TE Bvwg Beschluss 2018/10/1 W191 2203864-1

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Veröffentlicht am 01.10.2018
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Entscheidungsdatum

01.10.2018

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W191 2203864-1/5E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht fasst durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geboren am XXXX alias XXXX, Staatsangehörigkeit Indien, vertreten durch die Österreichische Flüchtlings- und MigrantInnenhilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.07.2018, Zahl 1199116603-180667450, den Beschluss:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

1. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein indischer Staatsangehöriger aus dem Bundesstaat Punjab, reiste nach seinen Angaben irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte nach seiner vorläufigen Festnahme am 16.07.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. In seiner Erstbefragung am 16.07.2018 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Punjabi im Wesentlichen Folgendes an:

Er sei am XXXX geboren, stamme aus Ramowal (Bundesstaat Punjab, Indien), sei Angehöriger der Volksgruppe/Kaste der Jat und der Glaubensgemeinschaft der Sikhs und ledig. Er habe zwölf Jahre die Grundschule besucht und sei nicht erwerbstätig gewesen. Seine Eltern seien verstorben.

Zu seinem Reiseweg befragt gab der BF an, er sei am 22.06.2018 mit einem LKW vom Punjab nach Mumbai gefahren, dort in ein Schiff gestiegen und in einem unbekannten Land ausgestiegen. Dann sei er in einem LKW - über ihm unbekannte Länder - bis hierher weitergereist. In der Stadt im Park habe ihn ein pakistanischer Zeitungszusteller angesprochen und dann hierher gebracht. Sein Onkel habe die Reise (über einen Schlepper) organisiert.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass es in seinem Dorf viele Drogensüchtige gegeben hätte. Er hätte gemeinsam mit anderen Jugendlichen versucht, sie vom Drogenkonsum abzuhalten. Deshalb seien sie von den Drogensüchtigen mit dem Umbringen bedroht worden. Einen seiner Freunde, XXXX, hätten die Drogensüchtigen am 10.06.2018 umgebracht, deshalb hätte er Indien verlassen.

1.3. Dem Verwaltungsakt liegt auf Seite 37 ein Blatt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Erstaufnahmestelle Ost in Traiskirchen - also im Zulassungsverfahren - mit der Überschrift "Parteiengehör" ein, laut welchem dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Indien ausgefolgt und ihm die Möglichkeit eingeräumt wurde, dazu binnen drei Tagen in deutscher Sprache Stellung zu nehmen. Das Blatt enthält zwar eine Unterschrift des BF, aber kein Datum.

Folgend liegt dem Verwaltungsakt das gesamte Länderinformationsblatt zu Indien (136 Seiten) ein, beinhaltend auch all jene Textstellen, die mit dem gegenständlichen Verfahren in keinem Zusammenhang stehen.

1.4. Der BF wurde offenbar aus der Haft entlassen.

Bei seiner Einvernahme am 25.07.2018 vor dem BFA, Erstaufnahmestelle Ost in Traiskirchen - also offenbar immer noch im Zulassungsverfahren -, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Punjabi, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben und gab im Wesentlichen Folgendes an: Er könne keinerlei Beweismittel, identitätsbezeugende Dokumente oder medizinische Befunde vorlegen. Er lebe derzeit in der Asylwerberunterkunft in Traiskirchen und sei gesund und arbeitsfähig. Er spreche Punjabi und ein bisschen Englisch, aber nicht Deutsch. In Österreich habe er keine Kontakte.

[Mit dem Schlepper] Abgemacht gewesen als Zielland sei eigentlich die USA, wo er studieren hätte wollen.

Die Frage, ob er bei der Erstbefragung alle seine Fluchtgründe genannt habe, bejahte der BF. Auf die Möglichkeit, zu den ihm übergebenen Erkenntnisquellen zu Indien eine mündliche Stellungnahme abzugeben, verzichtete er.

Er wolle hier bleiben, arbeiten und sein Studium (der "Sprache") finanzieren.

