Entscheidungsdatum
26.09.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
I420 2163521-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Magdalena HONSIG-ERLENBURG als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Helmut Blum, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.06.2017, Zl. 1103652606-160142705, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.05.2018, zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass es zu lauten hat:
"Es wird gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. XXXX wird §§ 54, 55 Abs. 2 und 58 Abs. 2 AsylG der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt."
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der (damals minderjährige) Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 28.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen einer durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Oberösterreich am 28.01.2016 erfolgten Erstbefragung führte der BF aus, aus der Provinz Baghlan zu stammen, ledig zu sein und der Volksgruppe der Tadschiken sowie der sunnitischen Religionsgemeinschaft anzugehören. Sein Heimatland Afghanistan habe er verlassen, da die Taliban von ihm verlangt hätten, sich ihnen anzuschließen. Der BF habe Angst um sein Leben.
I.2. Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 10.06.2016 wurde aufgrund eines beauftragten medizinischen Sachverständigengutachtens vom 08.06.2016 festgestellt, dass es sich beim BF um eine minderjährige Person handle und der BF spätestens am XXXX geboren sei.
I.3. Am 04.11.2016 wurde der BF von dem zu Entscheidung berufenen Organwalter des BFA in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und im Beisein seiner gesetzlichen Vertretung niederschriftlich einvernommen und dabei u.a. zu seinem Gesundheitszustand, seinem Leben in Afghanistan, seinen Familienangehörigen und seinen Lebensumständen in Österreich befragt. Befragt nach seinen Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen, führte der BF aus, dass er fünf Monate vor seiner Ausreise auf den Feldern von den Taliban, welche bewaffnet gewesen seien, geschlagen sowie aufgefordert worden sei, die Taliban zu unterstützen. Einer seiner Brüder sei ein Monat vor der Ausreise des BF von den Taliban geköpft worden, da er als Polizist tätig gewesen sei. Die Taliban hätten dem Vater des BF telefonisch gedroht, dass auch der zweite Bruder des BF, der ebenfalls Polizist sei, getötet werden würde, wenn er nicht seine Arbeit aufgeben würde. Zudem sei auch gedroht worden, den BF zu töten. Der Bruder des BF habe sich jedoch geweigert seinen Beruf aufzugeben. Daraufhin habe der Vater des BF beschlossen, den BF nach Europa zu schicken. Im Iran sei der BF von Dieben entführt worden und unter Zahlung von Lösegeld durch seinen Vater wieder frei gelassen worden.
Im Zuge der Einvernahme legte der BF seine Tazkira, Unterlagen zum Beweis seiner Integration und Empfehlungsschreiben vor.
I.4. Mit Bescheid des BFA vom 14.06.2017, Zl. 1103652606-160142705, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel nicht erteilt, gegen den BF eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
Das BFA wertete die vorgebrachten Fluchtgründe als nicht glaubhaft, womit eine asylrelevante Verfolgung des BF in Afghanistan nicht festzustellen und ihm somit nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen sei. Unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände gerate der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht in eine ausweglose oder die Existenz bedrohende Lage und scheide daher auch die Gewährung subsidiären Schutzes aus. Es hätten zudem keine Gründe festgestellt werden können, wonach bei einer Rückkehr des BF gegen Art. 8 Abs. 2 EMRK verstoßen werden würde und sei daher auch eine Rückkehrentscheidung zulässig.
I.5. Gegen den angeführten Bescheid vom 14.06.2017 erhob der BF - durch seine Rechtsvertretung - mit Schreiben vom 29.06.2017 wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes sowie wegen Rechtswidrigkeit in Folge der Verletzung von Verfahrensvorschriften die vorliegende Beschwerde.
Es wurden die Anträge gestellt, dem BF den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen; allenfalls ihm den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen; allenfalls die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären;
allenfalls einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen; allenfalls den Bescheid aufzuheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Bescheiderlassung zurückzuverweisen;
und eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.
Begründend wurde u.a. ausgeführt, dass der BF aus Furcht vor Zwangsrekrutierung durch die Taliban das Land verlassen habe. Im Falle einer Rückkehr sei er immer noch dieser Verfolgungssituation ausgesetzt, vor der die afghanischen Behörden nicht gewillt seien, ihn zu beschützen. Bei einer Rückkehr würden die Taliban den BF ausfindig machen und ihm eine bestimmte politische Gesinnung unterstellen, da er sich geweigert habe, mit den Taliban zusammenzuarbeiten. Der BF habe seinen Fluchtgrund schlüssig und ausführlich dargelegt, zumal die konkrete Bedrohungslage für den BF im Sinne der Länderberichte sehr wohl plausibel sei. Unter Verweis auf zitierte Berichte bestehe für den BF eine asylrelevante Verfolgung bzw. gebe es für den BF keine interne Schutzalternative in Afghanistan.
I.6. Mit Schreiben vom 23.11.2017 legte der BF - durch seine nunmehrige Rechtsvertretung - einen medizinischen Befund hinsichtlich einer posttraumatischen Störung sowie Unterlagen zum Beweis der Integration vor und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
I.7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 09.05.2018 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der BF und seine Rechtsvertretung teilnahmen. Das BFA verzichtete bereits mit Schreiben vom 05.07.2017 auf die Teilnahme an einer Verhandlung.
