TE Bvwg Erkenntnis 2018/10/1 W163 2017001-2

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Veröffentlicht am 01.10.2018
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Entscheidungsdatum

01.10.2018

Norm

B-VG Art.133 Abs4
FPG §57 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W163 2017001-2/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Daniel

LEITNER über die Beschwerde von Herrn XXXX, geboren am XXXX, StA.:

Indien, vertreten durch XXXX, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.08.2018, Zl. 1045484505-150906325, zu

Recht:

A)

Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1.1. Der Beschwerdeführer (nunmehr BF) reiste unrechtmäßig in das Bundesgebiet und stellte am 17.11.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 19.11.2014 erfolgte die Erstbefragung des BF. Am 03.12.2014 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen.

1.2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.12.2014 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem Beschwerdeführer wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig sei. Weiters wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

1.3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.03.2015, zugestellt durch Hinterlegung am 20.03.2015, GZ: W220 2017001-1/4E, als unbegründet abgewiesen.

1.4. Mit Bescheid vom 18.09.2015, Zl. 1045484505, wurde der BF zum Ersatz von Dolmentschkosten verpflichtet, da er einer Ladung für den 22.07.2015 unentschuldigt nicht nachkam.

1.5. Mit Ladungsbescheid vom 05.10.2015 wurde der BF zwecks Einvernahme hinsichtlich Aufenthalt und Ausreise vor das BFA geladen. Der BF erschien vor dem Bundesamt, eine Einvernahme unterblieb, da der Dolmetscher nicht erschienen war.

1.6. Mit Verfahrensanordnung vom 21.04.2016, dem bevollmächtigten Vertreter des BF am 26.04.2014 zugestellt, wurde der BF in Kenntnis gesetzt, dass eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig gegen ihn erlassen worden sei und dies bedeute, dass er unverzüglich das Bundesgebiet verlassen müsse und sich seit 21.03.2015 illegal im Bundesgebiet befinde. Seine entstandenen beruflichen, sozialen, familiären Bindungen könnten in einem weiteren Verfahren nicht zu seinen Gunsten beurteilt werden. Er könne daher Art 8 EMRK nicht mehr geltend machen und durch die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sei die Rückkehr hinsichtlich Artikel 2 und 3 EMRK beurteilt und für zulässig und zumutbar erklärt worden. Da er seiner Ausreiseverpflichtung nicht ordnungsgemäß nachkomme, könnten auch Veränderung in der Lage seines Heimatlandes nicht als Grund für den weiteren Verbleib im Bundesgebiet geltend gemacht werden. Er sei nicht im Besitz eines gültigen Identitätsdokumentes (Reisepass), weshalb die Identität nicht eindeutig geklärt sei. Mit den von ihm angeführten Daten konnte kein Heimreisezertifikat erlangt werde, weshalb davon auszugehen sei, dass seine Daten nicht korrekt oder unzureichend seien. Er hätte bis dato kein Identitätsdokument vorgelegt, wodurch er seiner Mitwirkungspflicht nicht ordnungsgemäß nachgekommen sei. Es sei als erweisen anzusehen, dass er seine Identität bewusst verschleiere, um einer Abschiebung zu entgehen. Es werde daher beurteilt, dass eine Abschiebung aus vom BF tatsächlich zu vertretenden Gründen nicht durchgeführt werden könne. Abschließend wurde der BF nochmals aufgefordert, seiner Ausreiseverpflichtung nachzukommen bzw. der Behörde ein gültiges Identitätsdokument vorzulegen.

1.7. Am 22.11.2016 wurden Dokumente (überbeglaubigte Geburtsurkunde des BF einschließlich einer Übersetzung) zur Erlangung eines Heimreisezertifikates BFA-intern weitergeleitet.

1.8. Mit Mandatsbescheid vom 20.02.2018, Zl. IFA 1045484505-150906325, wurde dem Beschwerdeführer gem. § 57 Abs. 1 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG aufgetragen, bis zu seiner Ausreise durchgängig Unterkunft in der Betreuungseinrichtung Betreuungsstelle Tirol, Trixlegg 12, 6391 Fieberbrunn, zu nehmen und dieser Verpflichtung binnen drei Tagen nachzukommen.

1.9. Gegen diesen am 26.02.2018 zugestellten Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seinen Vertreter am 28.02.2018 fristgerecht Vorstellung.

1.10. Seitens des im Mandatsbescheid bestimmten Quartiers wurde am 02.03.2018 mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer bislang nicht dort eingetroffen sei.