1.5. Dem Verwaltungsakt liegt auf Seite 217 ein Blatt mit der Überschrift "Verfahrensanordnung" ein, mit dem dem BF "gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG" mitgeteilt wurde (mit Datum und Unterschrift), dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz "zurückzuweisen", da eine Zuständigkeit des "Dublinstaates Indien" angenommen werde.

1.6. Am 31.07.2018 führte das BFA - wieder die EAST und somit offenbar weiterhin im Zulassungsverfahren - eine weitere Einvernahme des BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Punjabi und (laut Kopf der Niederschrift) einer "Vertreterin" des BF - im Fließtext der Niederschrift genannt "RB", also wohl eine Rechtsberaterin im Zulassungsverfahren - durch.

Darin wurde der BF etwas genauer zu seinem Fluchtgrund befragt, und beantwortete er die ihm gestellten Fragen. Sein getöteter Freund habe XXXX geheißen. Auf die Frage, was damals passiert sei, sagte der BF, er sei nicht dabei gewesen und hätte nur erfahren, dass sein Freund umgebracht worden sei. Er sei einmal auf der Straße geschlagen worden. Er hätte Anzeige bei der Polizei erstattet, die gesagt hätte, sie würde mit den Leuten sprechen, die Leute hätten aber nicht damit [Anmerkung: wohl mit dem Drogenkonsum] aufgehört. Sie hätten Kokain konsumiert. In Indien sei Drogenkonsum illegal und man werde bestraft ("eingesperrt"), aber viele Leute würden Drogen nehmen. Er habe sich mit den Drogensüchtigen angelegt, weil sie sie hätten abhalten wollen, andere Leute im Dorf süchtig zu machen. Auf die Frage, ob das nicht Aufgabe der Polizei sei, sagte der BF, die Polizei mache nichts, aber sie hätten ein paar Mal mit der Polizei gesprochen. Auf die Frage, ob er sich Gedanken zu einer "innerstaatlichen Fluchtalternative" gemacht habe, sagte der BF, sie hätten ihn in Indien gefunden. Auf die Frage, ob er wisse, wie viele Einwohner Indien habe, sagte der BF: "Nein. Ich schätze 4-5 Millionen Einwohner."

1.7. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 31.07.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 16.07.2018 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Indien gemäß § 46 FPG zulässig sei. In Spruchpunkt IV. wurde einer Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 18 Abs. 1 Z 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt. Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise des BF.

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Sein Geburtsdatum wurde - aktenwidrig - mit XXXX angeführt. Zu seiner Religion wurde "festgestellt": "Sie glauben an die Sikh".

Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Indien. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Indien. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre.

Die Feststellungen zur Situation in Indien wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Zu seinem Fluchtvorbringen führte das BFA beweiswürdigend knappest - und teilweise aktenwidrig (die Drogensüchtigen würden "sich" angeblich umbringen wollen) - aus, dass die Darstellung des BF, dass die Polizei den erwähnten Drogenmissbrauch nicht ahnden würde, unglaubwürdig sei. Streitereien von Privatperson[en] seien kein asylrelevanter Fluchtgrund.

Einer allfälligen Beschwerde gegen diesen abweisenden Bescheid wurde die aufschiebende Wirkung gemäß § 18 Abs. 1 "AsylG" [richtig:

BFA-VG] Z 4 aberkannt, da "der Asylwerber Verfolgungsgründe nicht vorgebracht" habe.

1.8. Gegen diesen Bescheid brachte der BF fristgerecht mit sehr knappem Schreiben seines gewillkürten Vertreters vom 16.08.2018 das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen unrichtigen Feststellungen, "Mangelhaftigkeit des Verfahrens" und unrichtiger rechtlicher Beurteilung ein.

Das "Bundesasylamt" habe es verabsäumt, sich mit der konkreten Situation des BF und der aktuellen Situation in Indien auseinanderzusetzen, sodass eine rechtliche Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des BF nicht möglich gewesen sei.

1.9. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt dem BVwG vor und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen. Die Beschwerde langte am 21.08.2018 beim BVwG ein.

Mit Aktenvermerk vom 22.08.2018 hielt das BVwG fest, dass der Beschwerde gegen den verfahrensgegenständlichen Bescheid die aufschiebende Wirkung nicht zuzuerkennen sei.