Im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari wurde der BF u.a. zu seiner Identität, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Herkunftsprovinz, seinen Familienverhältnissen, seinen Lebensumständen in Afghanistan, seinen Fluchtgründen und seinem Leben in Österreich ausführlich befragt. Seitens des BF wurden eine Schulnachricht der landwirtschaftlichen Fachschule XXXX für das Jahr 2017/2018, eine Suchanfrage des Roten Kreuzes zum Verbleib der Familie in Afghanistan und ein Artikel von XXXX zur Lage in Afghanistan vorgelegt.
Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurden seitens der erkennenden Richterin zudem Länderberichte zur aktuellen Situation in Afghanistan in das Verfahren eingeführt.
I.8. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.07.2018 wurde dem BF Parteiengehör zur Gesamtaktualisierung der Länderberichte zur aktuellen Situation in Afghanistan vom 29.06.2018 gewährt.
I.9. Mit Schreiben des BF vom 17.08.208 wurde der Antrag auf Fristerstreckung zur Erstattung einer Stellungnahme bis zum 31.08.2018 gestellt.
I.10. Mit Schreiben vom 17.08.2018 erstattete der BF - durch seine Rechtsvertretung - eine Stellungahme zu den aktuellen Länderberichten. Es wurde zudem ausgeführt, dass der BF aufgrund seines langjährigen Auslandsaufenthaltes in intensiver Gefahr wäre, als "verwestlicht" angesehen zu werden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
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Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA; insbesondere in die Befragungsprotokolle;
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Befragung des BF und einer Zeugin im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 09.05.2018;
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Einsicht in die Stellungnahmen des BF vom 23.11.2017 vom 17.08.2018;
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Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;
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Einsicht in das Strafregister und in das Zentrale Melderegister.
II.1. Sachverhaltsfeststellungen:
II.1.1. Zum Beschwerdeführer:
Der BF ist afghanischer Staatsbürger und sunnitischer Moslem. Er gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, ist ledig und volljährig. Seine Identität steht nicht fest.
Der BF stammt aus der Provinz Baghlan, wo er sich seit seiner Geburt bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2015 aufgehalten hat. Der BF spricht Dari.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF aufgrund der Tätigkeit seiner Brüder als Polizisten in Afghanistan von den Taliban zwangsrekrutiert hätte werden sollen bzw. mit dem Tode bedroht worden ist und im Falle einer Rückkehr von diesen eine konkrete persönliche - landesweite - Verfolgung zu befürchten hat.
Der BF ist im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keiner persönlichen und konkreten Verfolgung aufgrund einer "westlichen" Lebenseinstellung ausgesetzt.
Der BF hat drei Jahre lang die Schule besucht und gelegentlich am landwirtschaftlichen Betrieb seines Vaters mitgeholfen. Sein Lebensunterhalt ist in Afghanistan aufgrund seines jungen Alters von seinem Vater finanziert worden. Aufgrund seiner Arbeitserfahrung auf dem landwirtschaftlichen Betrieb in Afghanistan hat er eine Chance am afghanischen Arbeitsmarkt unterzukommen.
Seine Eltern, ein Bruder und eine Schwester sowie ein Onkel leben noch in Afghanistan, wobei derzeit kein Kontakt zu diesen besteht. Die Familie des BF hat ein Haus und landwirtschaftliche Grundstücke. In Österreich hat der BF keine Verwandten.
Der BF steht in Österreich aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung in ärztlicher Behandlung. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF an schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen leidet. Der Gesundheitszustand des BF steht seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht entgegen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Fall einer Rückführung in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit dem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw. der Gefährdung seines Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre.
Zudem kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer allfälligen Rückkehr nach Kabul nicht im Stande wäre, für ein ausreichendes Auskommen im Sinne der Sicherung seiner Grundbedürfnisse zu sorgen und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr ausgesetzt wäre, in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten.
Der BF besucht derzeit erfolgreich eine landwirtschaftliche Fachschule in XXXX und befindet sich in der 9. Schulstufe. Der BF ist gut in die Klassengemeinschaft integriert. Der BF zeigt sich an seiner Weiterbildung interessiert, hat an einem Seminar zum Thema "Geschlechterrollen" und an einem "Deutsch-Integrationskurs (Sprachniveau A1)" der VHS XXXX sowie an einem Deutschkurs der Caritas teilgenommen. Er war vor seinem Schulbesuch ehrenamtlich tätig. Der BF hat durch ein "Patenschaftsprogramm" der Caritas engen Kontakt zu einer österreichischen Familie. Er wohnt mittlerweile mit Angehörigen dieser Familie zusammen. Der BF hat im März 2017 ein ÖSD Deutsch-Zertifikat auf Niveau A1 erworben.
Der BF bezieht in Österreich Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und geht in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nach. Der BF ist strafrechtlich unbescholten.
II.1.2. Zur Situation im Herkunftsland (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018):
Politische Lage:
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).
Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1253781/4598_1478857553_3-deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-afghanistan-19-10-2016.pdf, Zugriff 23.4.2018
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AB - Afghan Bios (15.1.2016): National Congress Party, http://www.afghan-bios.info/index.php?option=com_afghanbios&id=3453&task=view&total=4&start=0&Itemid=2, Zugriff 29.5.2018
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AE - Afghan Embassy (o.D.): Islamic Republic of Afghanistan, The Constitution of Afghanistan,
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