1.11. Dem Vertreter des Beschwerdeführers wurde mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 06.03.2018 ein Konvolut von Fragen zur Lebenssituation des Beschwerdeführers in Österreich unter Einräumung einer zweiwöchigen Frist zur Stellungnahme übermittelt.

1.12. Mit Fax vom 16.03.2018 erfolgte eine Stellungnahme des bevollmächtigten Vertreters des BF.

1.13. Mit dem nunmehr angefochtenen (Vorstellungs-)Bescheid vom 23.08.2018, zugestellt am 28.08.2018, Zahl IFA-1045484505/150906325, wurde dem Beschwerdeführer gem. § 57 Abs. 1 FPG aufgetragen, bis zu seiner Ausreise durchgängig Unterkunft in der Betreuungseinrichtung Betreuungsstelle Tirol, Trixlegg 12, 6391 Fieberbrunn, zu nehmen und dieser Verpflichtung binnen drei Tagen nachzukommen (Spruchpunkt I.). Die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen diesen Bescheid wurde gem. § 13 Abs. 2 VwGVG ausgeschlossen (Spruchpunkt II.).

1.14. Gegen diesen am 28.08.2018 zugestellten Bescheid wurde am 18.09.2018 fristgerecht Beschwerde erhoben.

1.15. Mit Mail vom 18.09.2018 wurde das Stadtpolizeikommando 19 vom BFA ersucht, den Reisepass des BF sicherzustellen, da durch eine anonyme Quelle eine Kopie des Reisepasses des BF übermittelt worden sei.

1.16. Am 10.09.2018 wurde durch das BMF, Finanzpolizei, ein Strafantrag nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz gegen den Arbeitgeber des BF erstattet.

1.17. Mit Schreiben vom 18.09.2018 wurde der BF vom BFA darüber informiert, dass eine Beweisaufnahme zwecks "Erlassung einer Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 1 Z 1 iVm einem Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 1 Z 7" stattgefunden hätte und ihm die Möglichkeit einer Stellungnahme binnen zwei Wochen ab Zustellung eingeräumt.

1.18. Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 21.09.2018 vom BFA vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1 Der BF ist nach eigenen Angaben Staatsangehöriger von Indien, gehört der Religionsgemeinschaft der Sikhs an und stammt aus dem Bundesstaat Punjab in Indien. Die Identität des BF steht nicht fest.

1.2. Der BF stellte am 17.11.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher vom BFA mit Bescheid vom 18.12.2014 abgewiesen wurde. Nach Abweisung der Beschwerde durch Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.03.2015 besteht gegen den BF eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung.

Der Beschwerdeführer kam seiner Ausreiseverpflichtung bislang nicht nach. Die 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise ist verstrichen.

1.3. Dem Bescheid des BFA vom 18.12.2014 war eine Information angeschlossen, mit der der BF über die Möglichkeit informiert wurde, auf freiwilliger Basis in seinen Herkunftsstaat unter Gewährung von Rückkehrhilfe zurückzukehren. In dieser Information wurden dem BF die Kontaktdaten jener Institutionen mitgeteilt, an die ihn bei freiwilliger Rückkehr beraten und unterstützen könnten und es wurde dem BF eine umgehende Kontaktaufnahme dringend empfohlen.

Der Beschwerdeführer nahm bislang kein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch.

1.4. Der Beschwerdeführer ist seit 10.12.2014 durchgehend in Wien aufrecht gemeldet. Eine Ortsanwesenheit kann angenommen werden.

2. Beweiswürdigung

Die Feststellungen stützen sich auf den Inhalt der Akten des Bundesamtes sowie die des Bundesverwaltungsgerichts.

2.1. Mangels Vorliegens eines unbedenklichen nationalen Identitätsdokumentes oder eines sonstigen unbedenklichen Bescheinigungsmittels steht die Identität des BF nicht fest. Die anonym übermittelten Kopien von 4 Seiten eines Reisepasses sind nicht geeignet die Identität zweifelsfrei festzustellen. Es jedoch festzuhalten, dass die in den Kopien angegebenen Identitätsdaten mit jenen Daten, die der BF im Verfahren angegeben hatte, übereinstimmen.

2.2. Die Feststellungen zum Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich, zum Ausgang des Verfahrens über seinen Antrag auf internationalen Schutz, zum Bestehen einer Rückkehrentscheidung, zum Verbleib in Österreich nach Ablauf der Frist für die freiwillige Ausreise ergeben sich unstrittig aus dem Akteninhalt.