Es sei aus ho. derzeitiger Sicht (auf Basis der aktuell vorliegenden Aktenlage) nicht anzunehmen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF nach Indien eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Ein diesbezügliches Vorbringen sei - nach dem Ergebnis einer Grobprüfung - nicht glaubhaft erstattet worden.

2. Rechtliche Beurteilung und Beweiswürdigung:

2.1. Anzuwendendes Recht:

Gegenständlich sind die Verfahrensbestimmungen des AVG, des BFA-VG, des VwGVG und jene im AsylG enthaltenen sowie die materiellen Bestimmungen des AsylG in der geltenden Fassung samt jenen Normen, auf welche das AsylG verweist, anzuwenden.

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG, BGBl. I Nr. 10/2013 in der geltenden Fassung, entscheidet das BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 in der geltenden Fassung, entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA das BVwG.

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Gemäß § 15 AsylG hat der Asylwerber am Verfahren nach diesem Bundesgesetz mitzuwirken und insbesondere ohne unnötigen Aufschub seinen Antrag zu begründen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.

Gemäß § 18 AsylG hat die Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Bescheinigungsmittel für die Angaben bezeichnet oder die angebotenen Bescheinigungsmittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Bescheinigungsmittel auch von Amts wegen beizuschaffen.

2.2. Rechtlich folgt daraus:

2.2.1. Die gegenständliche, zulässige und rechtzeitige Beschwerde wurde am 16.08.2018 beim BFA eingebracht und ist beim BVwG am 21.08.2018 eingegangen. Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des BVwG zuständigen Einzelrichter.

Zu Spruchteil A):

2.2.2. Gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht (VwG) den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, sofern die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat.

Zur Anwendung der Vorgängerbestimmung des § 66 Abs. 2 AVG durch den Unabhängigen Bundesasylsenat - an dessen Stelle als Rechtsmittelinstanz in Asylsachen mit 01.07.2008 der Asylgerichtshof und mit 01.01.2014 das BVwG getreten ist - hat der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) mit Erkenntnis vom 21.11.2002, 2002/20/0315, ausgeführt:

"Im Berufungsverfahren vor der belangten Behörde ist gemäß § 23 AsylG und Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG (unter anderem) § 66 AVG anzuwenden. Nach § 66 Abs. 1 AVG in der Fassung BGBl. I Nr. 158/1998 hat die Berufungsbehörde notwendige Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durch eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde durchführen zu lassen oder selbst vorzunehmen. Außer dem in § 66 Abs. 2 AVG erwähnten Fall hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, gemäß § 66 Abs. 4 AVG immer in der Sache selbst zu entscheiden (vgl. dazu unter dem besonderen Gesichtspunkt der Auslegung der Entscheidungsbefugnis der belangten Behörde im abgekürzten Berufungsverfahren nach § 32 AsylG die Ausführungen im Erkenntnis vom 23.07.1998, 98/20/0175, Slg. Nr. 14.945/A, die mehrfach vergleichend auf § 66 Abs. 2 AVG Bezug nehmen; zu diesem Erkenntnis siehe auch Wiederin, ZUV 2000/1, 20 f.)"

Mit Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, hat der VwGH einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsbeschluss eines VwG aufgehoben, weil das VwG in der Sache selbst hätte entscheiden müssen. In der Begründung dieser Entscheidung führte der VwGH unter anderem aus, dass die Aufhebung eines Bescheides durch ein VwG nicht in Betracht kommt, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies werde jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen werde insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gelte, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen ließen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hätte, damit diese dann durch das VwG vorgenommen werden.

2.2.3. Im vorliegenden Fall war es die Aufgabe der belangten Behörde zu klären, ob der BF zum einen eine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen konnte, und zum anderen, ob darüber hinaus menschen- bzw. asylrechtliche Gründe einer Rücküberstellung bzw. Ausweisung in seinen Herkunftsstaat entgegenstehen würden und ihm der Status als subsidiär Schutzberechtigter zu gewähren wäre.

