert Rückschritte der Türkei,

http://derstandard.at/2000034877696/EU-Parlament-kritisiert-Rueckschritte-der-Tuerkei, Zugriff 25.1.2017

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Der Standard (18.7.2016): Türkei - Die tadellosen Männer putschten womöglich zu früh,

http://derstandard.at/2000041330782/Tuerkei-Die-tadellosen-Maenner-putschen-womoeglich-zu-frueh, Zugriff 25.1.2017

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Der Standard (2.11.2015): Sieg für Erdogan: AKP kann in der Türkei wieder allein regieren,

http://derstandard.at/2000024890539/Teilergebnisse-Klarer-Sieg-fuer-Erdogan, Zugriff 24.1.2017

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DF - Deutschlandfunk (28.7.2015): Präsident Erdogan beendet Friedensprozess mit PKK,

http://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-praesident-erdogan-beendet-friedensprozess-mit-pkk.1818.de.html?dram:article_id=326655, Zugriff 24.1.2017

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DTJ - Deutsch Türkisches Journal (21.7.2016): Türkei:

Ausnahmezustand in Kraft - das sagt die Verfassung, http://dtj-online.de/turkei-ausnahmezustand-in-kraft-das-sagt-die-verfassung-77612, Zugriff 25.1.2017

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DTJ - Deutsch Türkisches Journal (23.1.2017): Die Verfassungsreform ist durchs Parlament, nun muss das Volk entscheiden,

http://dtj-online.de/die-verfassungsreform-ist-durchs-parlament-nun-muss-das-volk-entscheiden-82391, Zugriff 25.1.2017

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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