2.3. Die Feststellung, dass dem BF dringend empfohlen wurde, sich zwecks Unterstützung und Beratung zur Möglichkeit der freiwilligen Rückkehr an die explizit genannten Institutionen zu wenden, stützt sich auf den Akteninhalt (AS 59-60). Es ist nicht aktenkundig, dass der Beschwerdeführer ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch genommen hätte. Dies wurde in der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid nicht bestritten.

2.4. Die Feststellung, dass der BF durchgehend in Wien aufrecht gemeldet war, stützt sich auf den ZMR-Auszug sowie die Angaben in der Beschwerde. Die Feststellungen zur Annahme der Ortswesenheit stützt sich auf den Bericht der Landespolizeidirektion Wien vom 02.04.2018 (AS 196).

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A)

3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides

3.1.1. Rechtliche Grundlagen:

§ 57 FPG lautet auszugsweise:

"Wohnsitzauflage

§ 57. (1) Einem Drittstaatsangehörigen, gegen den eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig erlassen wurde und dessen Aufenthalt im Bundesgebiet nicht geduldet (§ 46a) ist, kann aufgetragen werden, bis zur Ausreise in vom Bundesamt bestimmten Quartieren des Bundes Unterkunft zu nehmen, wenn

1. keine Frist zur freiwilligen Ausreise gemäß § 55 gewährt wurde oder

2. nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise gemäß § 55 bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Drittstaatsangehörige seiner Ausreiseverpflichtung weiterhin nicht nachkommen wird.

(2) Bei der Beurteilung, ob bestimmte Tatsachen gemäß Abs. 1 Z 2 vorliegen, ist insbesondere zu berücksichtigen, ob der Drittstaatsangehörige

1. entgegen einer Anordnung des Bundesamtes oder trotz eines nachweislichen Angebotes der Rückkehrberatungsstelle ein Rückkehrberatungsgespräch (§ 52a Abs. 2 BFA-VG) nicht in Anspruch genommen hat;

2. nach Ablauf der Frist für die freiwillige Ausreise seinen Wohnsitz oder den Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts gewechselt und das Bundesamt davon nicht in Kenntnis gesetzt hat;

3. an den zur Erlangung einer Bewilligung oder eines Reisedokumentes notwendigen Handlungen im Sinne der § 46 Abs. 2 und 2a nicht mitwirkt;

4. im Rahmen des Asylverfahrens, des Verfahrens zur Erlassung der Rückkehrentscheidung oder des Rückkehrberatungsgesprächs erklärt hat, seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen zu wollen;

5. im Asylverfahren oder im Verfahren zur Erlassung der Rückkehrentscheidung über seinen Herkunftsstaat oder seine Identität getäuscht oder zu täuschen versucht hat.

(3) [...]

(4) Die Verpflichtungen des Drittstaatsangehörigen aufgrund einer Wohnsitzauflage gemäß Abs. 1 oder Abs. 3 ruhen, wenn und solange

1. die Rückkehrentscheidung gemäß § 59 Abs. 6 oder die Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 12a Abs. 4 AsylG 2005 vorübergehend nicht durchführbar,

2. sein Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 46a geduldet oder

3. ihm die persönliche Freiheit entzogen ist.

(5) Wird eine Rückkehrentscheidung gemäß § 60 Abs. 3 gegenstandslos oder tritt eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 4 außer Kraft, tritt auch die Wohnsitzauflage außer Kraft.

(6) Die Wohnsitzauflage gemäß Abs. 1 oder Abs. 3 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) anzuordnen. In diesem sind dem Drittstaatsangehörigen auch die Folgen einer allfälligen Missachtung zur Kenntnis zu bringen."

§ 46 FPG lautet auszugsweise:

"[...]

(2) Ein zur Ausreise verpflichteter Fremder, der über kein Reisedokument verfügt und ohne ein solches seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen kann, hat - vorbehaltlich des Abs. 2a - bei der für ihn zuständigen ausländischen Behörde aus Eigenem ein Reisedokument einzuholen und gegenüber dieser Behörde sämtliche zu diesem Zweck erforderlichen Handlungen, insbesondere die Beantragung des Dokumentes, die wahrheitsgemäße Angabe seiner Identität (§ 36 Abs. 2 BFA-VG) und seiner Herkunft sowie die Abgabe allfälliger erkennungsdienstlicher Daten, zu setzen; es sei denn, dies wäre aus Gründen, die der Fremde nicht zu vertreten hat, nachweislich nicht möglich. Die Erfüllung dieser Verpflichtung hat der Fremde dem Bundesamt gegenüber nachzuweisen. Satz 1 und 2 gilt nicht, wenn der Aufenthalt des Fremden gemäß § 46a geduldet ist.