Mag auch im Ergebnis der BF wenig Anhaltspunkte für das Vorliegen eines asylrelevanten Verfolgungsgrundes oder von Gründen, die einer Rücküberstellung in seinen Herkunftsstaat entgegenstehen würden, gegeben haben, so ist doch festzuhalten, dass das gegenständliche Verwaltungsverfahren vielfach nur rudimentär und grob mangelhaft geführt worden ist und somit relevante Mängel aufweist:

* Der Sachverhalt wurde nur sehr mangelhaft ermittelt. So wurde etwa nicht versucht zu klären, wovon der BF im Herkunftsstaat gelebt hätte, wenn doch seine Eltern verstorben seien und er die Schule besucht hätte, aber noch nie erwerbstätig gewesen wäre.

* Die "Verfahrensanordnung" auf Seite 217 des Verwaltungsaktes - ohne Datum - wonach dem BF "gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG" mitgeteilt worden sei, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz "zurückzuweisen", da eine Zuständigkeit des "Dublinstaates Indien" angenommen werde, basiert offenbar auf einem groben Irrtum hinsichtlich der Mitgliedstaaten des Dublin-Übereinkommens.

* Die Aktenführung ist auffällig mangelhaft: Der Akt enthält umfangreich überflüssige Bestandteile - etwa das gesamte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Indien (mit weit über 100 Seiten), samt allen auch im gegenständlichen Verfahren nicht relevanten Textstellen -, was die leichte Nachvollziehbarkeit des Verfahrens erschwert. Umgekehrt sind dem Akt wichtige Informationen nicht zu entnehmen, etwa ob und wann der BF aus der vorläufigen Haft entlassen worden ist, ob der zweiten Einvernahme vor dem BFA wirklich ein "Vertreter" (Kopf der Niederschrift) oder ein "RB" (laut Text der Niederschrift) - wohl ein Rechtsberater im Zulassungsverfahren? - beigewohnt hat. Weiters enthält der Akt eine Vielzahl an Fehlern (von sprachlichen, grammatikalischen und Schreibfehlern noch abgesehen); so wird in der Bescheidbegründung bezüglich der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung § 18 "AsylG" statt richtig BFA-VG angeführt. Und überdies enthält der Akt manche sinnentleerte Aussagen, wie etwa in der Bescheidbegründung die Feststellung: "Sie glauben an die Sikh".

* Bezüglich der dem BF eingeräumten Möglichkeit, zu dem ihm ausgefolgten Länderinformationsblatt binnen drei Tagen in deutscher Sprache eine Stellungnahme abzugeben, erscheint diese Frist im Hinblick auf die mangelnden Sprachkenntnisse des BF nicht als angemessen.

* Die Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid ist äußerst knapp und hält nicht hinreichend fest, aus welchem Grund das BFA nun welchen Sachverhalt als glaubhaft gemacht erachtet. Dies zeigt sich auch in der Wahl des Grundes für die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde, wo das BFA den Grund des § 18 Abs. 1 Z 4 BFA-VG - der Asylwerber hätte Verfolgungsgründe nicht vorgebracht - und nicht den wohl zutreffenderen Grund der Z 5 - wonach das Vorbringen des Asylwerbers zu seiner Bedrohungssituation offensichtlich nicht den Tatsachen entspreche - seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat.

* Das gesamte Verfahren vor dem BFA wurde vor der EAST Ost in Traiskirchen geführt, auch den - abweisenden - Bescheid hat diese Organisationseinheit erlassen. Wenn dies auch nicht grundsätzlich Rechtswidrigkeit indiziert, so ist dem Akt doch in keiner Weise zu entnehmen, wann das Verfahren des BF für zulässig erklärt worden wäre und daher - von einer auch organisationsintern zuständigen Einrichtung - eine inhaltliche Entscheidung über den Antrag des BF getroffen wurde.