(2a) Das Bundesamt ist jederzeit ermächtigt, bei der für den Fremden zuständigen ausländischen Behörde die für die Abschiebung notwendigen Bewilligungen (insbesondere Heimreisezertifikat oder Ersatzreisedokument) einzuholen oder ein Reisedokument für die Rückführung von Drittstaatsangehörigen (§ 97 Abs. 1) auszustellen. Macht es davon Gebrauch, hat der Fremde an den Amtshandlungen des Bundesamtes, die der Erlangung der für die Abschiebung notwendigen Bewilligung oder der Ausstellung des Reisedokumentes gemäß § 97 Abs. 1 dienen, insbesondere an der Feststellung seiner Identität (§ 36 Abs. 2 BFA-VG) und seiner Herkunft, im erforderlichen Umfang mitzuwirken und vom Bundesamt zu diesem Zweck angekündigte Termine wahrzunehmen.

[...]"

3.1.2. Aus den Erläuterungen zum FRÄG 2017 betreffend § 57 FPG ergibt sich auszugsweise Folgendes:

"[...] Die Erlassung einer Wohnsitzauflage soll dabei nicht systematisch erfolgen, sondern hat jedenfalls abhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalls zu ergehen. Dabei sind insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie Art. 8 EMRK - insbesondere im Hinblick auf das Bestehen familiärer Strukturen, die Wahrung der Familieneinheit und die besonderen Bedürfnisse von Minderjährigen auch im Sinne der Jugendwohlfahrt - zu berücksichtigen. Die Wohnsitzauflage soll daher als ultima ratio nur dann angeordnet werden, wenn der Drittstaatsangehörige seiner Verpflichtung zur Ausreise bislang nicht nachgekommen ist und aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls anzunehmen ist, dass er auch weiterhin seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen wird.

[...]

Zu Abs. 1:

[...]

Die zweite Konstellation soll auch jene Fälle umfassen, in denen zwar eine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt wurde, der Drittstaatsangehörige aber nicht innerhalb der Frist ausgereist ist und anzunehmen ist, dass er seiner Ausreiseverpflichtung auch weiterhin nicht nachkommen wird.

[...]

Zu Abs. 2:

In Abs. 2 werden jene Tatsachen näher definiert und demonstrativ aufgezählt, welche im Sinne des Abs. 1 Z 2 die Annahme rechtfertigen, dass der Drittstaatsangehörige seiner Ausreiseverpflichtung weiterhin nicht nachkommen wird.

Ein Hinweis auf die mangelnde Bereitschaft zur Ausreise ist naturgemäß dann gegeben, wenn der Drittstaatsangehörige selbst angibt, dass er nicht bereit ist, seiner Ausreiseverpflichtung nachzukommen. Es kann des Weiteren davon ausgegangen werden, dass er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen wird, wenn er ein ihm angebotenes oder angeordnetes Rückkehrberatungsgespräch zum Zweck der freiwilligen Ausreise nicht wahrnimmt. Ebenso wird davon auszugehen sein, dass der Drittstaatsangehörige nicht bereit ist auszureisen, wenn er während einer gewährten Frist zur freiwilligen Ausreise nicht ausgereist ist und anschließend seinen Wohnsitz bzw. den Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts ändert, ohne das Bundesamt hiervon in Kenntnis zu setzen. Ferner kann von mangelhafter Bereitschaft zur Ausreise ausgegangen werden, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige es unterlässt, an der Beschaffung von für die Ausreise erforderlichen Dokumenten mitzuwirken oder ein vorhandenes Reisedokument vernichtet oder sich dessen auf sonstige Weise entledigt. Hat der Drittstaatsangehörige bereits im Verfahren über seine Identität getäuscht oder zu täuschen versucht und damit die Beschaffung von für die Ausreise erforderlichen Dokumenten erschwert bzw. verhindert, wird ebenfalls von einer mangelnden Bereitschaft zur Ausreise auszugehen sein.

Da es sich bei Abs. 2 um eine demonstrative Aufzählung handelt, kommen auch weitere Umstände in Betracht, welche die Annahme rechtfertigen, dass der Drittstaatsangehörige seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen wird. Weitere denkbare Gründe in diesem Sinne sind etwa falsche oder widersprüchliche Angaben zum Vorliegen einer Voll- oder Minderjährigkeit bzw. voneinander abweichende Altersangaben in Verfahren vor verschiedenen Behörden (dazu VwGH 25.02.2015, Ra 2014/20/0045) sowie die Verschweigung von vorhandenen Identitätsdokumenten. Hievon sollen beispielsweise jene Fälle erfasst sein, in denen Drittstaatsangehörige im Verfahren vor dem Bundesamt angeben, über keine Identitätsdokumente zu verfügen, während sie im Verfahren vor anderen Behörden (bspw. dem Standesamt im Zuge einer Eheschließung) oder Gerichten solche vorlegen.

[...]

Zu Abs. 6:

Die Auferlegung der Wohnsitzauflage gemäß § 57 erfolgt mittels Mandatsbescheid gemäß §57 AVG. Ein solcher kann erlassen werden, wenn es sich um die Vorschreibung einer Geldleistung oder wegen Gefahr in Verzug um unaufschiebbare Maßnahmen handelt. Für den vorgeschlagenen § 57 ist der Tatbestand "Gefahr in Verzug" maßgeblich: In der Fallkonstellation nach Abs. 1 Z 1 ist der Ausschluss einer Frist zur freiwilligen Ausreise an die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Rückkehrentscheidung (§ 18 Abs. 2 BFA-VG) geknüpft. Somit wurde bereits im Falle einer Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde und der Nichtgewährung einer Frist gemäß § 55 festgestellt, dass eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vorliegt. Dadurch ist die Erlassung der Wohnsitzauflage in dieser Konstellation mittels Mandatsbescheid aufgrund der bereits zuvor anlässlich des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung festgestellten Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zulässig. Hinsichtlich der zweiten Fallkonstellation nach Abs. 1 Z 2 liegt eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vor, wenn anzunehmen ist, dass der Drittstaatsangehörige weiterhin nicht ausreisen wird (zumal er dies bereits während der Frist für die freiwillige Ausreise nicht getan hat). Das bloße unrechtmäßige Verbleiben im Bundesgebiet sowie ein länger andauernder unrechtmäßiger Aufenthalt, ohne dass bereits eine entsprechende Entscheidung vorliegt, die eine Ausreiseverpflichtung auferlegt oder feststellt, und unabhängig davon, ob die Einreise bereits unrechtmäßig oder rechtmäßig erfolgte, stellt nach ständiger Rechtsprechung des VwGH eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dar (VwGH 02.06.2000, 2000/19/0081; 23.03.2001, 2000/19/0042; 02.06.2000, 2000/19/0081; 23.03.2001, 2000/19/0042). Dies muss umso mehr gelten, wenn bereits eine im Wege eines rechtsstaatlichen Verfahrens getroffene Entscheidung vorliegt, die eine Ausreiseverpflichtung feststellt oder auferlegt, und der Drittstaatsangehörige dieser Verpflichtung auch nach Ablauf einer ihm eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nicht nachkommt bzw. die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ihr weiterhin nicht nachkommen wird. Weiters ergibt sich aus dieser Rechtsprechung, dass das beharrliche unrechtmäßige Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger andauernder unrechtmäßiger Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellt und der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung durch geordnete Abwicklung des Fremdenwesens ein hoher Stellenwert zukommt (VwGH 31.10.2002, 2002/18/0190; 15.12.2015, Ra 2015/19/0247). Daher ist in diesen Fällen von einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit auszugehen, wodurch die Erlassung der Wohnsitzauflage mittels Mandatsbescheides gerechtfertigt ist."

3.1.3. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies:

Die belangte Behörde weist im angefochtenen Bescheid wiederholt darauf hin, dass gegen den BF eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung besteht, er die Frist zur freiwilligen Ausreise ungenützt ließ und sich seit 20.03.2015 unrechtmäßig im Bundesgebiet befindet. Dass dieses Verhalten alleine ausreicht, eine Wohnsitzauflage zu erlassen ergibt sich weder aus dem Gesetzestext noch aus den oben dargestellten Erläuterungen zum FRÄG 2017 betreffend § 57 FPG. Zur Erlassung einer Wohnsitzauflage als ultima ratio bedarf es konkreter Umstände des Einzelfalles, die zur Annahme führen, dass der Drittstaatsangehörige weiterhin seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen wird.