* Wenn auch das BVwG von einer Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung abgesehen hat, weil im Falle einer Rücküberstellung des BF auch auf der Basis eines derart fehlerhaften Verfahrens und Bescheides eine Verletzung der maßgeblichen Menschenrechte noch nicht zu befürchten war, so ist doch der Umstand, dass das BFA im Bescheid - erstmals und aktenwidrig - das vom BF angegebene Geburtsdatum aktenwidrig verändert hat (statt XXXX nun XXXX) nicht zu tolerieren, zumal damit nicht einmal mehr Verfahrensidentität gegeben ist.

2.2.4. Zusammengefasst ist festzustellen, dass das BFA in Bezug auf die Ermittlung der Sachlage bezüglich der Frage des Vorliegens asylrelevanter Verfolgung als auch bezüglich der Frage des Refoulementschutzes bei weitem nicht mit der gebotenen Genauigkeit und Sorgfalt vorgegangen ist und die Sachlage nicht ausreichend erhoben bzw. sich (in der Bescheidbegründung) nur mangelhaft mit den Angaben des BF und den Beweisergebnissen auseinandergesetzt hat.

Der VwGH verlangt in seiner Rechtsprechung eine ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens eines Asylwerbers unter dem Gesichtspunkt der Konsistenz der Angaben, der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers und der objektiven Wahrscheinlichkeit seines Vorbringens, wobei letzteres eine Auseinandersetzung mit (aktuellen) Länderberichten verlangt (VwGH 26.11.2003, 2003/20/0389). Aufgrund des mangelnden Ermittlungsverfahrens hat die belangte Behörde jedenfalls eine solche ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens nicht vorgenommen, da die belangte Behörde dieses offensichtlich nicht anhand der konkret entscheidungsrelevanten aktuellen Situation gewürdigt hat.

Aus Sicht des BVwG verstößt das Prozedere der belangten Behörde gegen die in § 18 Abs. 1 AsylG normierten Ermittlungspflichten. Die Asylbehörden haben in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen durch Fragestellung oder in anderer geeigneter Weise darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen. Diese Rechtsnorm, die eine Konkretisierung der aus § 37 AVG in Verbindung mit § 39 Abs. 2 leg. cit. hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde, den maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen darstellt, hat die Erstbehörde in diesem Verfahren missachtet.

Im gegenständlichen Fall sind der angefochtene Bescheid der belangten Behörde und das diesem zugrunde liegende Verfahren im Ergebnis so mangelhaft, dass die Zurückverweisung der Angelegenheit an die belangte Behörde zur Erlassung eines neuen Bescheides unvermeidlich erscheint. Weder erweist sich der Sachverhalt in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt, noch ergibt sich aus den bisherigen Ermittlungen sonst zweifelsfrei, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspräche. Im Gegenteil ist das Verfahren der belangten Behörde mit den oben dargestellten schweren Mängeln behaftet. Die Vornahme der angeführten Feststellungen und Erhebungen durch das BVwG selbst verbietet sich unter Berücksichtigung der oben dargestellten Ausführungen des VwGH und unter Effizienzgesichtspunkten, zumal diese grundsätzlich vom BFA durchzuführen sind.

2.2.5. Im fortgesetzten Verfahren wird das BFA die dargestellten Mängel zu verbessern und in Wahrung des Grundsatzes des Parteiengehörs dem BF die Ermittlungsergebnisse zur Kenntnis zu bringen haben.

Zu Spruchteil B):

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

In der rechtlichen Beurteilung (Punkt 2.) wurde unter Bezugnahme auf die Judikatur des VwGH ausgeführt, dass im erstbehördlichen Verfahren notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt keine grundsätzliche Rechtsfrage vor, weil § 28 Abs. 3 2. Satz inhaltlich § 66 Abs. 2 AVG (mit Ausnahme des Wegfalls des Erfordernisses der Durchführung einer mündlichen Verhandlung) entspricht, sodass die Judikatur des VwGH betreffend die Zurückverweisung wegen mangelhafter Sachverhaltsermittlungen heranzuziehen ist. Im Übrigen trifft § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG eine klare Regelung (im Sinne der Entscheidung des OGH vom 22.03.1992, 5Ob105/90), weshalb keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliegt.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Fluchtgründe,
Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W191.2203864.1.00

Zuletzt aktualisiert am

27.11.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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