Eine Begründung für Erlassung einer Wohnsitzauflage und eine Darstellung der konkreten Umstände ist dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen. Die belangte Behörde beschränkt sich darauf, unter dem Punkt "Feststellungen", Unterpunkt "Voraussetzungen für die Erlassung der Wohnsitzauflage", die Feststellungen zum unrechtmäßigen Aufenthalt und der unterbliebenen Ausreise des BF zu wiederholen und anschließend, den Gesetzestext der Ziffern 1. bis 5. des § 57 Abs. 2 FPG anzuführen.

Die belangte Behörde legt im angefochtenen Bescheid nicht dar, zu welchem Ermittlungsergebnis sie gelangt sei, worauf sich dieses stütze und welche bestimmten Tatsachen im Sinne des § 57 FPG die Annahme rechtfertigen, der BF werde seiner Ausreiseverpflichtung weiterhin nicht nachkommen. Die Ziffern 1. und 2. des Gesetzestextes fett zu setzen und von den übrigen zitierten Ziffern damit optisch abzugrenzen, kann eine Begründung nicht ersetzen.

Unter der Annahme, dass die belangte Behörde die fett gesetzten Tatbestandsmerkmale des § 57 Abs. 2 FPG als erfüllt sieht, ist zu Ziffer 1 leg. cit. festzuhalten, dass die belangte Behörde nicht einmal ansatzweise darlegt, wann der BF eine Anordnung des Bundesamtes oder ein nachweisliches Angebot der Rückkehrberatungsstelle erhalten hätte. Dies ergibt sich auch nicht aus dem Akt, zumal sich dort lediglich eine Information über die Möglichkeiten der Rückkehr einschließlich der Empfehlung an den BF, Kontakt aufzunehmen (AS 59-60), befindet, die der BF mit dem Bescheid des Bundesamtes vom 18.12.2014 erhalten hat.

Auch zur fett gesetzten Ziffer 2. des § 57 Abs. 2 FPG legt die belangte Behörde nicht einmal ansatzweise dar, wann der BF den Ort seines gewöhnlichen Aufenthaltes gewechselt und das Bundesamt davon nicht in Kenntnis gesetzt hätte. Zudem ergibt sich aus dem Akt und auch aus dem auch dem Bundesamt zugänglichen Zentralen Melderegister, dass der BF seit 2014 durchgehend in Wien aufrecht gemeldet ist und eine Überprüfung durch Polizeiorgane zum Ergebnis geführt hätte, dass grundsätzlich von einer Ortsanwesenheit des BF auszugehen sei (AS 196).

Der angefochtene Bescheid war daher mangels Vorliegen der Voraussetzungen für die Erlassung ersatzlos zu beheben.

Die ersatzlose Behebung des angefochtenen Bescheides ist eine Entscheidung in der Sache selbst (vgl. E 25. März 2015, Ro 2015/12/0003). Als verfahrensrechtliche Grundlage für eine solche Entscheidung ist im Spruch daher § 28 Abs. 1 und Abs. 2 (bzw. Abs. 3 Satz 1) VwGVG 2014 zu nennen. § 28 Abs. 5 VwGVG 2014 regelt hingegen nur die Rechtsfolgen von Bescheidaufhebungen durch das VwG und bietet keine eigenständige Rechtsgrundlage für die Aufhebung selbst, sei es nach § 28 Abs. 3 Satz 2 und 3 (oder Abs. 4) VwGVG 2014, sei es nach § 28 Abs. 1 und 2 oder Abs. 3 Satz 1 VwGVG 2014 (VwGH 04.08.2016 2016/21/0162).

Entfall der mündlichen Verhandlung

Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Im gegenständlichen Verfahren konnte eine mündliche Verhandlung unterbleiben, da das Bundesverwaltungsgericht die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 Z 1 Halbsatz VwGVG als gegeben erachtet, zumal bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.

Zu Spruchteil B):

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen sind aufgrund der klaren Rechtslage nicht hervorgekommen.

Schlagworte

ersatzlose Behebung, freiwillige Ausreise, Fristablauf, illegaler
Aufenthalt, Meldepflicht, Rechtswidrigkeit, Rückkehrberatung,
Wohnsitz, Wohnsitzauflage

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W163.2017001.2.00

Zuletzt aktualisiert am

26.11.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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